Gegen die Akademiker*innen für den Frieden in der Türkei wurde nach dem 10.1.2016 eine Hexenjagd eingeleitet; dabei wurden Hunderte Opfer von Disziplinarverfahren. Die Hexenjagd begann, nachdem die Akademiker*innen für den Frieden eine Petition veröffentlicht hatten. Diese Petition kritisierte das brutale Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung, welches auf die Verhängung eines monatelangen Ausnahmezustandes folgte und zu außerrechtlichen Tötungen im Südosten des Landes führte (CAT 2016: 3f).
Gegen die Akademiker*innen für den Frieden in der Türkei wurde nach dem 10.1.2016 eine Hexenjagd eingeleitet; dabei wurden Hunderte Opfer von Disziplinarverfahren. Die Hexenjagd begann, nachdem die Akademiker*innen für den Frieden eine Petition veröffentlicht hatten. Diese Petition kritisierte das brutale Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung, welches auf die Verhängung eines monatelangen Ausnahmezustandes folgte und zu außerrechtlichen Tötungen im Südosten des Landes führte (CAT 2016: 3f). Bis heute (6.6.2016) sind die Auswirkungen dieser Aktion auf die türkische Hochschullandschaft äußerst schwerwiegend. 30 Hochschullehrer*innen wurden von ihren Positionen an ihren Universitäten suspendiert. 513 Disziplinarverfahren gegen Hochschullehrer*innen an öffentlichen wie an privaten Universitäten wurden eingeleitet. Einer musste in Rente gehen, elf wurden gezwungen, von ihren Ämtern zurückzutreten, 37 wurden von ihren Universitäten entlassen. Strafrechtliche Ermittlungen wurden gegen 421 Menschen eingeleitet. 37 Hochschullehrer*innen mussten zeitweilig ins Gefängnis, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Muzaffer Kaya, Esra Mungan und Kivanҫ Ersoy mussten für 40 Tage in Untersuchungshaft, Meral Camci musste sich ihnen für 22 Tage anschließen, bis sie alle zusammen nach der ersten gerichtlichen Anhörung am 22.4.2016 freigelassen wurden. Diese vier Hochschullehrer*innen waren im März verhaftet worden, weil sie zu einer akademischen Mahnwache aufgerufen hatten, um deutlich zu machen, dass die Akademiker*innen für Frieden weiterhin zu ihrem Wort stehen.
Dies war jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Namen und Fotos aller Unterzeichner*innen wurden von regierungsfreundlichen Zeitungen wenige Tage nach der Deklaration veröffentlicht. In den sozialen Medien wurde eine Lynch-Kampagne gegen die als Terrorist*innen etikettierten Hochschullehrer*innen gestartet. Über Wochen und Monate zogen sich die Verunglimpfungen und Demütigungen durch die regierungsgesteuerten Medien hin. Rechtsextreme Studenten markierten die Türen der Unterzeichner*innen auf dem Campus. Viele Hochschullehrer*innen, die an kleinen anatolischen Universitäten arbeiteten, erhielten über die sozialen Medien Morddrohungen. Eine andere Art psychologischen Drucks wurde innerhalb der Universitäten ausgeübt. Zum einen werden die Unterzeichner*innen nicht mehr zu Konferenzen in ihren Fachgebieten eingeladen. Ihre Namen werden ohne Ankündigung aus Konferenz- und Seminarprogrammen gestrichen. Zum anderen verloren viele Hochschullehrer*innen ihre Positionen als Direktor*innen oder Koordinator*innen von akademischen Programmen und Abteilungen an ihren Universitäten. Einige erhielten keine Genehmigung zur Teilnahme an akademischen Aktivitäten im Ausland. Zu guter Letzt werden akademische Kommissionen nur noch mit Nicht-Unterzeichner*innen besetzt. Ernennungen auf Assistant- und Associate-Professuren wurden durch Willkürentscheidungen von Rektor*innen rückgängig gemacht. Während einige türkische Hochschullehrer*innen zu ihren Kolleg*innen standen, die ihre Stimme für den Frieden erhoben hatten, ist die bittere Wahrheit doch, dass der Rest es vorzog, den Kopf in den Sand zu stecken. Die schlimmste Folge dieses Prozesses ist das Aufkommen der Selbstzensur in der türkischen Hochschullandschaft.
