Ethik oder Religion: Dialog oder Bekenntnis?

Nach der hoch emotionalen Tempelhofabstimmung wird in Berlin erneut ein Volksentscheid heiß diskutiert. Der Verein „Pro Reli“ will über die Stellung des Religionsunterrichts an den Berliner Schulen abstimmen lassen. Vom Berliner „Kulturkampf“ ist im Vorfeld die Rede, von einer „Diskriminierung der Religion“, die der Berliner rot-rote Senat betreibe. 1

Unter dem Slogan „Für Wahlfreiheit“ verfolgt „Pro Reli“ das Ziel, den seit 2006 bestehenden verpflichtenden Ethikunterricht in den Klassen 7 bis 10 sowie den freiwilligen Bekenntnisunterricht in den Klassen 1 bis 13 abzuschaffen. Stattdessen soll es ab der ersten Klasse ein Pflichtfach geben. Die Schülerinnen und Schüler (bzw. deren Eltern) müssten sich zwischen der Teilnahme an einem Religions-/Weltanschauungsunterricht und dem Fach Ethik entscheiden und würden in sämtlichen Jahrgängen getrennt unterrichtet.

Der mit den Berliner Gegebenheiten nicht so recht Vertraute konnte im Zuge der Kampagne schnell zu dem Eindruck gelangen, die Landesregierung habe vor drei Jahren mit „Ethik“ einen atheistischen Bekenntnisunterricht eingeführt und bewege sich dabei an der Grenze zum Verfassungsverstoß. Dabei gilt in Berlin die sogenannte Bremer Klausel. Bereits seit 1949 legt diese in Art. 141 GG fest, dass Bundesländer, in denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes andere Regelungen galten, von Art. 7 Abs. 3 GG abweichen können, Religionsunterricht dort also kein ordentliches Lehrfach ist. Als in Brandenburg nach 1990 über die Einführung eines Pflichtfachs Religion diskutiert wurde, plädierte zu Beginn selbst die evangelische Kirche für die Einführung eines überkonfessionellen Fachs Ethik, da man nicht wie in Westdeutschland von einem „volkskirchlichen Hintergrund“ ausgehen könne. Trotz des späteren Rückzugs der Kirchen hat sich inzwischen in Brandenburg das Pflichtfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) etabliert. 2

In der medialen Debatte jedoch geriet die Berliner Regelung schon mal zum abwegigen „Sonderparagraphen“ bzw. zur angeblichen „Ausnahme“. 3 Freilich war es nicht erst der rot-rote Senat, der die Bremer Klausel entdeckt und Religionsunterricht „herabgestuft“ hat. Vielmehr wird Religionsunterricht im Land Berlin seit 1946 als freiwilliges Zusatzfach angeboten (in Ostberlin bis 1967 und nach 1990). Die öffentlichen Schulen stellen dafür Räume zur Verfügung, und die Stadt finanziert die entstehenden Sach- und Personalkosten zu 90 Prozent. So gab Berlin im Jahr 2007 für die Angebote der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften knapp 48 Mio. Euro aus. Dessen ungeachtet prangt derzeit an vielen Kirchen der Stadt der bewusst irreführende Slogan „Wir glauben nicht, dass man auf Religionsunterricht verzichten kann“. Er suggeriert, ein solcher wäre abgeschafft worden und erst die geforderte „Wahlfreiheit“ könne ihn wieder etablieren.

Das ist jedoch nicht der Fall – auch wenn prinzipiell durchaus die Frage zu diskutieren wäre, ob staatlich finanzierter Bekenntnisunterricht überhaupt in die Schule gehört.

Derzeit wird das freiwillige Angebot der verschiedenen Religionsgemeinschaften und des atheistischen Humanistischen Verbandes in den Grundschulklassen 1 bis 6 rege genutzt. Mehr als 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler belegen den fakultativen Unterricht. Doch beim Übergang auf die weiterführenden Schulen mit ihrem größeren Stundenumfang und dem zeitgleichen Erreichen der Religionsmündigkeit nimmt das Interesse am Religionsunterricht rapide ab – und das nicht erst seit 2006. So besuchten ihn bereits im Jahr 2005, also vor Einführung des Fachs „Ethik“, nur noch rund 25 Prozent der Siebtklässler.

