Lateinamerika: Linke Politik gegen neoliberale Hegemonie

Schlaglichter einer aktuellen Debatte - eine Literaturschau

Die lateinamerikanische Linke macht wieder von sich reden. Den jüngsten Coup landete der Anführer der indianischen Kokabauern Boliviens, Evo Morales, der 100 Tage nach Amtseinführung als Präsident

... sein zentrales Wahlversprechen umsetzte und am symbolträchtigen 1. Mai die Gasindustrie Boliviens verstaatlichte. Während sich die konkret betroffenen internationalen Gas- und Ölmultis in ihren Stellungnahmen recht bedeckt hielten, heulten die Lohnschreiber und Apologeten des Neoliberalismus auf. Der Tenor ähnelte sich in den Massenmedien der nördlichen Hemisphäre: "Illustration populistischer Politik" (New York Times), "infantile Geste, die das internationale Vertrauen untergräbt" (Times), "ideologische Entscheidung" (El País) oder "theatralische Aktion" (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Auf der Südhalbkugel waren die Stellungnahmen vorsichtiger. So sprach etwa der südafrikanische Guardian von einem "gewagten Spiel". Am Wochenende davor hatten Bolivien, Kuba und Venezuela konkrete Vereinbarungen über eine eigene Handelsallianz unterzeichnet, welche die Förderung der ökonomischen und sozialen Entwicklung aller Beteiligten zum Ziel hat. Damit nimmt das venezolanische Gegenprojekt zur US-dominierten Freihandelszone ALCA langsam Gestalt an. Bislang wird die "Bolivarianische Alternative für Amerika" (ALBA) von Bolivien, Kuba und Venezuela getragen. Nach zwei Dekaden marktdemokratischer Einheitspolitik auf Regierungsebene zeichnen sich in Lateinamerika neue Optionen oder zumindest einzelne Elemente davon ab, wie eine Politik nach dem Neoliberalismus aussehen könnte. Kommentare und Hintergrundartikel in großen Printmedien (u.a. Zeit, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau), Rundfunkfeatures wie unlängst im Deutschlandfunk, Themenschwerpunkte in linken und alternativen Zeitungen (Jungle World, iz3w) belegen, dass die Thematik weit über die Lateinamerika-Szene hinaus an Interesse gewonnen hat. Wieder einmal gehen von Lateinamerika Impulse für die hiesige linke Debatte und Politik aus. Anders als in den 1960er Jahren (Kuba; Che Guevara) oder in den 1980er Jahren (Mittelamerika) geht es nicht um Revolution, es geht auch nicht um Sozialismus bzw. die (Un-)Möglichkeit des friedlichen Übergangs dahin (Chile unter Allende zu Beginn der 1970er Jahre). Immerhin geht es aber schon um mehr als die bloße Kritik am bestehenden ungerechten Ausbeutungssystem. Wie dieses "Mehr" jedoch genau aussieht und wie es zu beurteilen ist, darüber gibt es heftige Diskussionen. Auf jeden Fall sind die großen Fragen wieder Gegenstand politischer Debatten, und zwar nicht nur in Oppositionsbewegungen oder spezifischen gesellschaftlichen Interessengruppen, sondern auch in den Spitzengremien des Staates.

Lateinamerikanische Impulse für die hiesige Debatte

Das ist als erstes und wichtiges Ergebnis der jüngsten Entwicklungen festzuhalten, egal wie man sie nun im Einzelfall beurteilen mag. Die Rede von den objektiven ökonomischen Sachzwängen, denen sich jede gesellschaftliche Regung bei Strafe des Untergangs im internationalen Wettbewerb zu unterwerfen habe, wird mittlerweile in Lateinamerika von breiten gesellschaftlichen Schichten abgelehnt. Es wird wieder nach politischen und sozialen Alternativen gesucht, und die Regierungen werden daran gemessen, ob sie dabei Zwischenergebnisse vorweisen können oder nicht. In einigen aktuellen Fällen hat fortschrittliches Regierungshandeln die Parameter für die weitere Politik ein gutes Stück vom neoliberalen Projekt wegbewegt. Es seien nur die einschneidendsten benannt: 1) die ursprünglich für 2005 geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA) ist bisher nicht in Kraft getreten, weil es in Südamerika auf verschiedenen Ebenen heftige Widersprüche gab; 2) ebenso 2005 hat Argentinien in bislang beispielloser Weise durch ein einseitig vorangetriebenes Umschuldungsabkommen die Verpflichtungen gegenüber internationalen Privatgläubigern auf einen Schlag um über 60 Mrd. US-Dollar reduzieren können, und zwar ohne dafür mit einem Wirtschafts- und Kreditboykott bestraft zu werden! 3) Venezuelas Regierung unter Präsident Chávez nutzt die Windfallprofite im Ölgeschäft, um lateinamerikanische Kooperationsprojekte schwerpunktmäßig im Energiebereich (Petrocaribe; Petrosur) voranzutreiben; 4) Boliviens neuer Präsident verstaatlicht die Gasindustrie und kündigt weitere Verstaatlichungen der Minen sowie in der Forstwirtschaft an. Ich möchte nachfolgend vier aktuelle deutschsprachige Publikationen vorstellen, die sich von verschiedenen Perspektiven aus den neuen Realitäten Lateinamerikas annähern. Zu nennen sind ein Themenheft des iz3w (Nr. 292, April/Mai 2006), die Zeitschrift PROKLA 142 "Soziale Kämpfe in Lateinamerika" (März 2006), das Jahrbuch Lateinamerika 29 "Neue Optionen lateinamerikanischer Politik" (2005) sowie das von Dieter Boris, Stefan Schmalz und Anne Tittor herausgegebene Buch "Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie" (Hamburg 2005). Bei allen Bänden handelt es sich um Sammelbände mit einer Reihe von Einzelaufsätzen und Länderbeiträgen, die durch Einführungen bzw. abschließende Reflexionen eingebettet werden. Alle vier Publikationen sind auch für Nicht-Experten gut lesbar, da die Artikel klar, prägnant und auf die angerissene politische Debatte hin geschrieben sind. Die Beiträge bewegen sich durchweg auf hohem fachlichen Niveau und verzichten auf effekthascherische Polemiken.

