Manche Beobachter gewärtigten bereits das Nahen einer neuen, einer
partnerschaftlichen Epoche im wechselvollen Verhältnis zwischen dem
Westen und Russland, als die NATO auf ihrem Lissabonner Gipfel im
November vergangenen Jahres eine neue Strategie verabschiedete. In dem
betreffenden Dokument ist unter anderem vermerkt: „We will actively seek
cooperation on missile defence with Russia [...] we want to see a true
strategic partnership between NATO and Russia, and we will act
accordingly". Zugleich hatte der russische Präsident Dmitri Medwedjew -
Gast in Lissabon - erstmals die Bereitschaft Russlands zur Kooperation
in Sachen Raketenabwehr erklärt. Damit schienen die Weichen gestellt,
einen strategischen Zankapfel mit potenziell weitreichenden Folgen durch
den Wechsel von konfrontativem Gegeneinander zu kooperativem
Miteinander zu entschärfen.
Die Bush-Administration war im Juni 2002 einseitig vom
(sowjetisch-)russisch-amerikanischen ABM-Vertrag zur gegenseitigen
Begrenzung der Raketenabwehrsysteme aus dem Jahre 1972 zurückgetreten,
um das Tor für neue Generationen derartiger Systeme zu öffnen. Offiziell
begründete Washington dies damit, dass man sich gegen die Entwicklung
ballistischer Fernwaffen und Atomsprengköpfe durch „Schurkenstaaten" wie
Nordkorea und Iran wappnen müsse. Moskau gegenüber ist seither immer
wieder versichert worden, dass sich jegliche Raketenabwehrprojekte nicht
gegen Russland richteten, ja eine Abwehr gegen dessen breit gefächertes
strategisches Nuklearpotential technologisch und finanziell gar nicht
möglich sei.
Derartige Erklärungen enthalten allerdings nur die halbe Wahrheit und
gehen auf die russischen Befürchtungen in Sachen Raketenabwehr nicht
ein. Die russische Sicht besagt nämlich, dass selbst ein beschränktes
Raketenabwehrpotenzial nach einem vorangegangenen massiven nuklearen
Erstschlag gegen die strategischen Streitkräfte Russlands die dann noch
vorhandenen Vergeltungssysteme neutralisieren und somit das grundlegende
Axiom der atomaren Abschreckung - „Wer zuerst schießt stirbt als
zweiter." - aushebeln könnte. Mit anderen Worten: Moskau sieht in einer
weiterentwickelten Raketenabwehr einen potenziellen Schlüssel zum Sieg
im Nuklearkrieg. Das mag man angesichts der verheerenden globalen
Folgen, die bei einem derart massiven Einsatz von Kernwaffen zu erwarten
wären, für aberwitzig halten, aber entsprechende Denkspiele waren schon
vor 30 Jahren Teil der strategischen Debatte in den USA - verbunden mit
entsprechenden Entwicklungen der Rüstungstechnologie. Das lief damals
unter dem Stichwort „atomare Enthauptung".
Und auch heute findet Russland Unterfutter für seine Sicht der Dinge in den konkreten Aktivitäten und Planungen der USA:
- Als im März 2011 mit der USS Monterey das erste mit Abfangraketen vom
Typ SM-3 IA bestückte Kriegsschiff ins Mittelmeer abordnet wurde tauchte
der Kreuzer wenig später im Schwarzen Meer auf. Zusammen mit einem
entsprechenden Frühwarnradar, zu dessen Stationierung sich die Türkei
nach anfänglichem Zögern kürzlich bereit erklärt hat (auch aus Georgien
gab es diesbezüglich Signale), wird das eine Kombination, die außer nach
Süden in Richtung Iran auch ohne Weiteres nach Norden wirksam werden
könnte. (30. September waren bereits 23 Kriegschiffe entsprechend
armiert; bis 2016 soll Ihre Zahl auf 41 steigen.)
- Im Hinblick auf eine potentielle Raketenbedrohung Europas aus dem Iran
mag eine Stationierung von Abwehrflugkörpern in Rumänien - ein
entsprechendes amerikanisch-rumänisches Abkommen wurde am 13. September
2011 unterzeichnet - ja noch plausibel sein, im Hinblick auf Polen, wo
eine neue Generation von Abfangraketen vom Typ SM-3 IIB ab 2018
stationiert werden soll, gilt das aber nicht. Und die SM-3 IIB wird im
Unterschied zu den Vorgängermodellen von ihren Leistungsparametern her
in der Lage sein, auch landgestützte strategische Raketen (ICBM), die
das Rückgrat der russischen Nuklearstreitkräfte bilden, in einer
bestimmten Flugphase abzufangen.
