Tödliche Grenze

Frontex, Bootsflüchtlinge und die Menschenrechte

„Wenn wir etwa in internationalen Gewässern oder im Hoheitsgebiet von Drittstaaten patrouillieren, dann können Einwanderer dort kein Asyl beantragen. Das wird allerdings immer wieder als Verletzung der Menschenrechte ausgelegt." (Frontex-Direktor Ilkka Laitinen am 9. Februar 2009 in der Financial Times).

 

Das Massensterben von Bootsflüchtlingen vor den Toren der Europäischen Union geht unvermindert weiter. Ende März 2009 kamen knapp 300 Menschen auf dem Weg von Libyen nach Italien ums Leben - die größte Opferzahl bei einer Flüchtlingsschiffskatastrophe in der Geschichte der Europäischen Union. Mehrere Boote sind bei stürmischem Wetter gesunken. Wie viele Bootsflüchtlinge tatsächlich ertranken, werden wir nie erfahren. Die Überlebenden dieser Katastrophen landeten in libyschen Gefängnissen. Die zynische Re­aktion des rechtspopulisti­schen Innenministers Italiens, Roberto Maroni, auf diese Tragödie: Ab Mitte Mai 2009 werde dieser Fluchtweg durch gemeinsame Grenzpatrouillen mit Libyen dauerhaft geschlossen. Dies ist ein Programm, die To­desrate auf See weiter zu erhöhen. Mitte April 2009 wurden 140 Bootsflüchtlinge von einem türkischen Frachter aus der See gerettet. Doch dann wollte sie keiner haben. Sowohl Malta als auch Italien weigerten sich, die Geretteten aufzunehmen. Fünf weitere Tage verbrachten die 140 Überlebenden auf dem offenen Deck eines Frachters, oh­ne ausreichende Verpflegung und medizinische Versorgung. Dies sind nur zwei Schlaglichter zur Situation von Bootsflüchtlingen. Die Staaten Euro­pas setzen weiterhin auf eine polizeiliche bzw. militärische Lö­sung: Mehr Geld für die Abriegelung der Seewege durch die europäische Grenzschutzagen­tur Frontex und die Einbindung der Tran­sitstaaten in den Flüchtlingsabwehr um jeden Preis. Wo die europäische Grenz­schutzagentur Frontex operiert, gibt es per definitionem nur „irreguläre Migration", die gemeinsam mit „Partnerstaaten" wie Libyen, Marokko, Tune­sien, Mauretanien zu bekämpfen ist - egal, welche men­schenrechtlichen Standards diese Staaten haben. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben sich mit der Grenzschutzagentur ein Kon­trollinstrument geschaffen, das ein bedrohliches Schutzvaku­um für Flüchtlinge auf hoher See und an den europäischen Außengrenzen herstellt. Frontex agiert in einer rechtlichen Grauzone. Gegen völkerrechtswidrige Praktiken von Frontex und Grenzbeamten der Mitgliedstaaten formiert sich europa­weit Kritik. Die Kernforderung: Es dürfen an den europäischen Grenzen keine menschen­rechtsfreien Zonen fortbestehen. Auch auf hoher See und auf Schiffen von Frontex-Verbänden gelten die Schutzstan­dards der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskon­vention.

 

Fokus Seegrenzen

 

Der Haushalt der Grenzschutzagentur steigt rasant. Von etwa 35 Millionen Euro im Jahr 2007 verdoppelte er sich 2008 auf 70 Millionen. In diesem Jahr stehen 90 Millionen Euro zur Verfügung. Der Löwenanteil - et­wa 35 Millionen - soll für die Operationen an den Seegrenzen verwandt werden. Die Mitgliedstaaten, aber auch das Europaparlament verbinden die willfährigen Haushaltserhöhungen mit klaren politischen Erwartungen: Die EU-Agentur soll Flüchtlingsboote im Rahmen von gemeinsamen Frontex-Seeoperationen bereits in internationalen Gewässern und teilweise in den Territorialgewässern von Herkunfts- und Transitstaaten möglichst effizient verfolgen und zurückdrängen. Im Technokratenjargon von Frontex heißt dieses le­bensgefährdende Vorgehen: Flüchtlingsboote und ihre Insassen werden umgeleitet (diverted). Wie dieses „Umleiten" von Schiffen oder gar Paddelbooten auf See geschieht und welche Menschen davon betroffen sind, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Frontex liefert keine aussagefähigen Daten und Berichte.