Diese gar nicht so unschuldige Ignoranz ist allerdings keineswegs neu. Was die Kurdenfrage angeht, war dies die gängige Praxis an den türkischen Hochschulen, ja sogar in der türkischen Gesellschaft. Der türkische Staat unterband die Produktion von wissenschaftlichem Wissen bezüglich der Kurdenfrage und machte diese zur ausschließlichen Regierungsangelegenheit. Daher blieben die Assimilationspolitik und ihre Resultate dem größten Teil der türkischen Gesellschaft unbekannt (Ünlü 2012: 2). Ismail Beᶊikҫi, ein prominenter türkischer Intellektueller, war der erste, der gegen diesen Bann ankämpfte. In den 1960er Jahren führte er für seine Doktorarbeit ethnografische Forschungen über kurdische Stämme durch. Als Dozent an der Erzurum Universität wurde er dann politisch aktiv und begann, seine Stimme gegen den konventionellen staatlichen Diskurs zu erheben. Am Ende suspendierte ihn die Universität von seinen Lehrveranstaltungen und entließ ihn schließlich im Jahr 1970. Nach dem Coup von 1971 denunzierten ihn seine Kollegen beim Militärgerichtshof. Weil er weiterhin seinen Standpunkt öffentlich vertrat, musste Beᶊikҫi später in seinem Leben eine ganze Reihe von Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen, die ihm 17 Jahre Gefängnis einbrachten. Sein angebliches Verbrechen war „Kurdismus“ (Ünlü 2012: 10). Fast sein gesamtes Werk wurde von den Gerichten verboten. Selbst heute ist es schwierig, in der Türkei an eines von seinen Büchern zu kommen. Beᶊikҫis Kollegen waren die ersten, die seine akademische Freiheit verletzten. Sie sagten vor Gericht offen und schamlos gegen ihn aus, verteidigten aber niemals sein Recht, sich frei zu äußern. Verfahren auf Verfahren musste er vor Gericht erscheinen, aber keine*r von all den kritischen türkischen Soziolog*innen, Politolog*innen und Intellektuellen verteidigte die Meinungsfreiheit (Bruinessen 2011: 53).
Die Kurdenfrage war immer ein Tabuthema an den türkischen Hochschulen. Die unerwartete Reaktion auf die Friedenspetition hängt damit zusammen. Mit der „kurdischen Öffnung“ und den Friedensverhandlungen von 2009 schien sich das Bild jedoch an den Hochschulen wie in der Gesellschaft zu wandeln. Eine offene und öffentliche Debatte über die staatliche Assimilationspolitik konnte endlich beginnen. Von verschiedenen Institutionen wurden akademische Konferenzen und Seminare über den Konflikt organisiert. Kritische Hochschullehrer*innen begannen das Thema zu diskutieren und sogar in ihre Lehrpläne aufzunehmen. Diese ziemlich positive und liberale Atmosphäre wandelte sich aber nach den Gezi-Protesten von 2013 plötzlich hin zur Verfolgung von Akademiker*innen. Nach der Übernahme der Kontrolle über Medien und Justiz waren nur noch die Hochschulen als Orte der Opposition gegen die Regierung übrig geblieben. Eine erste Welle von Disziplinarverfahren mit Bezug auf die Meinungsfreiheit bei der Unterstützung der Gezi-Proteste setzte im Sommer 2013 ein (GIT Turkey 2016: 26).
