Ein neuer Dokumentarfilm über die Vergangenheit Guatemalas lässt Archive im Namen von Verschwundenen sprechen
Uli Stelzners neuestes Werk „La Isla. Archive einer Tragödie“ dokumentiert wie Armee und Polizei in Guatemala Ende des 20. Jahrhunderts hunderttausende Menschen verschleppten und ermordeten. Nach dem zufälligen Fund eines geheimen Archivs 2005 tauchten Millionen neuer Dokumente auf. Der Regisseur drehte seinen Film in diesem Archiv und mittels visueller und emotionaler Interaktion wird die Geschichte der Tragödie nachgezeichnet. Ein gelungenes Portrait der jungen Generation von MitarbeiterInnen, die sich vom Würgegriff der unaufgearbeiteten Geschichte befreien will.
Der neue
Dokumentarfilm von Uli Stelzner hatte Ende April im Nationaltheater von
Guatemala-Stadt vor 6.000 ZuschauerInnen Premiere – trotz Bombendrohung
und Sabotage der Stromversorgung. Wenige Tage zuvor hatte es noch
Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Diplomatie und rechter
Opposition um die Erstaufführung des Films gegeben. Diesen Film am Ort
des Geschehens zu zeigen war also kein leichtes Unterfangen. Ermöglicht
wurde Stelzners Werk erst durch den überraschenden Fund eines immer
wieder verleugneten Polizeiarchivs, welches sich in der Zone 6 der
Hauptstadt befand und durch eine Explosion freigelegt wurde. Auf dem
Gelände der heutigen Polizeischule lag früher die Insel, ein geheimes
Gefängnis gefürchteter Kommandos der Bundespolizei. Auf 80.000
Schriftstücken sind dort die Verbrechen des 36 Jahre andauernden
bewaffneten Konflikts akribisch von den TäterInnen verzeichnet worden.
Schwarz auf weiß existiert nun, worüber vorher niemand zu sprechen
wagte; in einem Land, das noch keinen Frieden gefunden hat.
„Dies ist der schwierigste Film gewesen, den ich je gemacht habe“, sagt
Uli Stelzner im Gespräch mit den LN. Der Filmemacher lebt und arbeitet
seit mehreren Jahren zwischen Berlin und Guatemala-Stadt. „Das
dramaturgische Konzept hat sich aus den Beschränkungen ergeben, die mir
von der Verwaltung des Archivs und auch durch das Material selbst
auferlegt wurden. Trotzdem wollte ich zu einer reichhaltigen visuellen
Sprache finden.” Stelzner konstruierte aus Zeugenaussagen,
Archivmaterial schweizer und US-amerikanischer Kriegsreportagen und
nachgestellten Sequenzen einen Dokumentarfilm, der seine ZuschauerInnen
langsam, aber stetig in den Bann zu ziehen weiß.
Der Film trägt durch die vergilbten Aktenstapel des Polizeiarchivs;
alles ist in abstrakten Tönen gehalten, die Kälte der Farben geht
einher mit der Kälte der Kellerräume. Das Cello der Filmmusik erscheint
plötzlich im Bild und wird von einem alten Mann in den kahlen Gängen
oder auf einem verlassenen Schrottplatz hinter dem Gebäude gespielt.
Guatemaltekische Geschichte wird in Projektionen auf die weißgetünchten
Archivwände lebendig. „Wir wollten erreichen, dass der Ort selbst zu
sprechen anfängt”, kommentiert der Autor. Und das Archiv spricht: von
den ersten Verschwundenen in den 60er Jahren, von der zunehmenden
Repression der 70er bis hin zu den Massakern der 80er Jahre.
Rückblickend geht der Film auch auf den Sturz des ersten
sozialdemokratischen Präsidenten Arbenz 1954 ein, welcher auf Drängen
der United Fruit Company und mit Hilfe der CIA durchgeführt wurde und
so den Anfang einer gewaltvollen Geschichte der Mächtigen in Guatemala
einleitete.
Die politische und wirtschaftliche Elite des Landes zog Polizei und
Militär zu Hilfe und bildete mit Hilfe der USA Todesschwadrone aus, um
den Status Quo der ungleichen Besitzverhältnisse gegenüber der armen
indigenen Mehrheit aufrecht zu erhalten. 45.000 Personen gelten heute
als verschwunden – schätzungsweise 250.000 Menschen wurden in zumeist
von Militär und Paramilitärs verübten Massakern ums Leben gebracht.
