Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Februar entschieden, dass die italienische Praxis, Bootsflüchtlinge schon vor ihrer Ankunft nach Tripolis abzuschieben, gegen die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. 24 somalische und eritreische Flüchtlinge haben vor dem EGMR geklagt. Sie saßen in einem Boot mit weiteren 203 Flüchtlingen, die im Jahre 2009 Libyen Richtung Italien verließen. 35 Seemeilen vor Lampedusa wurden sie jedoch von der italienischen Grenzpolizei entdeckt und, ohne sie über das Ziel der zehnstündigen Reise zu informieren, zurück nach Libyen verschifft. Diese Aktion war die erste Anwendung eines Rücknahmeabkommens, das die Berlusconi-Regierung Anfang 2009 mit Gaddafi geschlossen hatte. Bis zur Suspendierung des Abkommens 2011 waren solche Abschiebungen gängige Praxis. Der EGMR entschied nun, dass diese Vorgehensweise gegen die EMRK verstieß. Die EMRK gelte auch außerhalb des stattlichen Territoriums: Es sei ein völkerrechtliches Prinzip, dass auf dem Schiff das Recht der jeweiligen Flagge gelte. Die Richter_innen sahen gleich mehrere Garantien der EMRK als verletzt an. Flüchtlinge seien in Libyen dem Risiko der unmenschlichen Behandlungen und Folter ausgesetzt. Auch eine weitere Abschiebung in die Ursprungsländer würde ein solches Risiko mit sich tragen. Damit lag bereits ein doppelter Verstoß gegen Art. 3 EMRK vor. Der Einwand Italiens, in Libyen gebe es Gesetze, die die fundamentalen Menschenrechte gewährten, wurde mit dem Argument zurückgewiesen, dass dies noch nicht ausreiche, um den tatsächlichen Schutz von Menschenrechten zu garantieren. Auch die Bindung Italiens an das bilaterale Abkommen ändere nichts daran. Italien hätte außerdem bei der Abschiebung der Bootsflüchtlinge wissen müssen, dass in Libyen kein ausreichender Schutz vor der willkürlichen Abschiebung der Menschen in ihre Heimatländer gegeben sei. Das Verbot der Kollektivausweisung aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK sah das Gericht trotz des territorialen Bezuges der Norm als verletzt an. Sonst würde ein für die Migration essentieller Raum rechtsfrei sein. Ein Unterschied zu Flüchtlingen, die auf dem Landwege einreisten, sei nicht festzustellen. Schließlich liege auch ein Verstoß gegen Art. 13 EMRK vor, da den Flüchtlingen durch die sofortige Ausweisung jeglicher Rechtsschutz versagt worden war. Dieses sehr erfreuliche Urteil könnte aber eine dramatische Konsequenz mit sich bringen: die Vorverlagerung der „Migrationsabwehr“ in die Herkunfts- und Transitstaaten. Denn dort findet die EMRK keine Anwendung.
Sophie Rotino, Berlin