Nach den Disziplinarstrafen setzte Ende 2014 mit Gerichtsverfahren eine zweite Welle der Unterdrückung ein. Eliftan Köse, eine Kollegin von der Karamanoḡlu Mehmetbey Universität, wurde angeklagt, weil sie den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoḡan durch Teilnahme an einer öffentlichen Protestveranstaltung diffamiert habe. Die Veranstaltung war der Erinnerung an Berkin Elvan gewidmet, einen 15 Jahre alten Jungen, der bei den Gezi-Protesten von einer Gaspistole am Kopf getroffen und getötet worden war. Dr. Köse wurde zu elf Monaten und 20 Tagen Gefängnis verurteilt.[1] Ihr Fall war bedeutsam, weil mit ihr eine amtierende Hochschullehrerin zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Darüber hinaus war sie eine offen linke und feministische Wissenschaftlerin, die über Gender-Fragen arbeitete, und eine der wenigen Gewerkschafterinnen an ihrer Universität in der kleinen Stadt Karaman. Ihre Verurteilung war mehr als nur ein strafrechtlicher Fall. Er verunsicherte die Hochschullehrer*innen, insbesondere an kleinen öffentlichen Universitäten, wo abweichende Meinungen, wie Feminismus und Queer-Politik, nicht willkommen sind. Dass jemand es wagt, über Frauen- und LSBTI-Rechte[2] zu arbeiten, ist an einigen Universitäten im Innern Anatoliens zum seltenen Ausnahmefall geworden.[3]
2015 wurde ein Strafverfahren gegen einen anderen Kollegen, Bariᶊ Ünlü, eingeleitet, der an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität von Ankara arbeitet. Bariᶊ Ünlü wurde der „terroristischen Propaganda“ angeklagt, nachdem er in seinem Seminar über „Politisches Leben und Institutionen in der Türkei“ eine Frage gestellt und seine Student*innen gebeten hatte, zwei Schriften von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der PKK, zu vergleichen. Er wurde in der ersten Verhandlung im Februar 2016 vom strafrechtlichen Vorwurf der Verbreitung terroristischer Propaganda und der Verherrlichung von „Verbrechen und Verbrechern“ freigesprochen.[4] Nicht das Gerichtsverfahren selbst, aber die gesamte Phase davor wurde dazu genutzt, eine Warnung an alle Hochschullehrer*innen auszusenden, die es noch einmal wagen sollten, den konventionellen staatlichen Diskurs in Frage zu stellen. Seit der Staat nach den Wahlen vom Juni 2015 zur „Konterterrorismus“-Strategie zurückgekehrt ist und die Friedensverhandlungen abgebrochen hat, gibt es keinen Platz mehr für kritisches Denken in der Kurdenfrage.[5] Im Vergleich mit dem Fall von Dr. Köse, in der es um die Freiheit der Meinungsäußerung ging, standen in Dr. Ünlüs Fall die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit der universitären Wissensproduktion unter direkter Bedrohung.
Während Baris Ünlüs Fall internationale Schlagzeilen machte, stand gleichzeitig noch eine andere Hochschullehrerin aus Ankara vor Gericht. Die Anthropologin Dr. Sibel Özbudun von der Haceteppe-Universität war eines Vergehens angeklagt, weil sie über ihre sozialen Medien Gedichte und Fotos verbreitet hatte. Obwohl sie freigesprochen wurde, wurde sie noch einmal vor Gericht geladen. Im zweiten Verfahren wurde sie erneut freigesprochen, diesmal vom Vorwurf, „Propaganda für eine illegale Organisation zu machen“ durch die Kommentare, die sie am 20.4.2016 bei Facebook über die Kämpfe der YPG[6] gegen IS/ISIS in Syrien verbreitete (TIHV 2016).
Die Türkei hat in den letzten zehn Jahren einen Niedergang des intellektuellen Lebens durchgemacht. Obwohl dies nicht der einzige Fall ist, gipfelt diese Tendenz in den schändlichen Attacken gegen die Unterzeichner*innen der Petition der Akademiker*innen für den Frieden. Wissenschaftler*innen werden, wie A. Kadir Yildirim (2016) formuliert, auf ihre ideologischen Überzeugungen reduziert. Der Wert einer gebildeten Person wird weniger nach ihren Zeugnissen als nach der ideologischen Position, die sie einnimmt, beurteilt (ebd.). Vielleicht ist die Lage heute anders als in den Zeiten, die Ismail Beᶊikҫi in den 1970ern durchgemacht hat. Heute ist die zentrale Herausforderung in der Hochschullandschaft nicht die Infragestellung eines Tabus, sondern der schleichende Tod der Freiheit der Meinungsäußerung an den Universitäten. Nicht nur die Hochschullehrer*innen sondern auch die Studierenden werden in ihren Aktivitäten auf dem Campus ständig von der Polizei schikaniert. Disziplinarverfahren werden auch zur Einschüchterung von Studierenden genutzt. Die Regierung sucht sämtliche abweichenden Meinungen zu unterdrücken, um ihre in den Wahlen vom November 2015 gewonnene Macht weiter zu festigen.[7] Das Problem ist deshalb nicht nur eines in Bezug auf Kurd*innen oder diejenigen, welche zu Kurd*innen forschen. Jede Art von regierungskritischer Meinung wird für ungesetzlich erklärt.
