Während die Bundeskanzlerin durch die Lande tourte, um sich ein Bild von der deutschen Bildungslandschaft zu machen, erteilte der jährlich erscheinende Bildungsbericht der OECD der Republik abermals schlechte Noten. Wie bereits in den Vorjahren attestierte die OECD einen drohenden Akademiker- und Fachkräftemangel und kritisierte vor allem die niedrigen Bildungsausgaben: Lediglich 5,1 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts wende die Bundesrepublik für Bildung auf, im OECD-Durchschnitt seien es 6,1 Prozent. Noch deutlicher klafft die Schere auseinander, lenkt man den Blick auf den Anteil der Bildungs- an den Gesamtausgaben des Staates – hier stehen knapp zehn Prozent in der Bundesrepublik guten 13 im OECD-Durchschnitt gegenüber. 1
Im Vorfeld des von Angela Merkel ausgerufenen „Nationalen Bildungsgipfels“ sorgt eine Reihe aktueller Studien zur Bildungssituation mit dramatischen, wenngleich nicht neuen, Befunden für anhaltende mediale Aufmerksamkeit. Was allerdings am 22. Oktober tatsächlich „gipfeln“ soll und vor allem, ob es zu handfesten Ergebnissen kommen wird, steht längst nicht fest. Dabei liegen die Probleme seit Jahren auf dem Tisch.
Frühe Selektion statt gleiche Bildungschancen
Nach wie vor ist die Bundesrepublik einsame Spitze bei der frühen Selektion von Schülerinnen und Schülern. In keinem vergleichbaren Industrieland werden die Weichen für den Bildungs(miss)erfolg so frühzeitig – nämlich mit wenigen Ausnahmen bereits nach der vierten Grundschulklasse – und zugleich so endgültig gestellt. Dass dabei nicht nur die Leistung der Kinder, sondern auch der soziale Hintergrund der Eltern eine entscheidende Rolle spielt, haben die internationalen Vergleichsstudien IGLU und PISA und nun auch eine aktuelle Studie der Universität Mainz eindeutig aufgezeigt: Insgesamt erhielten 81 Prozent der Kinder aus der Oberschicht eine Gymnasialempfehlung gegenüber 14 Prozent der Kinder aus Unterschichtsfamilien. Und selbst bei gleichen Leistungen unterscheiden sich die Schulempfehlungen gravierend: Kinder aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe erhalten bei einer Durchschnittsnote von 2,0 nur zu 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung, während in der höchsten Gruppe mit 97 Prozent so gut wie alle Kinder mit demselben Notenschnitt aufs Gymnasium wechseln. 2
Und ein späterer Aufstieg ist so gut wie ausgeschlossen: Insgesamt wechseln nur drei Prozent aller Schüler die einmal gewählte Schulart, davon besuchen die meisten anschließend eine niedriger qualifizierende Schule. Der Großteil der Aufstiege betrifft den Wechsel von der Haupt- in die Realschule. Ein Wechsel ans Gymnasium kommt so gut wie nicht vor, obwohl „es eine größere Zahl gymnasial geeigneter Schüler gibt, die nicht das Gymnasium besuchen“, so die Autoren des Nationalen Bildungsberichts. 3 Und die soziale Schieflage setzt sich bei der Frage „Studieren oder nicht“ fort: Kinder aus Akademikerfamilien nehmen bei gleichen Abiturnoten häufiger ein Studium auf als Kinder mit Eltern ohne Studienabschluss. 4 Hierbei zeigt sich auch die verhängnisvolle Wirkung der vielerorts eingeführten Studiengebühren.