 

Im Visier: Bootsflüchtlinge

 

Flüchtlinge und MigrantInnen versuchen, über drei Hauptseerouten europäisches Territorium zu erreichen: von Westafri­ka auf die Kanarischen Inseln, von Nordafrika, insbesondere Libyen, nach Malta oder Italien und von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland. Mitt­lerweile finden die gefährlichen Fluchten auf dem Seeweg zu al­len Jahreszeiten statt. 2008 landeten nach Schätzungendes UN-Flüchtlingshilfs­werks UNHCR und der Menschenrechtsorganisation Fort­ress Europe etwa 70.000 Bootsflüchtlinge an den europäischen Küsten. Die verheerende Menschenrechtsbilanz 2008: über 1.500 dokumentierte Tote vor den Toren Europas. Und die Dunkelziffer ist hoch.

 

Modell Hera

 

Im Rahmen der „Operation He­ra" waren Frontex-Schiffe im Seegebiet zwischen Westafrika und den Kanarischen Inseln im Einsatz. 2008 wurden alleine dort 5.969 Menschen abgedrängt. Frontex behauptet, die Bootsflüchtlinge seien entweder zur Umkehr überredet oder zum nächsten Hafen im Senegal oder in Mauretanien eskortiert worden. Dies ist möglich, weil die Frontex-Verbände auf Grundlage bilateraler Abkommen Spaniens mit Mauretanien und Senegal operieren können. Amnesty International berichtete 2008, was in Mauretanien mit Flüchtlingen und von Frontex „Zurückeskortierten" geschieht.1 Sie werden zu Tausenden festgenommen, misshandelt und massenhaft in die Nachbarländer Senegal oder Mali abgeschoben oder ohne Verpflegung an der Grenze ausgesetzt. Nach Ansicht von Frontex war Hera erfolgreich: 2008 erreichten nur 9.200 Bootsflüchtlinge die Kanarischen Inseln.

 

Nautilus vorerst gescheitert

 

Mit der Operation Nautilus III versuchte Frontex drei Jahre lang, die Gewässer zwischen Sizilien, Malta und Libyen unter Mitarbeit von Polizeiverbän­den aus Malta, Italien, Frankreich, Deutschland und Griechenland zu kontrollieren. Mitte September 2008 konstatierte der Frontex-Direktor La­itinen das völlige Scheitern der EU-Patrouillen an diesem Grenzabschnitt. Die verstärkte Frontex-Präsenz könne nach seiner Auffassung sogar zu einer dramatischen Zunahme der Zahl ankommender Bootsflüchtlinge geführt haben. Wegen der mangelnden Kooperationsbereit­schaft Libyens habe keiner der in Lampedusa Angekommenen zurückgeleitet werden können. Eine Vertreterin des italienischen Roten Kreuzes, die seit drei Jahren in dem Lager auf der Insel Lampedusa arbeitet, beschreibt die Erfahrungen der Flüchtlinge in Libyen folgen­dermaßen: „Etwa 85 Prozent erfuhren dort Gewalt. Schwarze werden systematisch misshandelt. Flüchtlingsfrauen berichten von Vergewaltigungen durch Polizeikräfte. Flüchtlinge berichten von Folter und dem Einsatz von Elektroschocks."

 

Am Jahresende 2008 verzeichneten Lampedusa über 30.000 und Italien insgesamt 39.000 Bootsflüchtlinge. Auf Malta kamen 2.700 (2007: 613) an.

 

Poseidon - Warschau schweigt

 

Für viele Schutzsuchende - vor allem aus dem Irak, Afghanistan und Somalia - führt der Fluchtweg nach Europa über die Ägäis. In diesem Seegebiet agieren seit 2007 verstärkt auch Frontexverbände im Rahmen der Operation Poseidon. PRO ASYL und andere Menschenrechtsorganisationen dokumentieren völkerrechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingsbooten und Misshandlungen durch die griechische Küs­tenwache seit Sommer 2007 fortlaufend. Zwangsläufig stellt sich die Frage, inwieweit Frontex-Einsatzkräfte direkt oder indirekt an den völkerrechtswi­drigen Zurückweisungen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Doch die Frontexzentrale in Warschau hält sich zu den Einsätzen in der Ägäis bemerkenswert bedeckt. Obwohl nachweislich zahlreiche JournalistInnen in der Zentrale angefragt haben, ist die offizielle Begründung von Frontex, dass sie wegen des fehlenden Medieninteresses noch keine Zahlen und Fakten zu Po­seidon 2008 veröffentlicht hätten. Auf Nachfragen spricht Frontex von 11.000 gesichteten Bootsflüchtlingen. Ungefähr 600 Personen wären auf Grund der Abschreckung (deterrence) durch die bloße Präsenz der Frontexverbände zur türkischen Küste umgekehrt. Keiner von diesen Bootsflüchtlingen habe ein Schutzbegehren geäußert. Über die genaue Anzahl der um­gekehrten Boote könne Frontex leider keine Angaben machen. Zur Frage der „Umleitungen" (also physischem Abdrängen) verwies Frontex an die griechischen Behörden. Eine Journalistin hat bei dem griechischen Koordinator von Frontex in Athen nachgefragt. Dieser stellte nur lapidar fest, er könne keine Daten über „di­versions" (Umleitungen) und „interceptions" (Aufgriffe) geben, weil er keine habe. Und außerdem sei beides doch das Gleiche. Konfrontiert mit den Frontex-Zahlen, meinte er, es sei nicht möglich, diese Zahlen zu bestätigen. Während der Po­seidon 2008 seien 22.500 Menschen verhaftet worden. Nach Angaben des UNHCR Griechenland wurden allein auf der Insel Lesbos 13.252 Bootsflüchtlinge inhaftiert. 3.649 der bis zu drei Monaten inhaftierten Neuankommenden waren Minderjährige, ein großer Teil unbegleitete Kinder.

