Das schwedische Sexualstrafrecht unterscheidet sich kaum von anderen
Eigentlich erregte der Wikileaks-GründerJulian Assange jabeträchtliches mediales Interesse, weil er ein paar ziemlich geheime politischeInterna ausgeplaudert hat. Seit er jedoch in Schweden, ausgerechnet jenem Landalso, das immer noch als Paradies des sozial verträglichen Liberalismus gilt,der Vergewaltigung angeklagt wurde, scheint sich alles nur noch um ein unnötigstrenges Gesetz in einem autoritären Staat zu drehen. Vergewaltigungwerde hiergenauso instrumentalisiert wie die Freiheit der Frau bei derAfghanistan-Invasion, zitiert Michael Moore Naomi Klein in seinem offenen Briefan Schweden. Und fordert die Regierung auf, sich doch lieber um die freiherumlaufenden Vergewaltiger im eigenen Land zu kümmern.1
Zu den Fakten im Fall Assange: Ihm werden sexuelle Nötigungin mehreren Fällen sowie minder schwere Vergewaltigung in einem Fallvorgeworfen. Er soll mit zwei Frauen gegen deren Willen ohne Kondom geschlafenhaben, ebenfalls ohne Kondom soll er mit einer Frau Sex begonnen haben, währenddiese noch schlief.2 Im schwedischen Strafgesetzbuch wird Vergewaltigungfolgendermaßen definiert: „Wer einen Menschen durch Misshandlung oder sonstwiemit Gewalt oder durch Androhung von Verbrechen zum Geschlechtsverkehr oder dazuzwingt, eine andere sexuelle [körperliche] Handlung vorzunehmen oder an sich zudulden, die im Hinblick auf die Art der Erniedrigung und die Umstände mitGeschlechtsverkehr zu vergleichen ist (...).“3
Spätes Nein? Besonderen Aufruhr verursachte eine Nachbesserung des schwedischen Sexualstrafrechtes,an der im Jahr 2005 u.a. die inzwischen emeritierte Strafrechtsprofessorin derUniversität Stockholm, Madeleine Leijonhufvud, beteiligt war. Wer mit einerPerson Geschlechtsverkehr oder eine dementsprechende Handlung vollzieht, obwohlsich die Person „durch Bewusstlosigkeit, Schlaf, Trunkenheit oder andereDrogeneinflüsse, Krankheit,
Verletzung oder seelische Störung oder durch etwas anderesim Hinblick auf die Umstände in einem hilflosen Zustand befindet“, kann nunebenfalls wegen Vergewaltigung belangt werden.4 Insbesondere auf diesen Absatzstützt sich der Glaube, in Schweden könnten es sich die Frauen auch nach demSex noch anders überlegen, sollten sie sich etwa plötzlich unwohl damit fühlen.Von einem „Recht auf ein spätes Nein“ ist die Rede.
Ähnliche Rechtslage. Sieht man sich die Gesetzeslage genauer an, wird deutlich: So sehrunterscheidet sich das schwedische gar nicht vom österreichischen oderdeutschen Gesetz. Der Begriff der sexuellen Nötigung – im Schwedischen „olagatvång“ – könnte zu Deutsch mit „widerrechtlichem Zwang“ übersetzt werden. Einesolche Nötigung könnte die Fortsetzung zunächst einvernehmlichenGeschlechtsverkehrs etwa nach dem Reißen des Kondoms darstellen.5 Im deutschenStrafgesetzbuch gilt als sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, wenn „eineandere Person 1. mit Gewalt, 2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leiboder Leben oder 3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkungdes Täters schutzlos ausgeliefert ist“ zu sexuellen Handlungen genötigt wird.Was genau eine solche schutzlose Lage darstellt, ist wiederum Auslegungssacheund wohl eher Frageder Rechtspraxis als der Rechtslage an sich. Als besondersschwerer Fall gilt es u.a., wenn „der Täter mit dem Opfer den Beischlafvollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sichvon ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung)“.6 Auch hier ist der entgegenstehende Wille des Opfers das entscheidende Kriterium.
In Österreich gilt als Vergewaltigung, wenn „eine Person mit Gewalt, durch Entziehung der persönlichen Freiheit oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ zum Beischlaf oder Vergleichbarem genötigt wird.7 Unter „Geschlechtliche Nötigung“ findet sich hier folgendeDefinition: „Wer (…) eine Person mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zurVornahme oder Duldung einer geschlechtlichen Handlung nötigt (...).“8
Viele Anzeigen, wenige Verurteilungen. Schwedens Gesetzeslage ist also kaum strenger als die in Deutschland oder Österreich.Tatsache ist jedoch auch, dass in Schweden eklatant mehr Vergewaltigungenangezeigt werden als hierzulande. 2009 waren es etwa 5.446 Anzeigen, die größteSteigerung war seit der Gesetzesänderung im Jahr 2005 feststellbar.9 Auf100.000 EinwohnerInnen kommen im Schnitt 46,5 Anzeigen, in Österreich werdenstatistisch gesehen 8,5 Vergewaltigungen gemeldet.10 Manche erklären die Diskrepanz mit der lockeren schwedischen Sexualmoral, manche mit zu Unrechterhobenen Vorwürfen, die wiederum erst die Gesetzeslage möglich mache. Wedernoch, sagt Jonas Trolle, Kriminalinspektor in Stockholm, und erklärt die vermehrten Anzeigen mit einer besonderen „Sensibilität für die Rechte der Frau“und einem anderen „Selbstbewusstsein“ der schwedischen Frauen.
