Am 18. Juli stehen die Hamburger Bürgerinnen und Bürger vor einer Entscheidung, der bundespolitische Bedeutung zukommt.
Am 18. Juli stehen die Hamburger Bürgerinnen und Bürger vor einer Entscheidung, der bundespolitische Bedeutung zukommt. Auf Betreiben der Initiative „Wir wollen lernen“ findet ein Volksentscheid darüber statt, ob das Herzstück der schwarz-grünen Schulreform, das „längere gemeinsame Lernen“ von der ersten bis zur sechsten Klasse in den neu zu schaffenden Primarschulen, umgesetzt werden kann oder ob wie bisher alle Schülerinnen und Schüler bereits nach der vierten Klasse auf weiterführende Schulen aufgeteilt werden. Für die Reform wirbt eine ganz große Koalition, der alle in der Bürgerschaft vertretenen Parteien angehören – neben CDU und Bündnis 90/Die Grünen auch SPD und Die Linke.[1] Sollte der Senat dennoch in dieser wichtigen Strukturfrage scheitern, dürfte sich so schnell keine weitere Landesregierung daran wagen, überfällige Strukturveränderungen im Bildungssystem in Angriff zu nehmen.[2]
Längeres gemeinsames Lernen
Auf Betreiben der Grünen beschloss die schwarz-grüne Koalition unter dem Motto „Eine kluge Stadt braucht alle Talente“ 2008 eine Schulreform mit dem Ziel, die starke Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft zu vermindern und mehr Jugendliche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Sie stützte sich dabei maßgeblich auf die Beschlüsse der Hamburger Enquete-Kommission, die nach dem „PISA-Schock“ 2006 Empfehlungen zur Schulentwicklung erarbeitet hatte, und ging mit der Verlängerung der Grundschulzeit einen entscheidenden Schritt darüber hinaus.
Grundpfeiler der Reform sind das „längere gemeinsame Lernen“ in der Grundschulzeit und nur noch zwei weiterführende Schultypen – die Stadtteilschule, welche Real-, Haupt- und Gesamtschulen zusammenfassen soll, und das Gymnasium ab der siebten Klasse. Teil dieser Änderung sind kleinere Klassen und vor allem eine „neue Lernkultur“, die auf individuelle Förderung in heterogenen Klassen und jahrgangsübergreifenden Unterricht setzt. Anstatt die Kinder frühzeitig zu sortieren, sollen alle je nach ihren Begabungen gemeinsam unterrichtet werden. Dabei steht notwendigerweise weniger der traditionelle Frontalunterricht Pate. Vielmehr sollen die Kinder und Jugendlichen Projektaufgaben je nach ihrem individuellen Entwicklungsstand erfüllen. Zahlreiche Schulen arbeiten inzwischen bundesweit erfolgreich nach diesem Prinzip und haben sich zum Ziel gesetzt, kein Kind mehr verloren zu geben. Beispielhaft steht dafür die 2007 mit dem Hessischen Hauptschulpreis ausgezeichnete Heinrich-von-Kleist-Schule in Wiesbaden.[3] Bei den als Pilotprojekte laufenden Berliner Gemeinschaftsschulen, in denen Kinder von der ersten bis zur letzten Klasse gemeinsam lernen, übersteigt inzwischen die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches.
In Hamburg sollen beide weiterführenden Schulformen das Abitur als Abschluss anbieten: Das Gymnasium nach zwölf und die Stadtteilschule nach dreizehn Schuljahren. Außer auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern (beispielsweise nach langer Krankheit des Kindes) soll es kein Sitzenbleiben mehr geben; stattdessen werden lernschwache Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert.
Hamburger Bürgeraufstand
Ursprünglich sollte die Reform zum Schuljahr 2010/11 starten. Doch schon bald nach dem Koalitionsbeschluss ging ein Aufschrei durch Hamburg. Unter dem Slogan „Wir wollen lernen!“ protestierten vor allem jene, deren Kinder vom derzeitigen selektiven Schulsystem profitieren, vehement gegen die beschlossene Reform: Sie wollen an der frühzeitigen Aufteilung der Schülerinnen und Schüler festhalten.[4]
Mobilisiert wurden die Hamburgerinnen und Hamburger vor allem mit der geplanten Abschaffung des Elternwahlrechts beim Übergang auf die weiterführenden Schulen. Ursprünglich sah das Reformprojekt vor, dass die Empfehlungen der Primarschulen verbindlich sein sollten. Dies stieß auf massive Kritik, die sich letztlich in beachtlichen 184?500 Unterschriften für einen Volksentscheid niederschlug.
