Wir sind Papst

Rezension zum Sammelband „Anonyme Herrschaft – Zur Struktur moderner Machtverhältnisse“

Kapitalistische Gesellschaften produzieren so einige Widersprüche, etwa dass täglich 20000 Menschen verhungern, während gleichzeitig Nahrungsmittel zerstört werden. Solcher Irrsinn hätte vermutlich jeder Planwirtschaft den Ruf des Totalversagens eingebracht, im Kapitalismus indes verschärft er sich Jahr für Jahr. Die Frage mag erlaubt sein: Wer oder was hält solche Zustände eigentlich aufrecht?An Antworten versuchen sich die Autoren des Sammelbandes „Anonyme Herrschaft – Zur Struktur moderner Machtverhältnisse“. Angesichts des Buchtitels überrascht der Tenor kaum, der da lautet: Herrschaft in modernen kapitalistischen Gesellschaften ist nicht vornehmlich persönliche (also in unmittelbarer persönlicher Abhängigkeit begründete), sondern vermittelte anonyme Herrschaft (also die Herrschaft sozialer Formen, die sich verselbstständigen). Die Kernidee wird von den Herausgebern etwas verschwurbelt gleich in der Einleitung angeführt: „Weil das gesellschaftliche Verhältnis [der produzierenden Menschen] im Kapitalismus durch das gesellschaftliche Verhältnis der Arbeitsprodukte auf dem Markt vermittelt ist, entsteht ein System sich gegenüber den Individuen verselbstständigenden Formen ihres sozialen Zusammenhangs“ (7). In solchen verselbstständigten Formen sozialen Zusammenhangs liegt nach Ansicht der Autoren ein „Typus von anonymer Herrschaft (..), deren Kennzeichen nicht in der Unterordnung des Willens einer Person unter den einer anderen besteht“ (8), sondern in der Unterordnung aller unter ein verselbstständigtes gesellschaftliches Prinzip.
Ohne Vorkenntnisse sind diese einleitenden Worte schwer zu verstehen, der Gedankengang wird aber im Sammelband weiter präzisiert und verständlicher. Besonders lesenswert lotet Michael Heinrich in einem klar formulierten Text das Verhältnis von Subjekt und Struktur, also individuellem Handlungsspielraum und anonymen Zwang der Ökonomie aus. Ausgehend von der „ziemlich banalen“, Feststellung, dass „es die Menschen sind, die handeln, dass aber das, was sie zustande bringen können, von den Umständen abhängt“ (16) stellt er Fetischismus, unpersönliche Herrschaft und Personifikation sozialer Verhältnisse dar und gelangt zur Erkenntnis, dass „freie Individualität“ doch erst im berühmten „Verein freier Menschen“, also einer kommunistischen Gesellschaft, möglich sei.
Dem sachlichen Verhältnis der Personen in der Ökonomie, so die Herausgeber, „entspricht auf der politischen Ebene der Gedanke einer Herrschaft des abstrakt-allgemeinen Gesetzes“ (8). Wie sich diese Herrschaft historisch entwickelte, stellt Tobias Reichhard beispielhaft für die griechische Polis dar. Hiernach verfolgt Hendrik Wallat die Idee einer berechenbaren Herrschaft des Gesetzes, die erst in der kapitalistischen Neuzeit wirklich zur Geltung kam. Dabei sei diese rechtliche Vermittlung keineswegs mit der Abschaffung von Herrschaft oder der Überwindung von Gewalt zu verwechseln, sondern eine besondere historische Erscheinungsform abstrakter Herrschaft, die im Bedrohungsfall indes zu offener Gewalt zurückkehre (147). Eine emanzipatorische Aufhebung des Rechts, die „nicht hinter den basalen Fortschritt der rechtlichen Vermittlung von Herrschaft zurückfällt“, ist nach Wallat nicht in Sicht (169).

Wer ist schuld, wenn niemand schuld ist?
Der Herrschaft des Rechts geht auch Ingo Elbe in einem Beitrag über die reine Rechtslehre Hans Kelsens nach, „dem letzten konsequenten Ansatz (…), der anonyme Herrschaft aus einem rein rechtlichen sozialen Zusammenhang heraus erklären will“ (12). Kelsen distanzierte sich von naturrechtlichen Rechtsvorstellungen, wandte sich aber auch gegen bloßen Rechtspositivismus. Um dieses Spannungsfeld aufzulösen, konzipierte er den Souverän der „(Grund-)Norm“. Dem widerspricht Elbe: „Souverän ist, wer über die Grundnorm entscheidet – und das tut die Grundnorm nicht selbst. Die Herrschaft der Norm, wie Kelsen sie konzipiert, ist nichts anderes als personale Herrschaft in einer sachlich verschleierten Gestalt“, also eine letztlich äußere „Aufpropfung normlogischer Kategorien auf reales Machtgeschehen“ (244).
Anhand dieser beispielhaft vorgestellten Beiträge wird deutlich: Der Sammelband ist teilweise schwere Kost, aber auch und gerade für Jurist_innen, deren Denken meist qua Ausbildung an Kategorien persönlicher Schuld und Verantwortung orientiert ist, sehr lesenswert. Schließlich gilt, wie Marx formulierte:„Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen“.[1] Für einen Umgang mit Gesellschaft, der sich einzig und allein an konkreten Personen und deren Handeln festmacht, hatte er dementsprechend nur Spott übrig: „Ebensowohl könnte man den Papst abschaffen und den Katholizismus bestehen lassen.“[2] Dem kann man sich getrost anschließen. Wobei in der politischen Auseinandersetzung dann eben manchmal doch zumindest  auch der Papst angegangen werden muss, alle Abstraktion in Ehren.

Moritz Assall ist Jurist und Kriminalsoziologe.

[1] Karl Marx, Marx Engels Werke (MEW), Band 42, 189.
[2] Karl Marx, MEW, Band 23, 102, Fn. 48.