Der Westen & Russland – zum Diskurs

Russland versucht […],
die Sicherheitsarchitektur in Europa
Schritt für Schritt abzuwickeln.

Sigmar Gabriel,
Vorsitzender der Atlantik-Brücke e. V.

Moskau betrachtet
die derzeitige Sicherheitsarchitektur
in Europa als unzureichend
und die Sicherheitslage als nicht tragfähig.

Andrey A. Baklitskiy
Bulletin of the Atomic Scientists

Die Atlantik-Brücke ist hierzulande, wenn es um Gefolgschaft nach Art der Nibelungen und konkret gegenüber der westlichen Führungsmacht geht, der Traditionsverein der Treuesten der Treuen. Wahrscheinlich war es daher im Zuge der derzeitigen allgemeinen antirussischen Hysterie – von Washington besonders grobschlächtig geschürt – auch nur eine Frage der Zeit, bis der Chef des Vereins, Sigmar Gabriel (von eigenen Parteigenossen weggemobbter Ex-SPD-Vorsitzender und -Bundesaußenminister), sich nicht einfach nur zu Wort meldet, sondern noch einen draufsetzt. Während nämlich sein Vorgänger im Amt des Brücke-Chefs, der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, gerade eindringlich davor gewarnt hat, die Idee weiter zu verfolgen, Russland in einer nächsten Sanktionsrunde aus dem internationalen Banken-Zahlungssystem Swift auszuschließen (Merz: ein „Atombombe für die Kapitalmärkte“), zieht Gabriel blank und droht, dass „Europa […] seine Energiebeziehung zu Russland drastisch […] reduzieren, wenn nicht sogar auf Null […] fahren“ könnte. Gabriel: „Es wird immer behauptet, das ginge nicht. Das geht natürlich, aber es kostet sehr viel Geld.“ Und zwar vor allem ganz sicher das Geld der Verbraucher, von denen nicht wenigen ob explodierender Energiepreise schon jetzt finanziell die Puste ausgeht. Eine Sorge, die auf einem Einkommenslevel wie dem Gabriels womöglich nicht ganz so drängend ist.

Der dürfte anderseits mit seiner Idee bei seinen Washingtoner Partnern nun noch wohlgelittener sein als bereits bisher. Jedenfalls könnte man so den Zeitplan der jüngsten Kurzvisite von US-Außenminister Antony Blinken in Berlin am 20.01.2022 interpretieren: 30 Minuten mit Scholz, 120 mit Baerbock, eine Rede bei Gabriel.

Dass die Energiebeziehungen der Bundesrepublik zur damaligen UdSSR den USA im Übrigen von Anfang an ein Dorn im Auge waren und sie diese Verbindung über die Jahrzehnte immer wieder zu torpedieren suchten, war auch in diesem Magazin bereits nachzulesen (siehe etwa Ausgabe 16/2018). Als es in dieser Hinsicht vor Jahrzehnten die Carter-Administration besonders arg trieb, setzte ein anderer Sozialdemokrat und damals Bundeskanzler, Helmut Schmidt, die Freunde in Washington kurz und bündig in Kenntnis: „Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander.“

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Mitte Dezember 2022 war NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach Kiew geeilt, um dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu versichern, dass das Versprechen des Bukarester NATO-Gipfels von 2008, die Ukraine werde eines Tages in den Pakt aufgenommen, nach wie vor gelte.

Das war für den US-Politologen Robert Legvolt Anfang Januar 2022 Aufhänger für einen Beitrag mit dem Titel „Jenseits der Ukraine: Wie lässt sich die Vision eines Europas ‚ganz und in Frieden‘ wiederbeleben?“, den er im Magazin The National Interest publizierte.

Legvolt erinnert an die nach dem Zusammenbruch der UdSSR nie ernsthaft in Angriff genommene „euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft, die sich von ‚Vancouver bis Wladiwostok‘“ erstrecken sollte. Stattdessen nahmen die USA und ihre westeuropäischen Verbündeten Kurs auf NATO-Osterweiterung, was Legvolt als sicherheitspolitische „Erbsünde“ bezeichnet. Abgelehnt wurde das Vorhaben in den USA in den 1990er Jahren unter anderem, worauf Legvolt verweist, von zwei für die US-Politik gegenüber der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg prägende Persönlichkeiten – von George F. Kennan, den „Erfinder“ der Containment-Doktrin aus den späten 1940er Jahren, und von Paul Nitze, einen der im ersten Kalten Krieg militantesten und einflussreichsten antisowjetischen Falken in Washington. Beide, Kennan und Nitze, seien sich, so Legvolt, in kaum einem Punkt je einig gewesen – außer in diesem „Den Vereinigten Staaten und ihren NATO-Partnern würde das Russland nicht gefallen, das der Vormarsch der NATO hervorbringen würde.“

Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie Zukunft betreffen, lautet ein Bonmot, das wahlweise Mark Twain oder Winston Churchill zugeschrieben wird. Im vorliegenden Falle hätte die Voraussage allerdings treffgenauer kaum ausfallen können, wie bereits bei Putins Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und angesichts der massiven russischen Reaktion auf das georgische Kriegsspiel 2008 mehr als nur zu erahnen war. Der von NATO-Staaten, insbesondere von den USA, massiv unterstützte prowestliche Staatstreich in der Ukraine im Jahre 2014 schließlich gab – vor dem Hintergrund der 2008 erfolgten Beitrittszusage der NATO gegenüber Kiew (und Tblissi) – praktisch den letzten Anstoß, dass sich jenes Russland, das Washington und seinen NATO-Partnern „nicht gefallen [würde]“, endgültig aus dem Kokon schälte.

Im Hinblick auf die derzeitige Zuspitzung der Krise um die Ukraine ist sich Legvolt sicher: „Die gegenwärtigen Spannungen dadurch zu entschärfen, dass man einfach nur über die Gründe für die Krise spricht, ohne wirksame gegenseitige Zugeständnisse zu machen (Hervorhebung – W.S.), wird kaum zu einer Lösung führen und garantiert die Aussicht auf neuen Ärger in der Zukunft.“ Zwar werde die NATO „niemals und schon gar nicht in einer rechtsverbindlichen Form darauf verzichten, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen“. Aber: „Man könnte sich […] vorstellen, dass sie ein zehn- oder fünfzehnjähriges Moratorium für die Prüfung dieser Frage anböte.“ Darüber hinaus „könnten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten deutlich machen, dass sie nicht die Absicht haben, die Ukraine in einen Brückenkopf […] zu verwandeln, indem sie zusichern, dass ihre Ausbildungseinrichtungen in der Ukraine nicht in Einsatzbasen umgewandelt werden“. Und direkt an die Adresse des Westens empfiehlt Legvolt: „Die Hilfe für die Ukraine sollte nicht nur an die Förderung innerer Reformen und die Stärkung der Verteidigung geknüpft sein, sondern auch an die Bereitschaft, konstruktive Schritte Russlands zu erwidern.“

Letzteres ist umso bemerkenswerter, als in westlichen Befassungen mit der Ukraine-Krise die Rollenverteilung in der Regel in Stein gemeißelt ist: Das Opfer ist Kiew, der Aggressor ist Russland. Wobei der tätliche Anteil Kiews etwa an der Blockierung jeden substantiellen Lösungsfortschritts im Hinblick auf den Konflikt in der Ostukraine (Stichwort: Minsk II) geflissentlich unter den Tisch fällt.

Im Übrigen kann man natürlich – wie Legvolt – der Meinung sein, dass eine „euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft von ‚Vancouver bis Wladiwostok‘ ein verblasstes Hirngespinst [ist]“, doch der Autor dieses Beitrages hier vertritt eine anders gelagerte Auffassung. Eine wie sie auch der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, jüngst erneut formuliert hat: „Wir brauchen […] eine langfristige Perspektive für eine die Blöcke überwölbende Sicherheitsarchitektur.“

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Bereits in der ersten Hälfe der 1990er Jahre und angesichts einer absehbar werdenden Tendenz zur Osterweiterung der NATO hatte Christoph Bertram* konzeptionelle Überlegungen dazu vorgelegt, wie eine Neustrukturierung der Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einbindung der USA und Russlands aussehen könnte, respektive umzusetzen wäre. Seine Studie „Europa in der Schwebe – Wie der Friede gesichert werden kann, der im Kalten Krieg gewonnen wurde“ erschien 1995 beim Carnegie Endowment for International Peace in den USA.

Bertram konstatierte schon damals ein westliches Manko an „Gedanken über die künftige Rolle Russlands in Europa und die Art der Beziehungen des Westens zu diesem Land“ sowie insbesondere ein konzeptionelles Defizit des Westens im Hinblick auf eine Einbindung Russlands in gesamteuropäische Stabilitätsstrukturen. Stattdessen habe „sich die Debatte auf die kleineren und weitaus weniger problematischen Staaten Osteuropas konzentriert, als ob die europäische Stabilität unter Umgehung des größten Staates des Kontinents erreicht werden könnte“. Und: „Als Moskau, wie vorhersehbar, Einwände gegen die Aufnahme einiger osteuropäischer Staaten in das Bündnis erhob, schien die einzige Reaktion der westlichen Staats- und Regierungschefs darin zu bestehen, sich um die Überwindung des russischen Widerstands zu bemühen, anstatt sich mit der zentralen Frage nach dem Platz Russlands im neuen Europa zu befassen.“

Zugleich seien, so Bertram, „sichtbarster operativer Ausdruck“ der NATO nach wie vor „Soldaten, Waffen und Militärstäbe“: „Das Militär ist die Währung, in der die NATO handelt […].“ Daher müsse, so warnte Bertram, jede „NATO-Erweiterung, die näher an die Grenzen Russlands heranrückt, den russischen Nationalisten als Bedrohung erscheinen; den gemäßigten Russen muss sie als Versuch erscheinen, Russland von einer gleichberechtigten Beteiligung an europäischen Angelegenheiten auszuschließen“, und dies umso mehr, als „ein Großteil dessen, was in den Jahren des Kalten Krieges das Sicherheitsglacis, die vorgeschobene Verteidigungszone der Sowjetunion, war, zum Sicherheitsglacis des Westens wird“.

