„Nicht die Roma sind hier das Problem, sondern unsere Gesellschaft"

Ein Interview mit Volker Maria Hügel (Pro Asyl)

In den Kriegen des ehemaligen Jugoslawiens wurden Roma systematisch verfolgt und umgebracht.

Von denen, die fliehen konnten, kamen etwa 30.000 auch nach Deutschland, die vor allem aus dem Kosovo stammen. Die meisten leben seit über 10 Jahren hier und haben Angst davor, in den Kosovo zurück zu müssen.

Nachdem der Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit erklärte, fiel das letzte Abschiebehindernis für die Roma. Die deutsche Regierung stimmte der Anerkennung des neuen Staates nur unter der Bedingung zu, dass der Kosovo bereit sei, seine Bürgerinnen und Bürger - darunter auch alle Minderheiten - wieder zurückzunehmen. So unter Druck gesetzt, stimmte der Kosovo zu und schloss mit der Bundesregierung ein Rückübernahmeabkommen. Seit Mitte 2009 schiebt der deutsche Staat massiv Roma in den Kosovo ab.

In NRW wurde die Abschiebewelle nur durch den so genannten „Wintererlass" vom 1. Dezember 2010 für vier Monate unterbrochen. Dieser besagte, dass während der harten Wintermonate die Abschiebungen zu stoppen seien, um unzumutbare Härten zu vermeiden.

Am 31. März 2011 lief die Frist ab. Bereits am 5. April fand eine erste Sammelabschiebung von Düsseldorf nach Belgrad in Serbien statt, an Bord fast ausschließlich Roma aus NRW. Am 12. April ging der nächste Flieger nach Pristina im Kosovo, auch dort fast ausschließlich Roma aus NRW. Zum „Internationalen Tag der Roma" am 8. April interviewte die Roma-Aktivistin Dr. Ulrike Löw hierzu den renommierten Asylrechtsexperten Volker Maria Hügel von der GGUA Flüchtlingshilfe e.V.1 , Vorstandsmitglied bei Pro Asy (l,2) und im Flüchtlingsrat NRW.

Graswurzelrevolution (GWR): Die Proteste halten seit 2009 nicht nur unvermindert an, sondern erreichen eine im­mer breitere Öffentlichkeit. Weshalb protestieren Men­schenrechtsorganisationen und Bürgerinnen und Bürger so massiv gegen diese Abschiebungen?

Volker Maria Hügel: Der Hauptgrund ist, dass Menschen, die im Kosovo einer Minderheit angehören, nicht in Würde überleben können. Ich kenne keine Schilderung, die die Situation im Kosovo als eini­germaßen erträglich darstellen würde. Wir haben herzzerreißende Film- und Tondokumen­te, wir haben unabhängige Berichterstatter, freie Journalisten, wir haben Delegationen aus Landtags- und Bundestagsabgeordneten, die alle Fürchterliches berichten. Der damalige EU-Menschen­rechtskommissar Thomas Ham­marberg hat sich 2009 in einem Offenen Brief direkt an Angela Merkel gewandt und gesagt, diese Abschiebungen dürfen nicht stattfinden, weil es ein Le­ben auf der Müllkippe bedeutet. Das heißt, die Situation ist extrem schlecht, z.B. was die Ar­beitssuche betrifft - die Ar­beitslosenquote liegt bei na­hezu 100%. Medizinische Versorgung ist fast nicht vorhanden bzw. nicht finanzierbar.

GWR: Woran liegt das genau?

Volker Maria Hügel: Das liegt unter anderem daran, dass der Kosovo ein Staatengebilde ist, das von der EU geduldet und finanziert wird. Er hängt so zu sagen am Tropf. Das heißt, alles, was dort an Unterstützung vorhanden ist, entsteht im Wesentlichen durch Hilfe von außen. Und wenn Hilfen kommen, landen sie bei den Albanern, das muss man ganz deutlich sagen. Das ist die ethnische Mehrheit dort. Die Minderheiten - Serben, Roma, Ashkali, Ägypter - müssen unter wirklich erbärmlichsten Umständen leben und in ih­ren jeweiligen „Enklaven" bleiben, weil sie sonst auch vor Übergriffen nicht sicher sind. Deshalb sagen wir auch: Diese Abschiebungen dürfen nicht durchgeführt werden. Jede einzelne Abschiebung bedeutet ei­ne Menschenrechtsverletzung an diesen Personen.

GWR: Das heißt, die Situation für die Minderheiten ist jetzt schlimmer als vor dem Kosovo-Krieg?