Um das gesamte Projekt nicht zu gefährden, kam der Hamburger Senat der Volksinitiative in diesem Punkt entgegen. Nunmehr sollen allein die Eltern entscheiden, welche weiterführende Schule das Kind besuchen wird, die Primarschule gibt lediglich eine unverbindliche Empfehlung ab. Wie bisher wird nach dem ersten Schuljahr auf dem Gymnasium die Schulkonferenz entscheiden, ob das Kind weiterhin dort bleiben kann. Anschließend ist allerdings kein Abschulen vom Gymnasium mehr möglich – im gegenwärtigen System schwebt dieses Damoklesschwert jedes Jahr aufs Neue über den Schülerinnen und Schülern.
Auch eine Reihe weiterer Zugeständnisse und Verbesserungen – wie zusätzliche Lehrerstellen und kleinere Klassen – änderten nichts daran, dass die Volksinitiative die Verhandlungen letztendlich für gescheitert erklärte.
Deshalb stimmt Hamburg Mitte Juli nun darüber ab, ob die Hansestadt einen Schritt in Richtung chancengerechter Schule geht oder ein System aufrechterhält, das – wie PISA immer wieder aufs Neue zeigt – zwingend Gewinner und Verlierer produziert.
Unsoziale Selektion
Denn gerade die frühe Aufteilung in unterschiedliche Schulformen benachteiligt Kinder aus ärmeren, bildungsferneren Schichten und bevorzugt Kinder akademisch gebildeter Eltern – selbst bei gleichen Leistungen. Auch die unverbindlichen Empfehlungen der Grundschulen – an denen sich Eltern, gerade bildungsfernere, zumeist orientieren – sind wenig treffsicher und beziehen (bewusst und unbewusst) andere Kriterien als die Leistungen mit ein. Das gilt in Hamburg genauso wie in der gesamten Bundesrepublik: So finden sich in Hamburger Gymnasien zahlreiche Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialempfehlung, deren Leistungen unter dem typischen Gymnasialniveau liegen. Zugleich erreichen an Haupt- und Realschulen nicht wenige Schüler „Lernstände, die denen der leistungsschwächeren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten entsprechen oder diese sogar übertreffen.“[5]
Während also die Chefarzttochter voraussichtlich auch mit mittleren Leistungen das Gymnasium besuchen wird und dann dort vom besseren Lernklima und dem Vorwissen ihrer Mitschüler profitiert, wird der Sohn der alleinerziehenden Verkäuferin bei gleichen (oder gar besseren) Leistungen mit größerer Wahrscheinlichkeit an die Hauptschule verwiesen, wo er sein Potential nicht entfalten kann.[6] Diese Spaltung verstärkt sich, je früher die Schüler aufgeteilt werden.
Von diesen Argumenten lassen sich die Hamburger Initiatoren von „Wir wollen lernen“ allerdings nicht beirren. Sie halten vielmehr an der frühen Trennung in vermeintlich homogene Lerngruppen fest und machen auch vor gezielter Panikmache nicht halt: So warnten knapp zwei Monate vor dem Volksentscheid leitende Ärzte in einem in den Praxen ausliegenden Brief vor einem „Standortnachteil für Hamburg“ und einem drohenden Ärztemangel. Sie forderten darin ihre Patienten auf, gegen die Reform zu stimmen, wollten sie nicht alsbald vor verschlossenen Praxistüren stehen.
Um die hervorragende Qualität der Hamburger Gymnasien zu „beweisen“, vergleichen die Reformgegner gern auch einmal Äpfel mit Birnen: So habe PISA 2003 gezeigt, dass die Kompetenzwerte an den Hamburger Gymnasien beim Staatenvergleich in Mathematik deutlich über dem OECD-Durchschnitt und vor Finnland lägen.[7] Bei einem Vergleich der besten Schüler mit der Gesamtschülerschaft gut abzuschneiden, ist in der Tat ein hervorragender Erfolg!
Wer bei Pisa genauer hinschaut, erfährt jedoch: Im Vergleich mit anderen Spitzenschülern landen die Hamburger Gymnasien nur im Mittelfeld. Das Ausgrenzen der (vermeintlich) Schwachen führt also nicht einmal zu überragenden Leistungen der (vermeintlich) Starken.