Damit jedoch alle Schülerinnen und Schüler ins Gespräch über Fragen der Ethik, Moral und Toleranz kommen, hat das Land Berlin mit dem Schuljahr 2006/2007 ein verbindliches Unterrichtsfach „Ethik“ in den Klassenstufen 7 bis 10 eingeführt. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler etwas über ihre unterschiedlichen Hintergründe erfahren, sich mit anderen kulturellen Werten auseinandersetzen, ihre eigenen reflektieren und gemeinsam darüber reden, wie sie zusammen leben wollen und welche Regeln für ein Zusammenleben nötig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat 2007 ausführlich begründet, dass ein solches Pflichtfach Ethik grundgesetzkonform ist, gehe es doch darum, „religiös gebundenen – auch unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehörenden – und religiös nicht gebundenen Schülern eine gemeinsame Wertebasis in einem gemeinsamen Unterricht zu vermitteln und dort auch die Lehren jeweils anderer Religionen und Philosophien darzustellen. 4

Wahlfreiheit? Entscheidungszwang!

Diesen gemeinsamen Unterricht will „Pro Reli“ nun abschaffen. Die Initiatoren begründen ihre Forderung nach einer Differenzierung im wertevermittelnden Unterricht je nach den „Grundüberzeugungen“ der jungen Menschen damit, dass moralische Bewertungen vom jeweiligen Menschenbild abhingen: „Nur wer seine moralischen und ethischen Vorstellungen mit seiner Vorstellung von Leben in Übereinklang zu bringen vermag, wird in seiner Haltung gefestigt sein und gleichzeitig Verständnis und Toleranz gegenüber denjenigen wahren können, die andere Grundvorstellungen haben.“ 5

Doch damit verkennt die Initiative den gravierenden Unterschied zwischen dem von ihr geforderten Bekenntnisunterricht und dem Ethikunterricht, denn es handelt sich eben nicht um zwei gleichberechtigte Fächer: „Ethik“ ist nicht wie Religion oder das vom Humanistischen Verband angebotene Fach „Lebenskunde“ Bekenntnisunterricht, sondern ein der religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichteter, allgemeinbildender Unterricht. Dieser soll die Schülerschaft zum Nachdenken über die Fragen „Wie leben wir?“ und „Ist es gut so, wie wir leben?“ führen. Er soll Vorurteile abbauen und Verständnis für andere befördern: „Hier geht es aber auch und vor allem darum, sich selbst dann noch gegenseitig zu achten, selbst dann noch miteinander zu sprechen, wenn man die anderen nicht mehr versteht, wenn man ihre Ansichten und Entscheidungen nicht teilen, nicht übernehmen kann oder will. 6

Im Ethikunterricht steht also nicht die bekenntnisgebundene Begründung von Werturteilen im Vordergrund, sondern der Austausch darüber. Hinzu kommt die Beschäftigung mit den Grundlagen des Zusammenlebens in einer zunehmend multikulturellen, multireligiösen und in weiten Teilen säkularen Gesellschaft. Angesichts dieser gesellschaftlichen Lage kann ein bekenntnisgebundener Religionsunterricht – der zudem von gerade einmal einem Viertel der Schülerinnen und Schüler besucht würde – allein nicht gewährleisten, dass diese auch wirklich etwas über andere Religionen und Weltanschauungen erfahren. Nur ein gemeinsamer Ethikunterricht kann tatsächlich dafür Sorge tragen, dass beispielsweise die wachsende Zahl junger Muslime jenseits religiöser Unterweisungen über das Juden- und Christentum informiert wird oder Konfessionslose etwas über die kulturellen und religiösen Wurzeln unserer Gesellschaft erfahren.

Aus der so einleuchtend daherkommenden Forderung nach „Wahlfreiheit“ entstünde bei einem Erfolg des Volksbegehrens also in Wirklichkeit ein Entscheidungszwang: Das gemeinsame Fach Ethik würde zum alleinigen Fach für Nichtgläubige, womit die Grundidee seiner Etablierung an den Berliner Schulen ins Gegenteil verkehrt würde – an die Stelle des Miteinander-Redens träte ein getrenntes Übereinander-Reden.

Keine Werte ohne Gott?