- Im amerikanischen Senat gibt es eine starke Fraktion, die jegliche
Kooperation mit Russland im Bereich Raketenabwehr blockieren will. So
richtete erst im April eine Gruppe von 39 republikanischen Senatoren die
Forderung an Barack Obama, eine schriftliche Versicherung abzugeben,
keinerlei Informationen, die mittels Frühwarnsystemen gewonnen wurden,
an Russland weiterzugeben. Unter Experten gilt ein entsprechender
Informationsaustausch einerseits als unter dem Strich wenig
substantiell, aber andererseits gerade deshalb als Nagelprobe für den
Willen zur Kooperation. Darüber hinaus gibt es im US-Kongress auch
Kräfte wie den republikanischen Senator Jim DeMint, die am liebsten
Raketenabwehrkapazitäten gegen das gesamte strategische Potenzial
Russlands aufbauen würden.
Hinzu kommt, dass Russland mit seinen derzeitigen technologischen und
wirtschaftlichen Möglichkeiten auf absehbare Zeit außerstande ist, im
Hinblick auf neue Raketenabwehrtechnologien mit den USA mitzuhalten. Das
ist angesichts des Standes und des Entwicklungspotenzials der
russischen strategischen Nuklearstreitkräfte zwar auch gar nicht
erforderlich, um eine Zweitschlagskapazität und damit die Abschreckung
nuklearer Angriffe im Rahmen der bisherigen Mutual Assured Destruction
(MAD) zu gewährleisten. Dieses Unvermögen ist für die Moskauer Führung
nichtsdestotrotz ein psychologisches Problem, weil es in deren Sicht ein
augenfälliges Indiz für die eigene strategische Zweitrangigkeit
gegenüber den USA darstellt.
Russland seinerseits hat eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, mit
denen sowohl die erklärte Bereitschaft zur Kooperation im Bereich der
Raketenabwehr zu substantiieren wie auch die russischen Befürchtungen
hinsichtlich der künftigen Kapazitäten der USA zu beseitigen wären. Dazu
zählt an vorderster Stelle die Idee, ein gemeinsames
Raketenabwehrsystem der USA (und der NATO) sowie Russlands aufzubauen,
in dem beide Seiten die Kontrolle über jede Entscheidung zum Start von
Abwehrraketen hätten. Das ist vom Westen allerdings ebenso abgelehnt
worden wie die gleichfalls lancierte russische Forderung nach einer
rechtsverbindlichen Garantie, dass die USA und die NATO ihre
Abfangsysteme in keinem Fall auf Russlands strategische Raketen
ausrichten würden. Darüber hinaus hat Moskau angeregt, die absolute Zahl
künftiger Abwehrraketen, ihre technischen Parameter (vor allem ihre
Geschwindigkeit) und ihre Dislozierung vertraglich so zu beschränken,
dass sie - mit den Worten des für internationale militärische
Zusammenarbeit zuständigen stellvertretenden russischen
Verteidigungsministers Anatoly Antonov - „nicht alle (russischen - W.S.) ICBMs abfangen können".*
Insgesamt lässt das bisherige Verhalten der USA und der NATO nur den
Schluss zu, dass die in Lissabon mit großem Bombast erklärte
Bereitschaft zur Zusammenarbeit tatsächlich nur ein Nebelschleier über
dem Unwillen und der Unfähigkeit zu wirklich gleichberechtigter
Kooperation war. Dass dies von russischer Seite als Spiel mit gezinkten
Karten empfunden wird, sollte niemanden verwundern.
Die ganze Entwicklung ist umso bedenklicher, als sich Russland für den
Fall eines weiterhin einseitigen westlichen Marsches in Richtung
Raketenabwehr zu den möglichen Konsequenzen klar geäußert hat oder diese
angesichts erklärter russischer Interessen und diverser Statements auf
der Hand liegen. So hat Präsident Medwedjew selbst wiederholt darauf
verwiesen, dass das New-START-Abkommen zur weiteren Reduzierung der
strategischen Offensivwaffen (siehe Blättchen, 12 / 2011)
ausgesetzt oder sogar gekündigt werden könnte und ein Rückfall in den
Kalten Krieg drohe. Weiteren atomaren Abrüstungsvereinbarungen zwischen
den USA und Russland würde der Boden entzogen. Das beträfe auch die
taktischen Kernwaffen, bei denen Moskau ein numerisches Übergewicht von
etlichen Tausend Systemen gegenüber der NATO hat (siehe Blättchen,
15 und 16 / 2011). Und Moskau würde nicht zuletzt, wie der russische
NATO-Botschafter Dmitri Rogosin erst im Frühsommer expressis verbis
öffentlich deutlich gemacht hat, mit dem Ausbau seiner strategischen
Offensivwaffen gegenhalten. Dafür kämen vor allem mobile landgestützte
Systeme und solche mit Mehrfachsprengköpfen in Frage.
All diese Möglichkeiten, da gebe man sich keiner Illusion hin, liegen im
Bereich dessen, was Moskau entscheiden und auch realisieren könnte. Zu
ergänzen wäre dabei, dass im Falle einer entsprechenden Entwicklung auch
das fragile internationale Regime zur Nichtweiterverbreitung von
Kernwaffen (siehe Blättchen, 11 / 2010) wahrscheinlich den endgültigen Todesstoß erhielte.