Volker Maria Hügel: Das ist richtig. Viele Roma sind, bevor sie das ehemalige Jugoslawien verlassen mussten, gut in die Gesellschaft integriert gewesen. Das heißt, sie hatten gute Jobs, sie hatten Perspektiven, sie hatten eigene Häuser. Es wurden sicherlich nicht alle Minderheitenrechte gewahrt, aber die Situation der Minderheiten war deutlich besser als in der Nach-Tito-Zeit und vor allem, nachdem sich die Einzelstaaten gebildet hatten.

GWR: Während des Kosovokrieges wurden ganze Roma-Viertel niedergebrannt, das heißt, die Roma, die es nicht aus dem Ko­sovo geschafft haben, leben dort seit über zehn Jahren in primitiven Wellblechhütten, im schlimmsten Fall nur mit einer Pappe über dem Kopf. Wieso hat sich bis heute kaum etwas daran geändert?

Volker Maria Hügel: Die internationale Staatengemeinschaft drängt nicht, dass die Hilfen, die der Kosovo erhält, zu gleichen Teilen an die Minderheiten und die Mehrheiten gehen. Das Regime, das im Kosovo regiert, ist ja näher an der organisierten Kriminalität als an einem demokratischen System.

GWR: Ist das nachweislich so oder ei­ne Vermutung von dir?

Volker Maria Hügel: Ich habe diese Vermutung gar nicht angestellt. Die Vermutung stammt von Amnesty International, und Amnesty geht nur dann an die Öffentlichkeit, wenn sie zwei unabhängige Quellen benennen können, die diese Dinge belegen. Aber bei aufmerksamer Beobachtung weiß man auch so, dass das nicht nur ein korruptes System ist, sondern organisierte Kriminalität.

GWR: Dann weiß das die Bundesregierung doch auch, oder?

Volker Maria Hügel: Natürlich wissen sie das. Aber darum geht es ihnen nicht. Den Flüchtlingen, die hier ein Asylverfahren durchlaufen haben, ist ja sogar gerichtlich bestätigt worden, dass ihnen im Kosovo keine Menschenrechtsverlet­zungen drohen. Es gibt da eine Schere im Kopf der meisten, wenn es um Flüchtlinge geht, die schon sehr lange in Deutschland leben. Das ist die „Nützlichkeitssche­re", die trennt zwischen Menschen, die wir gebrauchen können, und denen, die wir nicht gebrauchen können. Und ich sorge mich um die, die eben nicht so funktionieren, dass sie nützlich für uns sind, die aber trotzdem hier eine Lebenspers­pektive benötigen. Ich sage es ganz deutlich: Nicht die Roma sind hier das Problem, sondern unsere Gesellschaft. Ich bin felsenfest davon überzeugt, wenn Deutschland sich der Verantwortung diesem Volk gegenüber wirklich bewusst wäre, dann dürften diese Abschiebungen nicht stattfinden, und angesichts der Situation im Kosovo schon mal gar nicht.

GWR: Die deutsche Bundesregierung argumentiert ja so, dass die Roma schon vor Jahren freiwillig in den Kosovo - sprich: ins Elend und in die Diskriminierung - hätten zurückkehren können. Dann müsste man sie jetzt nicht abschieben.

Volker Maria Hügel: Richtig. Da muss man sich wirklich fragen: Was hat da nicht funktioniert? Bei der Einreise war klar: Diese Menschen sind Flüchtlinge. Sie sind geflohen. Das ist im Verfahren dann aber nicht festgestellt worden. Ich kenne keinen Roma, der Asyl bekommen hat, der durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt worden ist. Nur aus rein technischen Gründen konnte man sie nicht sofort wieder abschieben, weil die UNMIK über viele Jahre gesagt hat, wir können die Sicherheit der Minderheiten vor Ort im Kosovo nicht gewährleisten.

GWR: Und natürlich ist in dieser gefährlichen Situation niemand freiwillig in den Kosovo zurückgekehrt.

Volker Maria Hügel: Natürlich nicht. Das böseste Argument, das man in diesem Zusammenhang immer wieder hört, kommt aus dem Innenministerium Nordrhein-Westfalen, da heißt es dann: „Wir können Unrechtsverhalten nicht durch das Erteilen einer Aufenthaltserlaubnis belohnen." Mit „Unrechtsverhalten" ist die Weigerung, freiwillig auszureisen, gemeint. Das ist Rechts­staatlichkeit versus Menschlichkeit.