Bertrams Fazit: „Es ist daher entweder gedankenlos oder unehrlich zu erklären, wie es der Westen tut, dass die NATO-Erweiterung unvermeidlich sei und Russland sich keine Sorgen machen müsse.“

Russland seinerseits war nach dem Zerfall der Sowjetunion in eine tiefe innenpolitische, wirtschaftlichen und soziale Krise geraten, deren Höhepunkt Mitte der 1990er Jahre noch längst nicht erreicht war. Das Land war auch international schwach, doch Bertram argumentierte vehement dagegen, daraus auf eine dauerhafte Irrelevanz Moskaus für die Stabilität Europas und dessen zukünftiges Sicherheitsgefüge zu schließen. Im Gegenteil: „Mit dem schwachen Russland ein Beziehungsgeflecht zu etablieren, das mit einem starken Russland Bestand haben wird – das ist schließlich die Lehre aus der erfolgreichen Integration Deutschlands und Japans in die Gemeinschaft des Westens gewesen.“

Vor diesem Hintergrund entwickelte Bertram die visionäre Idee, für die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland „eine vollwertige Institution“ zu schaffen, die er „NATO-Russland-Forum“ taufte. Um tragfähige, belastbare wechselseitige Beziehungen zu ermöglichen, würde dieses Forum, so Bertram, „viele der institutionellen Merkmale benötigen, die die NATO für sich selbst entwickelt hat“. Konkret skizzierte Bertram unter anderem folgende Aspekte:

  • Als „Haupt-Koordinatoren“ sollten der „NATO-Generalsekretär und ein entsprechender russischer Partner“ fungieren. Sie sollten „einem Ministerrat, bestehend aus den russischen Außen- und Verteidigungsministern und […] westlichen Pendants, die innerhalb der NATO nach dem Rotationsprinzip ausgewählt werden, sowie einem Ausschuss Ständiger Vertreter verantwortlich“ sein.
  • „Ein Militärausschuss aus Vertretern des russischen Verteidigungsministeriums und des NATO-Militärausschusses“ sollte „als ständiges Gremium für den Informationsaustausch über militärische Planung und militärische Operationen sowie für die Vorbereitung gemeinsamer Operationen, einschließlich friedenserhaltender Maßnahmen“, wirksam werden.
  • „Eine Nukleare Planungsgruppe“ sollte „sich mit Fragen der Entnuklearisierung und der nuklearen Weiterverbreitung“ befassen.
  • „Eine Arbeitsgruppe für Rüstungskontrolle“ sollte eine „Rüstungskontrollagenda, einschließlich der heiklen Frage der Waffenexporte“ abarbeiten.
  • „Eine parlamentarische Kontaktgruppe“ sollte „regelmäßig eine Delegation der Nordatlantikversammlung und der russischen Duma“ zusammenbringen.

Leider sind Bertrams ebenso grundlegende wie weitreichende Überlegungen damals nicht einmal in Russland gebührend zur Kenntnis genommen worden. Moskau hat sich stattdessen schließlich mit einer Absichtserklärung in Form der NATO-Russland-Grundakte und einem Konsultationsforum in Gestalt des NATO-Russland-Rates (beides 1997) sedieren und abspeisen lassen. Insbesondere letzteres Gremium hat sich in nachfolgenden Krisen jeweils als komplett zahnloser Tiger erwiesen, weil der Westen diese Zusammenarbeit als Strafmaßnahme gegenüber Russland immer wieder einfach suspendierte.

Warum solche „ollen Kamellen“ hier ausgebreitet werden? Weil, wer nicht zu borniert oder anderweitig erkenntnisabstinent ist, auch aus solchen vertanen Möglichkeiten gegebenenfalls Honig für künftiges Herangehen saugen kann – und sei es nur zum Zwecke der Vermeidung der Wiederholung der immer gleichen Fehler.

* – Christoph Bertram, von 1974 bis 1982 Direktor des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London und von 1982 bis 1998 Chef des Ressorts Politik, dann Diplomatischer Korrespondent beim Journal DIE ZEIT, bevor er 1998 (bis 2005) an die Spitze der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) wechselte, die gemeinhin als außen- und sicherheitspolitischer Think Tank von Bundesregierung und Bundestag firmiert. – Später war Bertram sicherheitspolitischer Gesprächspartner auch dieses Magazins; siehe die Ausgaben 8/2013 und 11/2015.