Statt Sozialismus: graduelle Verbesserungen

Wer eine sehr geraffte und dennoch sachlich fundierte Zusammenfassung der Debatte haben will, greife am besten zum Themenheft des iz3w. Wem es darüber hinaus auch um theoretische Fragestellungen wie jene um die Hegemonie des Neoliberalismus mit all den theoretischen, ideologischen und politischen Implikationen geht, sollte den Band von Boris/Schmalz/Tittor zur Hand nehmen. Das PROKLA-Heft legt seinen Schwerpunkt auf ökonomische Fragestellungen, und das Jahrbuch Lateinamerika 29 besticht durch seine historische Einbettung der Diskussion sowie ausführliche Grundsatz- und Länderartikel, welche - mit Ausnahme Kubas und Chiles - eine sehr fundierte Zusammenfassung über die Politik aller bis Ende 2005 zur Debatte stehenden progressiven Regierungen anbieten. Die aktuelle Welle linker, national-popularer und progressiver Wahlsiege hat ihr Zentrum in den bevölkerungs- und rohstoffreichen sowie wirtschaftsstarken Ländern Südamerikas. Die neuen Regierungen kamen ins Amt, weil sie eine Korrektur der neoliberalen Rezepte aus den letzten zwei Dekaden versprachen. Trotz aller Unterschiede bezüglich programmatischer Grundlagen, den Regierungsallianzen bzw. den jeweiligen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen ähneln sie sich doch insofern, als alle neuen Regimes nicht mehr als einen graduellen Umbau des bestehenden Wirtschaftssystems versprachen. Inwieweit sie ihre Versprechen einhalten, die Spielräume ausschöpfen oder sogar ausweiten können, muss im Einzelnen genau analysiert werden. Auf jeden Fall stand ein Systemwechsel, Sozialismus oder gar Revolution von vornherein nicht auf der Agenda. Hierin unterscheiden sich die von breiten Mehrheiten gewählten Präsidenten in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Uruguay und Venezuela prinzipiell von den Protagonisten der letzten großen linken Welle in Lateinamerika.

