Ossi darf nie wieder inhaftiert werden!
Der türkische Graswurzelrevolutionär Osman Murat Ülke (Ossi) ist wieder akut von Inhaftierung bedroht.
Aufgrund seiner Kriegsdienstverweigerung war er zwischen 1996 und 1999 bereits acht Mal verurteilt worden und insgesamt 701 Tage im Gefängnis.
Seitdem lebt er unter schwierigen Bedingungen in der türkischen Hafenstadt Izmir. Immer mit der Drohung jederzeit wieder inhaftiert zu werden.
Nun wurde er aufgefordert, eine "Reststrafe von 17 Monaten und 15 Tagen" anzutreten. Er solle sich bei der Militärstaatsanwaltschaft melden.
Auf Nachfrage seiner Anwältin hat sich herausgestellt, dass seine früheren Haftstrafen zusammengezählt wurden, ohne dass das, was er schon abgesessen hat, abgezogen wurde.
Nicht zuletzt um die enorme Macht des Militärs und den zuletzt vor wenigen Monaten drohenden Militärputsch zu verhindern, ist die gerade mit großer Mehrheit wiedergewählte, islamisch-konservative Regierungspartei AKP bestrebt die Türkei zu einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union zu machen.
Mit dem neuen Haftbefehl gegen Ossi stellt sich die türkische Militärjustiz gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in dem Ossis Leben im Geheimen als "ziviler Tod" gegeißelt wurde. Sie sabotiert somit die Bestrebungen der Regierung von Ministerpräsident Erdogan (AKP) nach EU-Mitgliedschaft.
"Unserer Rechnung von 1999 zufolge, als ich freigelassen wurde - und auf diese Zeit bezieht sich diese Haftstrafe auch -, müsste ich dem Staat drei bis sieben Tage Haft schuldig sein. Aber nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist auch das nicht mehr gültig", so Ossi.
In der Türkei gibt es nach wie vor keine gesetzliche Regelung zur Kriegsdienstverweigerung. Ossi und andere Kriegsdienstverweigerer werden als Deserteure behandelt.
Das Militär akzeptiert die politischen Entscheidungen der AKP-Regierung nicht, und erst recht nicht solche, bei denen es ums Militär geht.
"Es könnte sehr gut sein, dass das Militär, allein um der zivilen Regierung im Prozess des EU-Beitritts Probleme zu bereiten, solch eine Inhaftierung anordnet", so Ossis Befürchtung.
Kriegsdienstverweigerung in der Türkei
Zum ersten Mal mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung befasst hat sich Ossi 1990 in der Uni. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden ersten Kriegsdienstverweigerer in der Türkei ihre Verweigerung erklärt.
Eine Sensation in einem Land, das nach den blutigen Militärputschen 1960, 1971 und 1980 de facto noch immer vom Militär dominiert wird. Den Begriff "Kriegsdienstverweigerer" gibt es im Türkischen nicht.
Ossi hat die ersten 15 Lebensjahre in seinem Geburtsland Deutschland gelebt, bevor ihn seine Eltern 1985 zwangsweise in die Türkei schickten.
1990, als Zwanzigjähriger sammelte er Unterschriften für die ersten Verweigerer. Zwei Jahre später gründete er gemeinsam mit Freundinnen und Freunden in Izmir den ersten und - bis zu seiner Auflösung 2002 - einzigen legalen Verein für Kriegsdienstverweigerer und KriegsgegnerInnen.
"Ich habe dann meine eigene Kriegsdienstverweigerung erst einmal zurückgestellt, weil wir Stück für Stück das Thema durch neue Kriegsdienstverweigerungen aktuell auf der Tagesordnung halten wollten", so Ossi im August 2007.
Nach seiner öffentlichen Erklärung kam es 1995 zu einem Prozess vor dem Militärgericht in Ankara, wo er wegen "Entfremdung des Volkes vom Militär" angeklagt war. Zwar wurde er damals freigesprochen, aber dann direkt aus dem Gefängnis zum Rekrutierungsbüro gebracht.
"Danach habe ich dann die Militärpapiere, die mir gegeben wurden, am 1. September, dem Weltfriedenstag, verbrannt und meine Kriegsdienstverweigerung erklärt. Nach 1995 erwarteten wir eigentlich eine sofortige Verhaftung, aber die Militärstaatsanwaltschaft hat dann noch über ein Jahr auf sich warten lassen."