Stellt sich die Frage nach der Alternative. Die kann, soll sie die hier
skizzierten möglichen negativen Entwicklungen verhindern, nur darin
bestehen, strategische Partnerschaft mit Russland nicht nur verbal
anzubieten, sondern real auf den Weg zu bringen, und das hieße im
konkreten Falle: entweder gemeinsame Raketenabwehr oder - was nach
Auffassung des Autors die vernünftigere Option wäre - gemeinsamer
Verzicht auf neue Generationen von Abwehrsystemen und Wiederbelebung
sowie Weiterentwicklung des früheren ABM-Regimes.
Sollten die USA und die NATO bei ihrer bisherigen Weichenstellung
bleiben, wären unter anderem folgende komplementäre Schritte möglich und
zum Teil unumgänglich:
- Als vertrauensbildende Maßnahme und zur Vorbereitung künftiger
Vereinbarungen und kooperativer Aktivitäten sollten die USA, die NATO
und Russland ein ständiges gemeinsames Gremium einrichten, das sich mit
der Analyse potenzieller Bedrohungen durch ballistische Mittel- und
Langstreckenwaffen sowie mit allen Fragen der Weiterentwicklung, der
Herstellung, der Stationierung und der Einsatzgrundsätze gegenwärtiger
und künftiger Raketenabwehrsysteme befasst und nach für beide Seiten
akzeptablen gemeinsamen Lösungen sucht. Angesiedelt werden könnte ein
solches Komitee zum Beispiel beim NATO-Russland-Rat.
- Hilfreich wäre ein gemeinsames Zentrum, in dem die Daten von
Frühwarnsystemen der USA, der NATO und Russlands (stationären und
mobilen Radaranlagen, Satelliten) zusammengeführt werden, so dass beide
Seiten permanent und zeitgleich ein reales Bild von potenziellen
Gefahren erhalten. (Die Idee ist bereits etliche Jahre alt, und erst im
März hat sich US-Verteidigungsminister Robert Gates erneut in diesem
Sinne geäußert.)
- Unumgänglich ist der Austausch von Informationen und
Schlüsseltechnologien im Hinblick auf weiterentwickelte und neue
Raketenabwehrsysteme. (Wer das angesichts des technologischen
Rückstandes Russlands als Einbahnstraße ablehnt, der hat immer noch
nicht begriffen, wie Sicherheit zwischen Nuklearmächten unter Einschluss
von Raketenabwehr funktioniert: Im Falle einer Konfliktsituation, die
eskaliert - 60 Jahre Kalter Krieg haben dafür genügend Beispiele
geliefert - könnte sich die unterlegene Seite im Hinblick auf ihre
Nuklearstreitkräfte vor die Alternative „use them or loose them"
gestellt sehen und zuerst zuschlagen.)
- Letztendlich müssten regionale Raketenabwehrsysteme gemeinsam
errichtet und betrieben werden, wo immer es bis zu deren Einsatzreife
nicht gelingt, eine potenzielle Raketenbedrohung durch eine politische
Lösung zu verhindern oder aus der Welt zu schaffen.
Allerdings - nichts von diesen Ideen und Möglichkeiten scheint derzeit
realisierbar. Im Gegenteil - die negativen Tendenzen haben deutlich an
Boden gewonnen, nachdem dieses Jahr ohne substanzielle
Kooperationsansätze vorüber gegangen ist und angesichts der in Russland
und den USA anstehenden Präsidentschaftswahlen nun bis mindestens Ende
2012 mit keinem Fortschritt zu rechnen ist. Ich kann daher meine
Einschätzung vom Anfang des Jahres (Blättchen Nr. 2 / 2011)
leider nur wiederholen: „Das Projekt einer [...] Raketenabwehr birgt eher
das Potenzial in sich, die Gegnerschaft zwischen NATO und Russland neu
und nachhaltig zu beleben, als sie endgültig zu überwinden."
P.S.: Parteigängern einer neuen Runde im Rüsten mit Raketenabwehrsystemen, soweit sie von sich annehmen, sicherheitspolitisch zu denken und zu agieren, und nicht einfach nur an einem Bombengeschäft oder am Krieg(sverhinderungs)spielen interessiert sind, noch eines ins Stammbuch: Wo in Feindschaft gegeneinander gerüstet wird, herrscht bestenfalls Nichtkrieg, aber kein nachhaltiger Frieden. Das war im Kalten Krieg so. Das gilt auch heute. Und die Folgen eines Versagens derart fehlgeleiteter Sicherheitspolitik wären immer noch so, dass man es darauf nicht ankommen lassen darf.
* - Zu weiteren Details russischer Vorstellungen im Hinblick auf eine mögliche Raketenabwehrkooperation siehe: A. Diakov / E. Miasnikov / T. Kadyshev, Nuclear Reductions After New START, http://www.armscontrol.org/act/2011_05/Miasnikov