Wer es dann doch, trotz widriger sozialer Voraussetzungen, auf die Hochschule geschafft hat, steht seit der Bologna-Reform vor einer weiteren Selektionsstufe: Seit der flächendeckenden Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen (in der Regel mit Ausnahme von Jura, Medizin und Lehramtsstudiengängen) an den Universitäten und Fachhochschulen ist der zumeist dreijährige Bachelor für Studienanfänger der Regelabschluss. Denn obwohl fast 80 Prozent der Bachelor-Studierenden einen Master als nützlich für bessere Berufsaussichten ansehen, bieten viele Hochschulen nur rund einem Viertel der Studenten diese Möglichkeit an. Bei dem dafür erforderlichen Ausleseprozess zählt neben der Leistung auch die Einhaltung der Regelstudienzeit. Während sich diese schon allein deshalb nur schwer einhalten lässt, weil sich aufgrund der überfrachteten Studienordnungen Pflichtkurse oft überschneiden, müssen gerade Studierende aus finanzschwachen Elternhäusern obendrein neben dem Studium oft für ihren Lebensunterhalt arbeiten. 27 Prozent der Unistudierenden und gar 37 Prozent an den Fachhochschulen arbeiten mehr als acht Stunden und damit mindestens einen Tag in der Woche – dies geht zwangsläufig auf Kosten des Studiums, das als Vollzeitstudium konzipiert ist. Wer aber deshalb in der Studienplanung hinterherhinkt, hat schlechtere Aussichten auf einen Masterabschluss.
Mehr Bildung für alle
Die Bundesrepublik verschenkt somit wissentlich an zahlreichen Stellen im Bildungssystem das Bildungspotential vieler Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener. 5 Über einen drohenden Akademiker- und Fachkräftemangel sollte sie sich deshalb nicht beklagen, sondern muss vielmehr lange vor den Hochschulen damit anfangen, den herrschenden Missständen Abhilfe zu schaffen: Wer mehr Akademiker will, braucht mehr Abiturienten, wer mehr Abiturienten will, muss mehr Schülerinnen und Schüler zum Abitur führen und zugleich die Hochschulen auch für ausgebildete Facharbeiter öffnen. Jenseits der Frage der Gerechtigkeit kann es sich die Bundesrepublik gesellschaftlich wie ökonomisch nicht länger leisten, nur auf die Selbstreproduktion der Akademiker zu setzen und Kinder bildungsfernerer Schichten von Beginn an abzuschreiben, schon allein weil jene den Bedarf künftiger Fachkräfte schlicht nicht decken können.
Das wiederum heißt zuallererst, dass die frühkindliche Bildung stärker gefördert werden muss: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, das altbekannte Sprichwort stimmt nach wie vor. Deshalb braucht das Land umfassende Betreuungsangebote mit gut ausgebildetem Personal auch für unter Dreijährige. Auf ihrer Bildungsreise besuchte Angela Merkel denn auch unter anderem die Evangelische Fachhochschule Darmstadt, die den wegweisenden neuen Verbundstudiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ anbietet, in dem Erzieherinnen und Erzieher wissenschaftlich fortgebildet werden. Solche Angebote wären landesweit vonnöten, denn die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher für Kindergärten und Kitas ist, wie dies inzwischen auch Merkel erkannte, „eine der Kernfragen der Zukunft des Bildungssystems.“
Um jedoch alle Kinder, vor allem die aus bildungsfernen Schichten, zu erreichen, muss das Kita-Angebot nicht nur endlich kostenfrei werden, sondern es muss den jüngsten Kindern unter Drei auch dann offenstehen, wenn deren Eltern nicht erwerbstätig sind und daher nach der bisherigen Regelung angeblich „keinen Bedarf“ an externer Betreuung haben. Gerade für diese Kinder ist es wichtig, dass familiäre Bildungsdefizite frühzeitig erkannt und kompensiert werden und ihr Forscherdrang wie ihre Entdeckungslust ebenso spielerisch gefördert wie ihr Selbstbewusstsein gestärkt wird. Auch die über Dreijährigen sollten über den Halbtagsplatz hinaus an allen Bildungsangeboten der Kitas teilnehmen können – selbst wenn ihre Eltern wegen anhaltender Arbeitslosigkeit zu Hause sind. Nur auf diese Weise kann ein wichtiger Grundstein dafür gelegt werden, dass die Voraussetzungen, mit denen die Kinder in die Grundschulzeit starten, zukünftig nicht mehr so gravierend auseinanderklaffen.