Vom Faschisten zum Pazifisten: Mehmet Bal
Im Oktober 1996 wurde Ossi verhaftet und mit Unterbrechungen bis März 1999 inhaftiert.
Im Gefängnis teilte er sich die Zelle u.a. mit Mehmet Bal, der Mitglied der faschistischen Grauen Wölfe (MHP) und wegen Mordes inhaftiert war.
Ossi: "Er war der Zellenführer, weil er schon am längsten da war. Und die Zelle wurde, bevor ich ankam, vorgewarnt, dass jetzt ein Landesverräter kommt. Deswegen waren die alle schon darauf eingestellt und haben sich dann entschlossen, dass sie in ein Embargo treten, dass niemand mehr mit mir spricht. So wurde ich für einen Monat in der Zelle ausgegrenzt. Aber als ich dann freigelassen wurde und dann selbst freiwillig wieder vor das Militärgericht trat und dadurch natürlich wieder inhaftiert wurde, hatte Mehmet das Staunen, also, warum ich freiwillig wieder zurück komme. Dann haben wir angefangen uns viel zu streiten. Das Embargo gegen mich wurde aufgehoben. Und nach einer Weile hat er dann angefangen, die Bücher, die meine Freunde mir mitgebracht haben, zu lesen, bis bei ihm dann irgendwann das ganze Weltbild zusammengefallen ist. Wir haben über 1,5 Jahre gemeinsam verbracht im Gefängnis. Er wurde dann mehr und mehr zu einem Libertären. Einige Jahre, nachdem ich dann 1999 freikam, hat er seine Strafe abgesessen und wurde zurück in seine Kaserne geschickt, wo er dann seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hat."
Wie Ossi kann sein Freund Mehmet Bal jederzeit wieder verhaftet und eingesperrt werden.
60 KriegsdienstverweigererInnen
Es gibt in der Türkei etwa 60 Menschen, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben, auch wenn sie legal nicht definiert ist. Davon sind elf Frauen, die die Kriegsdienstverweigerung als eine grundsätzliche Ablehnung der Militarisierung aufgegriffen haben.
Über diese 60 Personen hinaus gibt es einen weiteren Kreis von aktiven AntimilitaristInnen.
Aber es sind diese selbst deklarierten Kriegsdienstverweigerer, die hauptsächlich von Inhaftierung betroffen oder diesem Risiko ausgesetzt sind.
Nach knapp acht Monaten Haft wurde der Kriegsdienstverweigerer Halil Savda am 28. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Ein Erfolg der internationalen Solidaritätskampagne - auch wenn zu befürchten ist, dass dieser nur kurzfristig ist.
In der Türkei gibt es nach wie vor kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Verweigerer können theoretisch lebenslänglich immer wieder inhaftiert werden.
Deshalb haben sich die türkischen AntimilitaristInnen 1997, als Ossi noch im Gefängnis saß, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, mit zwei Anliegen: einmal die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung. Zweitens: Ein Ende der wiederholten Kriminalisierung für ein und dieselbe "Tat".
Die Mühlen der EU-Bürokratie mahlen langsam. Erst neun Jahre später, im Januar 2006, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verurteilt.
Ossi: "Es wurde entschieden, dass die wiederholte Bestrafung so nicht gehen kann und dass sie deshalb die Gewissensentscheidung und die Kriegsdienstverweigerung gar nicht erst diskutieren wollen, weil der legale Rahmen so nicht stimmt und dass das aufhören muss. Das heißt, dass die Türkei seit 2006 unter der Auflage ist mich legalisieren zu müssen. Und das hat die Türkei dem Ministerrat des Europarates im Juni 2007 auch zugesagt. Aber kurz nach dieser Zusage habe ich von der neuen Vorladung ins Gefängnis erfahren."
Im Juli 2007, kurz bevor bekannt wurde, dass gegen Ossi ein neuer Haftbefehl ausgestellt wurde, haben wir ihn und seine Familie in Izmir besucht.
Ossis aktuelle Situation
Zwar ist Ossi seit 1999 nicht mehr im Gefängnis, als Illegalisierter kann er aber immer nur durch Nebengassen gehen, immer mit der Angst im Nacken einem der unzähligen Kontrollposten von Militär und Polizei in die Arme zu laufen. Die Türkei ist eine Militärdemokratur und ein Polizeistaat, in dem ständig und überall Kontrollen stattfinden.