Aber 1.128 protestierende Hochschullehrer*innen und Tausende von anderen, die sich ihnen anschlossen, zeigen, dass die türkischen Hochschulen in schwierigen Zeiten dennoch die Wahrheit sagen können. Deshalb führte diese ganze Hexenjagd nicht nur zu Ärger sondern auch zu Hoffnung und Solidarität. Als vier Wissenschaftler*innen eingekerkert wurden, ließen sich Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Friedensaktivist*innen und Studierende in Bussen zu zwei Gefängnissen bringen, um Mahnwachen zu halten. Wie Dr. Değirmencioğlu, der seinen Job an einer privaten Universität nach dieser ganzen Geschichte verlor, formuliert, symbolisieren Drachen den Frieden, und deshalb haben wir Hoffnung. „Drachen werden fliegen, Tyrannen werden stürzen. Die Wahrheit wird schließlich siegen, und der Friede auch“ (Değirmencioğlu 2016).
Übersetzung aus dem Englischen: Gerhard Hauck
Literatur
Bruinessen, Van Martin (2011): „Akademik Özgürlük ve İfade Özgürlüğü. İsmail Beşikçi Vakası“ [„Academic Freedom and Freedom of Expression: Case of Ismail Beşikçi“]. In: Ünlü, Barış, & Ozan Değer (Hg.): Ismail Beşikçi. Istanbul, S. 47-56.
CAT – Committee against Torture (2016): „Concluding Observations on the Fourth Periodic Reports of Turkey“. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/109/81/PDF/G1610981.pdf?OpenElement, letzter Aufruf: 10.6.2016.
Değirmencioğlu, Serdar (2016): Kites, Poetry and Tallies. Academic Freedom Disappears in Turkey. https://www.timeshighereducation.com/blog/kites-poetry-and-tallies-academic-freedom-disappears-turkey, letzter Aufruf: 10.6.2016.
GIT Turkey – International Working Group Academic Liberty and Freedom of Research in Turkey (2016): The Rights Violations at Academia Between May 2013-May 2015. http://gitturkiye.org/images/GITT_dosya2013-2015.pdf, letzter Aufruf: 10.6.2016.
KAOS GL (2014): Scholars at Mardin Artuklu Condemned the Homophobic Hate. http://www.kaosgl.com/sayfa.php?id=16375, letzter Aufruf: 7.6.2016.
Ünlü, Barış (2012): „İsmail Beşikçi as a Discomforting Intellectual“. In: Borderlands E-Journal, Bd. 11, Nr. 2, S. 1-21, http://www.borderlands.net.au/vol11no2_2012/unlu_intellectual.pdf, letzter Aufruf: 10.6.2016.
TIHV – Human Rights Foundation of Turkey (2016): 21 April 2016 Daily Human Rights Report. http://en.tihv.org.tr/21-april-2016-hrft-daily-human-rights-report, letzter Aufruf: 7.6.2016.
Yıldırım, A. Kadir (2016): Why Turkey’s Governement is Threatening Academic Freedom. https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2016/01/16/why-turkeys-growing-anti-intellectualism-is-a-threat-to-academic-freedom/, letzter Aufruf: 7.6.2016.
Anschrift der Autorin:
Cavidan Soykan
soykan@politics.ankara.edu.tr
Peripherie, Nr. 142/143, 36. Jg. 2016, Verlag Barbara Budrich, Leverkusen
[1] Da die Strafe weniger als ein Jahr betrug, musste Dr. Köse die Haft nicht antreten. Das Revisionsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
[2] Anm. d. Red.: LSBTI = lesbisch, schwule, bisexuelle, trans* und inter*.
[3] Ein Panel über Queer-Politik und Architektur am 17.4.2016 an der Mardin Artuklu Universität wurde wegen Drohungen von außerhalb der Universität abgesagt (KAOS GL 2014).
[4] S. https://www.theguardian.com/world/2016/feb/04/turkish-lecturer-found-not-guilty-over-exam-question-on-kurdish-leader, letzter Aufruf: 10.6.2016.
[5] Inzwischen gibt es ein Rundschreiben, das es als illegale Aktivität definiert, über Frieden zu arbeiten. Ein Themenvorschlag für eine Magisterarbeit über die Rolle von Frauen im Friedensprozess wurde von der Verwaltung der Antalya Akdeniz Universität abgelehnt, weil das Wort „Frieden“ nicht mit dem Inhalt dieses Konterterrorismus-Rundschreibens zu vereinbaren sei, http://www.evrensel.net/haber/277992/barisa-tez-yasak, letzter Aufruf: 10.6.2016.
[6] YPG (The People’s Defense Units) ist der bewaffnete Arm der Democratic Union Party (PYD) in Rojava, der kurdischen Region von Syrien.
[7] In der Kurdenfrage zeigte sich diese Bestrebung in dem Abbruch der Friedensverhandlungen gleich nach den allgemeinen Wahlen vom Juni 2015.