Genaue Analyse, unaufgeregt und deshalb spannend

Den nationalen Befreiungsbewegungen Mittelamerikas, den kleinsten und wirtschaftlich unbedeutendsten Ländern des Subkontinents, ging es in den 1980er Jahren nicht um Gradualismus, sondern um die Revolution. Nach eineinhalb Dekaden größter Anstrengungen, langen Kriegen, zehntausenden Toten, Millionen Flüchtlingen und der partiellen Zerstörung der Ökonomien hatten die ursprünglichen Strategien in die Sackgasse geführt, weil das Kräfteverhältnis letztlich doch nicht zu den eigenen Gunsten gekippt werden konnte. Im Zuge der Friedensverhandlungen mit den gegenrevolutionären Kräften verwandelten sich die Revolutionsbewegungen in mehr oder weniger linke bzw. mehr oder weniger starke Reformparteien. Heute sind die ehemaligen nationalen Befreiungsbewegungen Mittelamerikas von ihrer Grundorientierung her mit den Reformkräften Südamerika vergleichbar. Dass die US-Außenpolitik die im kommenden Herbst mögliche Rückkehr Daniel Ortegas ins nicaraguanische Präsidentenamt mit großem rhetorischen Geballer abzuwehren versucht, sagt weniger über Ortega, der sich längst zum Sozius der lokalen Eliten gewandelt hat, sondern mehr über die ideologische Befangenheit der US-Außenpolitik aus, die es nicht schafft, vor lauter Reflexen auf vermeintlich rote Tücher banale Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. In den erwähnten Publikationen werden in Einzelartikeln die Grenzen der progressiven Regierungen akribisch beleuchtet, vor allem der PT-Regierung Lulas, mit dessen Amtsantritt in Brasilien die größten Erwartungen verbunden gewesen waren und dessen orthodox neoliberale Wirtschaftspolitik bei der sozialistischen Linken am meisten Enttäuschung hervorgerufen hat. Trotz aller Ernüchterung und trotz aller Kritik halten sich die Autoren jedoch mit apodiktischen Urteilen zurück. Der Tenor reicht von verhaltener Unterstützung des "kleineren Übels", wie sie etwa Bartelt in seinem materialreichen Artikel "Szenen einer Ehe. Die Regierung Lula in Brasilien und ihre linken Kritiker" (Lateinamerika Jahrbuch 29) favorisiert, über eine kritische Infragestellung des Kurses, wie sie im Aufsatz "Brasilien: politische Wende oder Fortsetzung neoliberaler Politik?" im Sammelband von Boris/Schmalz/Tittor zu finden ist. Diesen und anderen Artikeln ist gemeinsam, dass sie sehr genau versuchen, "strukturell bedingte Schwierigkeiten" (PROKLA) in Erwägung zu ziehen. Nicht in exkulpierender Absicht, vielmehr mit dem Ansinnen, "angesichts intern und international abwesender Bedingungen" (Boris/Schmalz/Tittor) die Spielräume auszuloten, die "schlimmsten Auswüchse des Neoliberalismus zu beseitigen", was die PROKLA in ihrer Einleitung als Ziel der neuen Mehrheiten angibt. Das ist viel weniger, als "eigentlich" notwendig wäre, würde aber für die "Mehrheit der Bevölkerung einen enormen Fortschritt bedeuten", so die PROKLA. Diese Ambivalenz zwischen dem, was man "eigentlich will", und dem, was unter den gegebenen Bedingungen als möglich gilt, durchzieht alle genannten Publikationen. Es gibt richtige Perlen darunter, wie etwa den Artikel von Anne Tittor zum Thema "Soziale Kämpfe gegen die Privatisierung in Lateinamerika" im Buch von Boris/Schmalz/Tittor. Hier macht sich die Autorin die Mühe, die wichtigsten Bewegungen darzustellen, ihre Gemeinsamkeiten zu erfassen und ihre Bedeutung zu diskutieren. Aus ganz anderen Gründen bemerkenswert ist der Artikel "Venezuelas bolivarianischer Prozess" aus der Feder Raul Zeliks in PROKLA. Zelik schafft es, bei grundsätzlich positiver Bezugnahme auf die sozialen Bewegungen Venezuelas den bolivarianischen Prozess, so wie er ihn interpretiert, dessen Widersprüchlichkeiten und Begrenzungen herauszuarbeiten. Klaus Meschkat, emeritierter Hochschullehrer und einer der wichtigsten linken Lateinamerikanisten dieses Landes, packt das Thema im Jahrbuch Lateinamerika 29 unter dem Titel "Wie halten wir es mit Hugo Chávez" von der anderen, autoritär-populistischen Staatsspitze des Prozesses her an. Auch er verzichtet auf einfache Wahr- und Weisheiten. Im Spannungsfeld dieser beiden Autoren wäre meiner Ansicht nach die linke Venezuela-Debatte zu verorten. Was natürlich eine Wunschvorstellung ist. Denn im wirklichen linken Leben denunziert xy in der Jungle World Chávez als Antisemiten, worauf yz meint, na ja, so eindeutig sei das vielleicht doch nicht, aber sein Nationalismus und Antiamerikanismus etc. pp. So weit, so uninteressant. Wer an einer linken Debatte über Lateinamerika interessiert ist, die ohne den inflationären Gebrauch der hier zu Lande derzeit so wichtigen Schlagworte wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus auskommt, greife zu den genannten Veröffentlichungen. Albert Sterr Jahrbuch Lateinamerika 29 (Hg.): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik. Münster 2005. 201 Seiten, 24,90 EUR PROKLA Nr. 142: Soziale Kämpfe in Lateinamerika. 148 Seiten, 10,50 EUR iz3w Nr. 292: Einfach unwiderstehlich - Linke in Lateinamerika. 52 Seiten, 4 EUR Dieter Boris/Stefan Schmalz/Anne Tittor (Hg.): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie? Hamburg 2005. 284 Seiten 22,80 EUR. aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 506/19.5.2006