Was auch immer zu den zahlreichen Anzeigen führt, die wenigsten enden mit einer Verurteilung. In weniger als 20 Prozent der Fällekommt es überhaupt zu einer Anklage, nur etwas mehr als zehn Prozent führen letztlich zu einem Schuldspruch, stellt Ulrika Andersson, Rechtsprofessorin ander Universität von Lund, fest. Das Problem dabei sei die Beweislast. Die Gerichte verlangen unterstützende Beweise, die Zeugenschaft des Opfers alleine reicht nicht aus. Schließlich steht in den meisten Fällen Aussage gegenAussage. Keine Rede also von Frauen, die es sich mal eben anders überlegthaben.
Verschärfung oder Aufklärung? Madeleine Leijonhufvud, die bereits an der Gesetzesnovelle von 2005 beteiligt war, bezeichnet das schwedische Sexualstrafrecht als „lasch“ –zumindest im Vergleich zu der Gesetzeslage in angelsächsischen Ländern. Hier nämlich ist fehlende Zustimmung („consent“) seit Jahrzehnten Bestandteil des Straftatbestandes „Sexuelle Nötigung“. Auch in Schweden wird nun über eine entspre- chende Verschärfung des Gesetzes nachgedacht, Leijonhufvud plädiert dafür. Doch auch hier würde sich die Frage nach den Beweisen stellen: In der Regel wird wieder Aussage gegen Aussage stehen. Ohne ein Geständnis des Täters wird kaum ein Beweis für fehlende Zustimmung zu finden sein. Ulrika Andersson ist ohnehin nicht der Meinung, dass die Beschaffenheit des Gesetzes ausschlaggebend ist. Der Umgang mit Sexualstraftaten und entsprechende Aufklärung, so ist sie überzeugt, sind hier wesentlich wichtiger. Einen wichtigen Schritt in Richtung Bewusstseinsbildung ist man in Schweden bereits gegangen. In der Debatte um den Assange-Fall berichtete die Journalistin Johanna Koljonen in der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ über eigene verstörende sexuelle Erfahrungen: Ein älterer Mann hatte die 32-Jährige zu ungeschütztem Verkehr gedrängt. Indem sie diese Erfahrung öffentlich machte, brach Johanna Koljonen einen Damm. Immer mehr Frauen und auch Männer erzählten online von ungewollten Sexualkontakten, die nach geltendem Recht jedoch noch keinen Straftatbestand erfüllen. Mittlerweile entstand daraus die Website „Prataomdet.se“ (Redet darüber). Sie hat regen Zulauf.11
Fußnoten
1 www.michaelmoore.com/words/mike-friends-blog/dear-government-of-sweden
2 Safer Sex in Schweden, ZEIT Online, 2.1.2011
3 Brottsbalken/Schwe disches Strafgesetzbuch Kapitel 6, §1 (Übersetzung: www.belleslettres.eu/arti kel/assange-vergewaltigung-schweden.php)
4 Brottsbalken 6, §1, Abs. 2
5 Was gilt in Schweden als Nötigung? FAZ.NET,
6 StGB ¤177,1, 177,2
7 StGB ¤ 201,1
8 StGB ¤ 202,1
9 Das Recht auf ein spŠtes Nein, sueddeutsche.de, 9.12.2010
10 http://diestandard.1242317004592/Studie-Vergewaltigung-bleibt-Oesterreich-meist-straffrei
11 Prataomdet.se
„Die zweite Vergewaltigung“
Wie es tatsächlich um den Umgang der schwedischenGesellschaft mit Vergewaltigung bestellt ist, zeigt so drastisch wieschockierend der Fernsehfilm „Den andra våldtäkten / The second Rape“, der 2010zum ersten Mal im schwedischen Fernsehen gezeigt wurde. Der Film der Autoren HasseJohansson und Nicke Nordmark erzählt von zwei 14- und 17-jährigenVergewaltigungsopfern in der nordschwedischen Kleinstadt Bjasta. Die Geschichtebeginnt mit Gerüchten in der Schule und endet in einem Internet-Mob, der sich gegen die Mädchen stellt. Trotz existierender DNA-Beweise und einem Geständnis des Täters wird den Mädchen die Schuld an den Vergewaltigungen gegeben. Der Film erregte in der schwedischen Öffentlichkeit, bis hinauf zum Premierminister, großes Aufsehen und führte zu zahlreichen Artikeln und Nachforschungen über den Fall. Er wurde beim Prix Europe 2010 ausgezeichnet,die Begründung lautete: „Der Film erzählt, wie Klatsch und Gerüchte als Tatsachen betrachtet werden und die Opfer in der Folge zu Verfolgten werden. Es wird auch gezeigt, wie das Internet dazu beiträgt, bei der Hetzkampagne Öl ins Feuer zu gießen, und wie die Kirche und die Schule der beiden Mädchen deren Albtraum nur noch weiter verschlimmern.“ Auch einen angesehenen schwedischen Journalismuspreis erhielten die Macher 2010. Als Aufdecker des Jahres wurden sie dafür ausgezeichnet, „zu enthüllen, wie ein Opfer verfolgt wird, (…) zuzeigen, wie es Erwachsene versäumen, zu reagieren“.