GWR: Die deutsche Abschiebepraxis von Roma in den Kosovo ist sehr rigide. Selbst schwerkranke Menschen werden abgeschoben, obwohl sie im Ko­sovo keine adäquate medizinische Versorgung erhalten können. Aufsehen erregte der Fall einer Roma-Familie aus dem Kreis Koblenz, die im Dezember 2010 abgeschoben wurde. Es war bekannt, dass die Ehefrau aufgrund einer bestehenden Krankheit dringend ärztliche Behandlung benötigte. Einen Monat später starb sie im Kosovo. Inzwischen haben der Ehemann und der 14jährige Sohn doch noch ein humanitäres Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten. Warum erst jetzt?

Volker Maria Hügel: Zum einen hat die Zivilgesell­schaft mit viel Empörung auf den Fall reagiert, was ich sehr gut finde. Wenn der öffentliche Druck stark genug ist, dann finden sich Mittel und Wege, die vorher nicht bereit standen, so einfach ist das. Und das „Glück" war - man muss es lei­der so zynisch formulieren - dass die Frau gestorben ist. Der Rest der Familie hätte sonst nie­mals zurück kommen können.

GWR: Du kennst sicher noch mehr Fälle, in denen schwer kranke Menschen in den Kosovo abgeschoben wurden.

Volker Maria Hügel: Dieser Fall ist leider relativ typisch. Zwei Faktoren sind dabei entscheidend: Zum einen ist Krankheit kein Abschiebungshindernis. Wie ein anderer Staat versorgungstechnisch mit seinen Bürgern umgeht, ist von Deutschland nicht zu verantworten. Frei nach dem Motto: Wir haben die Verantwortung nur so lange, bis die Person im Kosovo aus dem Flugzeug geklettert ist.

GWR: Und solange sie das noch ei­nigermaßen auf ihren eigenen zwei Beinen kann, ist Deutschland aus der Verantwortung heraus.

Volker Maria Hügel: Richtig. Solange nicht jemand nachweislich sehenden Auges in den sicheren Tod geschickt wird, ist Krankheit kein Abschiebungshindernis. Der zweite wichtige Faktor ist: Wie wird das kontrolliert? Es gibt eine Untersuchung der Uni Konstanz, wie hoch der Anteil der traumatisierten Flüchtlinge ist, die nach Deutschland kommen. Die Quote war relativ hoch und lag bei etwa 40%. Und danach wurde überprüft, wie viele dieser Traumatisierungen im Asylverfahren erkannt werden. Von 100% der Traumatisierten wurden lediglich 5% als solche erkannt.

GWR: Diese Traumatisierungen werden bei drohender Abschiebung häufig reaktiviert, äußern sich in Erkrankungen wie Panikattacken, Depressionen - bis hin zu Suizidgefahr - oder gefährlichen Herz-Kreislauferkrankungen.

Volker Maria Hügel: Und dann sagt man diesen Menschen: „Wieso das denn? Das ist ja alles nur vorgetäuscht, um nicht abgeschoben zu werden."

GWR: Wie weist man denn nach, dass man traumatisiert ist?

Volker Maria Hügel: Das ist ein Riesenproblem. Wir haben hier eine Versorgungslücke in ganz Deutschland, was die psychische Situation von Flüchtlingen betrifft. Wir haben in NRW gerade mal fünf psychosoziale Zentren mit heimatsprachlichen Therapeutinnen und Therapeuten, und die sind völlig überlaufen. Ich muss ganz deutlich sagen: Das ist eine der schlimmsten Si­tuationen, die wir hier erleben, wie hilflos Flüchtlinge sind, wenn sie psychische Probleme haben. Im ganzen Münsterland gibt es überhaupt niemanden, zu dem man mal jemanden hinschicken könnte. Natürlich gibt es deutsche Therapeuten, aber Therapien mit einem Dolmetscher funktionierten einfach nicht.

GWR: NRW hat sich im vergangenen Winter zumindest zu einer Minimallösung für Ro­ma bereit erklärt, die von der Abschiebung in den Kosovo bedroht sind. Am 1. Dezember erging ein Erlass des Innenministeriums, nach dem in den Wintermonaten bis zum 31. März keine Abschiebungen von Roma nach Serbien und in den Kosovo durchgeführt werden durfen. Du hast dich als Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrat NRW für diesen Abschiebestopp eingesetzt. Gleichzeitig siehst du die Umsetzung kritisch. Was genau hast du zu bemängeln?

Volker Maria Hügel: Zunächst stellte sich mir die Frage: Warum nur vier und nicht sechs Monate? Das wäre nämlich die Landeskompetenz gewesen. Dann hätten die Kommunen und die Betroffenen etwas mehr Ruhe gehabt. Ein weiterer Grund sind die Ausschlussgründe gewesen, zum Beispiel Straftaten.