Doch damit ist es längst nicht getan. Um die Potentiale der Schülerinnen und Schüler zu erkennen und zu entwickeln und sie zu einem qualifizierenden Schulabschluss zu bringen, ist eine grundsätzliche Veränderung des Bildungssystems unabdingbar. So ungern die Gymnasiums-Verfechter dies hören werden – die Befunde sind eindeutig: Länder, die ein eingliedriges Schulsystem haben, wirken dem Auseinanderdriften von guten und schlechten Schülern entgegen, während jene mit zwei- oder mehrgliedrigem System dieses verstärken. Spitzenreiter ist dabei wieder mit Abstand die Bundesrepublik – und verbaut vielen Kindern den Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
Und davon profitieren nicht einmal die guten Schüler: Während sich 15jährige Schüler, die in der Grundschule schlechte Leistungen aufwiesen, in ihrer weiteren Schulkarriere relativ verschlechtern, werden diejenigen mit guten Leistungen im Vergleich mit den Spitzen der anderen Länder nicht einmal besser. 6 Wer also, wie die Befürworter des Gymnasiums, geglaubt haben mag, dass dieser Schultyp für eine gesicherte geistige Elite sorgt, sieht sich widerlegt. Das Gegenteil ist der Fall: Indem große Teile der Schüler nicht in die Lage versetzt werden, ihr Potential wirklich zu entwickeln, vermindert das Land permanent die Zahl neuer schlauer Köpfe.
Nur ein längeres gemeinsames und ganztägiges Lernen aller Kinder kann dieser sozialen Selektion entgegenwirken und dazu beitragen, dass möglichst alle ihre Fähigkeiten voll ausbilden. Dass dies mitnichten zulasten der von Hause aus gut gebildeten Kinder geht, belegen eindrucksvoll die skandinavischen Ländern – und auch bereits bestehende Gemeinschaftsschulprojekte in der Bundesrepublik.
Um der gegenwärtig herrschenden Perspektivlosigkeit am untersten Rand entgegenzuwirken, muss das Bildungssystem auch dafür Sorge tragen, dass alle Kinder einen Schulabschluss erreichen. Bislang verlassen acht Prozent aller Schülerinnen und Schüler die Schule ohne einen berufsqualifizierenden Abschluss. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass so vielen jungen Menschen von Kindesbeinen an Wissensdurst und Bildungshunger fehlen. Woran es bei ihnen wirklich mangelt, ist eine frühzeitige Förderung und eine langfristige Perspektive jenseits von Hartz IV.
Nicht zuletzt muss dafür auch die Ausbildung der kommenden Lehrerinnen und Lehrer praxisnäher und mit mehr pädagogischem Grundlagenwissen erfolgen. Im jüngsten Studentensurvey haben auch die Lehramtsstudierenden dies als vordringlichste Veränderung ihrer Studiensituation eingefordert. 7
Öffnung der Hochschulen
Schließlich bedeutet „Mehr Bildung für alle“ auch, dass sich die Hochschulen öffnen und mehr Studierende zu einem Abschluss bringen müssen. Bislang schließen lediglich 22 Prozent eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium ab, der Wissenschaftsrat hat jedoch schon lange die Zielmarke von 35 Prozent ausgerufen.
Angesichts von Studiengebühren, unübersichtlichen Zugangsvoraussetzungen und gestiegenen Lebenshaltungskosten sehen vor allem Abiturienten aus weniger finanzkräftigen Elternhäusern zunehmend von einem Studium ab und nehmen stattdessen eine Ausbildung auf. Dass Studiengebühren sozial Schwache von einem Studium abhalten, hat – wenngleich indirekt – auch die jüngste OECD-Studie eingeräumt: Zwar befürwortet sie eine stärkere nicht-öffentliche Finanzierung der Bildungsaufgaben, doch habe sich gezeigt, dass private Mittel in Form von Stipendien erforderlich sind, um sozial Schwache zur Aufnahme eines Studiums zu bewegen. 8 Um die Zahl der Studentinnen und Studenten tatsächlich zu vergrößern, sollten deshalb als erstes die Studiengebühren wieder abgeschafft werden.