Dies zeigt: Auch dem Gymnasium wäre ein Umdenken in der Lernkultur anzuraten. Eltern geben Jahr für Jahr Milliarden Euro für privaten Nachhilfeunterricht aus. Viele Gymnasiasten sind auch in ihrer Freizeit nur noch mit Lernen beschäftigt und finden kaum noch Zeit für ihre Hobbys. Ein Zustand, der bei immer mehr Kindern zu Überforderung und Ängsten führt – kein gutes Klima für erfolgreiches Lernen. Gerade im Vorfeld des Übergangs von der Grundschule zum Gymnasium, oft bereits zu Beginn der dritten Klasse, bestimmt massiver, auch von den Eltern geschürter Leistungsdruck den Schulalltag.[8]
Dabei will jedes Kind lernen – die Freude daran zu wecken und zu erhalten, ist das Ziel und die wichtigste Aufgabe der Grundschule.[9] Und sie erfüllt diese deutlich besser als die weiterführenden Schulen: „Es gelingt der Grundschule in Deutschland, für einen Großteil der Kinder ein hohes Niveau in der Lesekompetenz zu erreichen und gleichzeitig die Differenz zwischen lesestarken und leseschwachen Kindern relativ klein zu halten“, stellt die IGLU-Studie von 2006 fest.[10] Von längerem gemeinsamen Lernen mit einer neuen Lernkultur profitieren also letztlich alle Kinder.
Als weiteres Argument für die Beibehaltung der frühen Trennung führt die Initiative an, dass bereits zum Ende der vierten Klasse Leistungsrückstände bis zu einem Jahr innerhalb einer Klasse bestünden, die nicht mehr aufzuholen seien. Damit liegt sie in vielen Fällen nicht einmal falsch. Nur ist das auch gar nicht das Ziel individuell erfolgreichen Lernens. Denn es geht nicht darum, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche können, sondern dass alle die Chance erhalten, sich ihren Begabungen gemäß zu entwickeln und niemand bereits frühzeitig zum Verlierer gestempelt und abgeschoben wird. Auch in jeder Gymnasialklasse gibt es schließlich enorme Leistungsdifferenzen – und wer in Mathe ein Ass ist, muss es in Biologie noch lange nicht sein. Mit diesen Unterschieden erfolgreich umzugehen und dabei jeden einzelnen Schüler bestmöglich zu fördern, darin besteht die große Herausforderung der Schule von morgen.
Es bleibt zu hoffen, dass am 18. Juli nicht der Frust über die Pleite mit der Elbphilharmonie, die Auseinandersetzungen um die Stadtbahn oder die jüngst beschlossene Kitagebührenerhöhung den Ausschlag geben werden. Sondern dass den Hamburgerinnen und Hamburgern die Tragweite ihrer Entscheidung bewusst ist: Es geht um einen wichtigen Schritt hin zu einem gerechteren Bildungssystem – auch um des gesellschaftlichen Zusammenhaltes willen.
[1] Für die Schulreform wirbt in Reaktion auf „Wir wollen lernen“ auch die Initiative „Die Schulverbesserer“, www.die-schulverbesserer.de, der mehr als 20 Organisationen angehören.
[2] Vgl. Annett Mängel, Ständische Schule. Fortwährende Ungleichheit durch das gegliederte Schulsystem, in: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh und Elke Steven, Grundrechtereport 2010, Frankfurt a.M. 2010.
[3] Vgl. „die tageszeitung“ (taz), 20.12.2007.
[4] Gegründet wurde die Initiative vom Hamburger Rechtsanwalt Walter Scheuerl, neben Eltern wird sie vor allem von Gymnasiallehrern, konservativen Lehrerverbänden und der außerparlamentarischen FDP unterstützt, vgl. www.wir-wollen-lernen.de.
[5] Wilfried Bos, Carola Gröhlich und Karin Guill, Kompetenzen und Einstellungen von Schüler-
innen und Schülern – Jahrgangsstufe 8, Hamburg 2009, S. 140.
[6] Vgl. ebd. S. 103.
[7] Vgl. www.wir-wollen-lernen.de/gute_gruende_gegen_primarschule.html.
[8] Vgl. taz, 2.6.2010.
[9] Vgl. Jürgen Overhoff, Vom Glück, lernen zu dürfen. Für eine zweckfreie Bildung, Stuttgart 2009, und Remo Largo, Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken [i.E.].
[10] Zit. nach „Deutsche Grundschule ist unter
Europas Besten“, in: „Welt-Online“, 28.11.2007.
(aus: »Blätter« 7/2010, Seite 13-16)