Und ob dann tatsächlich von einer grundsätzlich gleichen Berechtigung der Weltanschauungen und Religionen ausgegangen würde, daran lässt ein weiterer Slogan im Zuge der Kampagne zumindest zweifeln: „Keine Werte ohne Gott“ prangte es den Berlinerinnen und Berlinern entgegen. Es ist das gute Recht und wohl auch Aufgabe der Kirchen, dies in ihren Gemeinden zu vertreten und zu begründen. Doch diese These im Ringen um eine Mehrheit für den Volksentscheid einzusetzen und damit den mehr als 60 Prozent konfessionslosen Berlinerinnen und Berlinern – nur 37,5 Prozent gehören einer der großen monotheistischen Religionen an – jegliches wertorientierte Handeln implizit abzusprechen, spricht nicht gerade für eine gleichberechtigte Betrachtung anderer Religionen oder gar atheistischer Weltanschauungen. Stattdessen wird damit eine ethisch-philosophische Begründung der universell geltenden Menschenrechte ohne Rückgriff auf göttliche Verweise in toto negiert.

Aufzuzeigen, dass dies sehr wohl möglich ist und andere Menschen auch nach anderen Prinzipien und ethischen Begründungen leben, ist aber eine ureigene Aufgabe gerade der Schule: Sie soll laut Berliner Schulgesetz die Schülerinnen und Schüler befähigen, „die eigene Kultur sowie andere Kulturen kennen zu lernen und zu verstehen, Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen, zum friedlichen Zusammenleben der Kulturen durch die Entwicklung von interkultureller Kompetenz beizutragen und für das Lebensrecht und die Würde aller Menschen einzutreten“. 7

Zudem soll sie die Grundlagen für ein gemeinsames Verständnis eines demokratischen Miteinanders legen: Schülerinnen und Schüler sollen lernen, „das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.“ 8

Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Schule die einmalige Chance ergreift, die sich ihr als Ort der Begegnung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungen bietet. Aus der Reflexion über die verschiedenen Interessen und kulturellen Hintergründe soll die Erkenntnis reifen, dass für ein friedliches Zusammenleben allgemein akzeptable Handlungsnormen begründet und eine Verständigung über einen gesellschaftlichen Minimalkonsens hergestellt werden müssen.

Damit diese Verständigung gelingt, ist der Ethikunterricht zwar bekenntnisfrei, aber nicht wertneutral – die Menschenrechte und die Grundrechte des Grundgesetzes werden in ihm als notwendige Grundlage des zivilen Zusammenlebens vermittelt. Um in der Demokratie, die sich über die Teilhabe ihrer Mitglieder an gesellschaftlichen Entscheidungsverfahren begründet und nicht auf jenseitige Voraussetzungen verweist, eine tatsächlich gleichberechtigte Auseinandersetzung um moralische Fragen und das Miteinander zu gewährleisten, ist ein Dialog notwendig, in dem, wie es im Rahmenlehrplan heißt, Konsens angestrebt sowie Dissens akzeptiert und ausgehalten wird. 9

Angesichts der integrativen Herausforderungen, vor denen die bundesrepublikanische Gesellschaft steht, wäre also nicht nur zu hoffen, dass die Mehrzahl der Berlinerinnen und Berliner am 26. April für ein gemeinsames statt getrenntes Reden über moralische Normen plädiert, sondern auch zu fragen, ob das Berliner Modell nicht sogar bundesweit Schule machen könnte.

1 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 12.2.2009.
2 Ein von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, privaten Klägern und den Kirchen angestrengtes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht endete mit einem nicht unumstrittenen Vergleich, in dem nachträglich eine Abmeldemöglichkeit zugunsten des Religionsunterrichts eingeführt wurde. – Vgl. dazu Gerd Harms, LER-Unterricht in Brandenburg, in: Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden (Hg.), Eine Welt ohne Gott? Religion und Ethik in Staat, Schule und Gesellschaft, Göttingen 1999, S. 69-81.
3 „Die Welt“, 4.2.2009 und SZ, 12.2.2009.
4 BVerfG, 1 BvR 2780/06, Abs. 41.
5 www.pro-reli.de/volksbegehren/?page_id=2.
6 Vgl. Michael Bongardt, Vortrag bei der Pro-Ethik-Gründungsveranstaltung am 20.5.2008, www.proethik.info.
7 Bildungs- und Erziehungsziele im Berliner Schulgesetz, § 3 (3) 3.
8 Ebd., Präambel.
9 Vgl. auch Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.?M. 2001, ders., Dialektik der Säkularisierung, in: „Blätter“, 4/2008, S. 33-46, sowie www.christen-pro-ethik.de.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 04/2009 - Seite 13 bis 16