 

Frontex entdeckt die Menschenrechte

 

Im Frontex-Evaluierungsbericht vom 15. Januar 2009 heißt es, der Einfluss und der Druck humanitärer Organisationen habe die Menschenrechtsfrage auf die Agenda von Frontex gesetzt. Die stärker werdende Kritik in Bezug auf etwaige Men­schenrechtsverletzungen bei gemeinsamen Operationen stelle die Agentur vor neue Herausforderungen hinsichtlich der Kommunikation. In den Seege­bieten, wo es keine Rücküber­nahmeabkommen mit Drittstaa­ten gebe, komme es im Zuge der verstärkten Frontex-Patrouillen zu einem Anstieg der Einreiseversuche. Der bemerkenswerte Schluss des Evaluationsberichtes: Die MigrantInnen würden erkennen, dass sie eine größere Chance besitzen, die gefährliche Reise zu überleben. Der Gefahr des „Refoulement", also der Zurückweisung, seien sie mangels Kooperation der Tran­sitstaaten nicht ausgesetzt. Dies habe positive Auswirkungen auf die Menschenrechte der Betroffenen. Der Umkehrschluss wird weder in diesem Evaluierungsbericht noch von den politisch Verantwortlichen in Europa gezogen. Wie ist es mit den Menschenrechten bestellt, wenn die Frontex-Einsätze wie geplant verlaufen?

 

Europaparlament: Reparaturmaßnahmen am Konstruktionsfehler?

 

Der Innenausschuss des Europäischen Parlaments behandelt in einem Bericht vom 10. März 2009 zumindest vorsichtig einen (!) Konstruktionsfehler bei der Schaffung von Frontex. Das Mandat der Agentur müsse überarbeitet und „Schutz- und Menschenrechtsbelange" unbedingt in die Mission von Frontex integriert werden. Die Grenzüberwachung solle zukünftig außerdem detaillierte Berichte über die abgefangenen Personen und ihre einzelnen Schicksale vorlegen. Der konservative Europaabge­ordnete Hubert Pirker sieht in diesem Beschluss die Gefahr, „dass Frontex von einer Grenz­schutzbehörde zu einer Asylhilfebehörde umfunktioniert werden solle"(Presseerklärung vom 10. März 2009). Was fehlt, ist die Klarstellung, dass alle Versuche von Mitgliedsstaaten und Frontex-Verbänden, Flüchtlingsboote abzudrängen, beendet werden müssen. Avisierte Polizeikoopera­tionen und working agreements von Frontex mit Drittstaaten wie Libyen sind zu stoppen. Schutzsuchende haben das Recht, in einen europäischen Hafen gebracht zu werden und auf ein faires Asylverfahren. Dass die EU-Kommission und das Europaparlament gebets­mühlenhaft den Wunsch nach gemeinsamen Patrouillen mit den nordafrikanischen Staaten äußern, macht deutlich, dass selbst die beiden europäischen Institutionen einen moralischen Doppelstandard pflegen.

 

Karl Kopp

 

Anmerkung: 1 Amnesty International: „Mauretanien - Niemand will etwas mit uns zu tun haben - Verhaftungen und Massenabschiebungen von Migran­ten und Flüchtlingen", Juli 2008

 

Anm. der Graswurzelrevolution-Redaktion: Karl Kopp ist Sozialwissen­schaftler, Europareferent von Pro Asyl und Vorstandsmitglied des Europäischen Flüchtlingsra­tes ECRE.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 339, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 38. Jahrgang, Mai 2009, www.graswurzel.net