GWR: Das heißt, Straftäter durften auch im Winter abgeschoben werden.

Volker Maria Hügel: Richtig. Und außerdem durften im Fall von Straftätern auch Fa­milien getrennt werden, das sei in diesem Fall mit dem Grundgesetz vereinbar, weil diese Trennung ja schließlich nur für kurze Zeit sei.

GWR: Nach dem Motto: Macht nichts, der Rest der Familie kommt ja dann am 1. April nach.

Volker Maria Hügel: Genau. Der Tenor hat mir nicht gefallen.

GWR: In Münster gibt es seit 2009 das Bündnis „Aktion 302", das sich für ein Bleiberecht „seiner" 302 Kosovo-Roma einsetzt [die GWR berichtete]. Es hat erreicht, dass sich in Münster auch Politik und Stadtverwaltung klar und deutlich für ein Bleiberecht der Roma positioniert haben.

Volker Maria Hügel: Und ich bin froh, dass es in Münster nicht nur die „üblichen Verdächtigen" sind, die sich für die Roma einsetzen, sondern dass es bis tief in die Mitte der Stadtgesellschaft reicht. Ich erinnere noch einmal an die Solidaritätsaktion der Aktion 302, „Schnappschüsse für ein Bleiberecht", in der sich auch der CDU-Bundespolitiker Ruprecht Polenz hat ablichten lassen, genau so wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Chris­toph Strässer und die jetzige Innovationsministerin Svenja Schulze. Aber es geht auch in die Verwaltung rein, auch dort liegt allen die Roma-Frage am Herzen und nicht zuletzt dem Integrationsrat der Stadt Münster und seinem Vorsitzenden Spyros Marinos, die die beiden Ratsresolutionen initiiert haben. Ich bin überzeugt, dass das aber auch an unserer Aufklä­rungsarbeit liegt. Alles, was wir an Informationen hatten, haben wir der Verwaltung und der Politik zur Verfügung gestellt, wir haben Informationsveranstal­tungen und Podiumsdiskussionen geführt und vieles mehr, und im Ergebnis heißt das: Wir haben sie überzeugt.

GWR: Zum Ende des Winterabschie­bestopps hat die Stadt Münster - mit ihrem Logo - gemeinsam mit der „Aktion 302" ein großes Banner in der Fußgängerzone ausgestellt, auf dem steht: „Münster appelliert: Keine Abschiebung von Minderheiten in den Kosovo. Bleiberecht für Roma in Deutschland!" Das ist schon eine beeindruckende Solidaritätserklärung von ganz offizieller Stelle.

Volker Maria Hügel: Ich bin stolz auf diese Stadt. Münster sagt, wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um diese Abschiebungen nicht durchzuführen. Wir sind hier wirklich fast so etwas wie eine „kleine Insel der Glückseligen", weil drum herum die Ausländerbehörden nach einem anderen Verfahren arbeiten: „Jetzt kann wieder abgeschoben werden, wer ist als nächstes dran?"

GWR: Was könnten andere Ausländerbehörden von Münster lernen?

Volker Maria Hügel: Zunächst einmal hat jede Behörde verfassungskonform zu handeln. Das heißt, wenn es um die Menschenwürde und die Achtung der Menschenrechte geht und die letzte „Asylprü­fung" acht oder neun Jahre zurückliegt, dann kann man dort auch mal etwas initiieren: Lass das doch noch mal vom Bundesamt überprüfen, oder geh zu einer Beratungsstelle, schreib die Gründe auf, die dafür sprechen, dass die Abschiebung ausgesetzt wird.

GWR: Also ein Paradigmenwechsel hin zu „Was spricht für eine Aussetzung der Abschiebung?" statt „Was spricht für eine Abschiebung?".

Volker Maria Hügel: Richtig. Und hier muss auch das Miteinander von Zivilgesell­schaft und Verwaltung funktionieren. Weil das in Münster der Fall ist, sind gewisse Dinge hier auch nicht denkbar. Da würde der Leiter der Ausländerbehörde bei uns in der Beratungsstelle anrufen und sagen: „Das kann doch nicht angehen, der Anwalt hat gepennt. Kann man noch irgendetwas machen, das uns in die Lage versetzt, diese Abschiebung zu verhindern?" Wenn es ein Miteinander gibt, um Probleme zu lösen, dann passiert so etwas nicht, dann würden viel weniger Menschen abgeschoben.

Interview: Ulrike Löw

Anmerkungen:

1 www.ggua.de

2 www.proasyl.de

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 359, Mai 2011, www.graswurzel.net