Ossis Pass ist vor acht Jahren abgelaufen.
"Da wo ich wohne, bin ich nicht eingetragen, womit ich abwende, dass ich sozusagen von ganz normalen Polizeibeamten inhaftiert werde. Ich will ja gar nicht fliehen, als Kriegsdienstverweigerer ist meine Tat offen und ich stehe dazu. Wenn man mich finden will, dann kann man das auch. Ich will aber nicht, dass das zufällig passiert. Deswegen bin ich nirgends eingetragen, habe kein Konto, bin nicht versichert, kann keine offizielle Arbeit aufnehmen. Ich bin nicht eingetragen als der Vater meines Sohnes."
Immer wieder setzen Gendarmen und Polizisten Ossis herzkranken Vater unter Druck und fragen, wo der fahnenflüchtige Sohn sich "versteckt".
"Wobei das nur Schikane ist. Eigentlich bin ich im Menschenrechtsbereich sehr aktiv und deswegen ist es kein Geheimnis wo ich bin", so Ossi.
Bislang war es relativ einfach, sich mit Ossi zu treffen. Der türkische Staat hat es vermieden ihn wieder zu inhaftieren, obwohl es einen Haftbefehl gegen ihn gibt. So soll wohl verhindert werden, dass das Thema Kriegsdienstverweigerung wieder öffentlich diskutiert wird.
"Es war bisher strategisch nicht sinnvoll mich zu inhaftieren."
Zu befürchten ist, dass sich das durch den neuen Haftbefehl geändert hat.
Ossis Situation ist jetzt noch unerträglicher als zuvor. Darunter leiden auch seine Liebsten: sein vierjähriger Sohn und seine Lebensgefährtin.
Ossi fordert die Aufhebung aller Prozesse gegen Kriegsdienstverweigerer, die Re-Legalisierung aller Kriegsdienstverweigerer und die Neuregelung der Kriegsdienstverweigerung.
Er ist ein gewaltfreier Anarchist. Wie fast alle Kriegsdienstverweigerer in der Türkei versteht er sich als Totalen Kriegsdienstverweigerer, der Zwangsdienste grundsätzlich ablehnt.
Ossi: "Aber wir sind uns natürlich darüber klar, dass die Totale Kriegsdienstverweigerung noch nicht durchgesetzt werden kann. Deshalb muss es eine Mindestforderung sein, wenn es ein Gesetz zu Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst gibt, dass der Zivildienst so organisiert wird, dass er keinen bestrafenden Charakter hat, dass man sich zumindest an die europäischen Standards hält."
Es reicht!
Ossis Fall hat eine weltweite Ausstrahlung. Die IPPNW haben ihm den Clara-Immerwahr-Preis verliehen (die GWR berichtete). Durch sein Beispiel, seine Standhaftigkeit, durch den großen Mut, den er beweist, ist er ein Vorbild.
Es ist eine Aufgabe aller humanistisch und friedensbewegten Menschen weltweit, sich dafür einzusetzen, dass Ossi auf keinen Fall wieder inhaftiert wird.
Er darf keinen einzigen Tag mehr ins Gefängnis! Durch weltweiten öffentlichen Druck muss von unten durchgesetzt werden, dass er als freier Mensch durch die Weltgeschichte gehen und ein menschenwürdiges Leben führen kann.
Die jetzt drohende Haftstrafe muss abgewendet werden. Das geht, wenn eine weltweite Öffentlichkeit hergestellt wird, wenn Druck auf die Türkei ausgeübt wird.
Dafür müssen wir uns engagieren.
Bernd Drücke
Anmerkungen / Informationen:
Eine Internationale Petition, um Osman Murat Ülke vor erneuter Inhaftierung im Militärgefängnis zu bewahren findet Ihr unter:
http://www.graswurzel.net/news/petition-ossi.shtml
Ein aktuelles Radiointerview mit Ossi:
http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=18263
http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=18264
Weitere Informationen:
www.graswurzel.net
www.connection-ev.de
www.ippnw.de
www.dfg-vk.de
www.wri-irg.org
www.savaskarsitlari.org (Türkisch)
Buchbeitrag:
"Otkökü" - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Interview mit dem Totalen Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke (Izmir), in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-87956-307-1, S. 182-200
Artikel aus Graswurzelrevolution, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Nr. 321, 36. Jahrgang, September 2007, www.graswurzel.net