Langsam entwickelt der Film „La Isla“ die Geschichte eines
Geschwisterpaars, das nach dem Verbleib von insgesamt 16
Familienmitgliedern sucht. In den Akten des Archivs finden sie einige
von ihnen wieder. Nach und nach enthüllt sich in den Erzählungen die
ganze Tragik der Vergangenheit. „Ich bin danach nie wieder glücklich
geworden”, schließt die Schwester die Schilderungen des traumatischen
Eindringens einer Polizeieinheit in ihr Elternhaus ab.
„Das Archiv wird Guatemala verändern. Es ist von enormer Wichtigkeit
für die Aufarbeitung der Vergangenheit und ganz konkret auch für die
Beweisführung gegen die Täter von Verbrechen”, konstatiert Stelzner.
„Bisher gab es nur Zeugenaussagen, jetzt halten wir offizielle Akten
mit Stempel und Unterschrift in den Händen. Der Staat kann seine
Verantwortung für die Verbrechen des bewaffneten Konflikts nicht mehr
negieren.” Uli Stelzner hat einen kritischen Umgang mit seiner Rolle
als ausländischer Filmemacher. Doch er verweist zugleich darauf, dass
guatemaltekische KünstlerInnen bis auf wenige Ausnahmen nicht aus dem
Exil zurückgekehrt sind. „In Deutschland hat es nach dem Holocaust
ähnliche Erfahrungen gegeben: Geschichtliche und gesellschaftliche
Analysen, wie es dazu kommen konnte, kamen in den 50er und 60er Jahren
aus dem Ausland. Erst mit der Bewegung der 68er fing die
Nachkriegsgeneration in Deutschland an, Fragen zu stellen.” Aus der
Nachkriegsgeneration Guatemalas rekrutieren sich auch die
HauptprotagonistInnen des Films „La Isla“. Denn es sind zumeist junge
Leute, die das Archiv der Nationalpolizei auswerten. Die staatliche
Menschenrechtskommission, die die Akten seit der Entdeckung vor fünf
Jahren dokumentiert und analysiert, stellt wohlweislich nur Kinder der
ehemaligen Opposition ein.
Diese haben ein persönliches Anliegen, dass keine Akte abhanden kommt.
So ist gesichert, dass niemand aus politischen Motiven oder gegen Geld
Unterlagen verschwinden lässt. Eine Angst, die durchaus berechtigt ist,
schließlich bekleiden viele der im Archiv aufgeführten Täter noch immer
hohe Posten in der Politik, bei der Polizei oder im Militär. Tag für
Tag sind die jungen Archivmitarbeiter mit den Fotos von Hingerichteten
konfrontiert, mit der detaillierten Dokumentation von Foltermethoden,
mit dem Verzeichnis der Überlebenden, die dann aus Hubschraubern ins
offene Meer geworfen wurden. „Es ist, als würden sie den Krieg selbst
noch einmal erleben“, berichtet der Filmemacher. Zudem stellt der
persönliche Bezug für die Angestellten eine schwere Last dar.
Irgendwann stehen sie mit Karteikarten von ihren eigenen
Familienangehörigen da, erfahren die Uhrzeit ihres Todes und auf welche
Weise sie ermordet wurden.
„Ich hielt plötzlich Fotos der Leiche meines Vaters in der Hand“,
erzählt ein junger Mann mit getrübtem Blick, dem eben jenes Schicksal
widerfuhr. Seine innere Zerrissenheit ist deutlich zu spüren, auch wenn
er sie hinter lapidar klingenden Worten zu verbergen sucht.
Zum Ende macht der Film eine unerwartete Wendung als einer der
Protagonisten unerwartet die Rolle wechselt und zum handelnden Subjekt
wird: Lucio Yaxón nimmt den Mundschutz und die Schutzkleidung ab, die
er im Archiv trägt, setzt seine Kopfhörer auf und beginnt zu rappen,
auf Spanisch und in der Mayasprache Kakchikel. Mit seinem Rap schafft
die Verbindung von den konservierten Aktenbergen zu der jungen
Generation, der seit frühester Kindheit ein versteinertes Schweigen von
den Verbrechen an ihren Familien und den indigenen Dörfern im Hochland
erzählt hat.
Filmveranstaltungen (auch in Anwesenheit des Regisseurs Uli Stelzner
und des Rappers Lucio Yaxón) können unter www.iskacine.com angefragt
werden.
Text: // Kathrin Zeiske
Ausgabe: Nummer 433/434 - Juli/August 2010
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