Gerade in den stark begehrten Ingenieurswissenschaften brechen aufgrund des verkürzten, aber überfrachteten neuen Bachelor-Studiums 50 Prozent ihr Studium ab. Und auch um die viel gepriesene Berufsbefähigung, die der Bachelor schneller erbringen sollte, steht es schlecht: Die Mehrheit der Studierenden befürchtet, der Bachelor sei ein Abschluss für Akademiker zweiter Klasse und macht sich Sorgen um die Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt – lediglich zwölf Prozent erwarten gute Aussichten. 9
Deshalb sind Änderungen der Hochschulreform unabdingbar: Anstatt die Mehrheit der Studierenden mit dem ersten berufsqualifizierenden Bachelor-Abschluss aus den Hochschulen zu entlassen, sollte der Master zum Regelabschluss werden – was auch dem Wunsch der Mehrzahl der Studierenden entspricht. Zudem wäre es sinnvoll, den Bachelor – nicht zuletzt auch der Vergleichbarkeit und Mobilität wegen – als grundlegenden Studiengang zu konzipieren, dessen Spezialisierung mit dem Master erfolgt.
Bei alledem stellt sich die grundsätzliche Frage, was die Studierenden eher befähigt, in einer sich wandelnden, hochkomplexen Welt den wechselnden Anforderungen des Arbeitslebens gerecht zu werden: Eindimensionales Spezialwissen dürfte dabei weit weniger helfen als ein breites Fundament wissenschaftlicher Grundlagen. Auch dem müssen Studiengänge zukünftig Rechnung tragen, wenn sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden sollen.
Über mangelnde Herausforderungen können sich die Teilnehmer des anstehenden Bildungsgipfels also nicht beklagen. Es wäre zu wünschen, dass sie bei ihrer Suche nach Antworten auch – wie es Angela Merkel bei ihrer Bildungsreise tat – ihr „Augenmerk vor allem auf solche Institutionen [legen], die innovative pädagogische und bildungspolitische Ansätze verfolgen“, da sie „als Vorbilder für die Reform des Bildungssystems dienen“ können.
Schließlich sollten Sonderwünsche der Ministerpräsidenten und Landesbildungsminister nicht erneut ein stärkeres Engagement des Bundes in Bildungsfragen konterkarieren. Die Debatte um eine Reform der Föderalismusreform ist daher unabdingbar – damit der Bund endlich gestalterisch und finanziell in Bildung investieren kann.
1 Vgl. OECD, Bildung auf einen Blick 2008, Bielefeld 2008.
2 Vgl. www.uni-mainz.de/presse/24855.php. Zur Oberschicht wurden Familien mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 1250 Euro und mindestens einem Elternteil mit Gymnasialabschluss, zur Unterschicht Familien mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen bis 500 Euro und Eltern mit geringem Bildungsabschluss gezählt.
3 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2008, Bielefeld 2008, S. 62.
4 Pressemitteilung der Autorengruppe Bildungsberichterstattung vom 12.6.2008, S. 15.
5 Vgl. Annett Mängel, Elitäre Exzellenz, in: „Blätter“, 12/2007, S. 1416-1419, sowie dies., Kampf um die Krippe, in: „Blätter“, 4/2007, S. 399- 403.
6 Vgl. Eric A. Hanushek und Ludger Wößmann, Does Educational Tracking Affect Performance and Inequality? Differences-in-Differences Evidence across Countries, www.zew.de.
7 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Studiensituation und studentische Orientierung. 10. Studentensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, Bonn und Berlin 2008.
8 OECD, a.a.O., S. 17.
9 BMBF, a.a.O., S. 43.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 10/2008 - Seite 13 bis 17