Editorial
"Für einen Aufenthalt für die Dauer von bis zu einem Monat", so das Auswärtige Amt, ist "kein Einreisevisum" notwendig. Und an anderer Stelle: "Seit Juli 2001 werden Ausländer nur noch bei der Ein- und Ausreise an der Grenze registriert. Eine Registrierung bei der zuständigen Meldebehörde wird erst bei einem länger als sechs Monate dauernden Aufenthalt notwendig."
Visa-Affäre? Nein, die zitierten Regelungen gelten für deutsche Reisende. Nach Albanien geht es ohne Visum, die Ukraine vergibt es ohne Komplikationen. Ähnliches gilt für Thailand (bei einer Aufenthaltsdauer "bis 30 Tagen ist für deutsche Staatsangehörige kein Visum erforderlich"), Südafrika ("Deutsche Staatsangehörige benötigen zur Einreise und einem Aufenthalt bis zu 90 Tagen kein Visum") oder Weißrussland ("Am Flughafen in Minsk können seit 01.01.2005 Sofort-Visa für Touristen und Geschäftsreisende erteilt werden."). Für Deutsche ist die unkomplizierte und unbürokratische Einreise in die meisten Staaten dieser Welt selbstverständlich. Wenn ein Visum benötigt wird, gilt das schon als Zumutung, wenn die Einreise verweigert wird, als Skandal.
Umgekehrt wurde die Einreise nach Deutschland und EU-Europa in den letzten Jahren trotz allem Gerede von Globalisierung und Einer Welt immer wieder erschwert. Wer schon einmal versucht hat, einen Gast aus Indien oder eine Referentin aus Botswana einzuladen, weiß, welche Steine die deutsche Bürokratie den Reisenden in den Weg zu legen bereit ist.
"Aus gutem Grund", würden all diejenigen dazu sagen, die die Visa-Vergabe an der deutschen Botschaft in Kiew zur Affäre machten und den Rücktritt von Außenminister Joseph Fischer fordern. Nordrhein-Westfalens CDU-Chef Jürgen Rüttgers hatte die liberale Visa-Vergabepraxis eine "massenhafte Menschenrechtsverletzung" genannt, zu der Politiker Beihilfe geleistet hätten und die nach 1945 ohne Vergleich sei. Und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber sagte, Fischer und Führungsmitglieder der Grünen hätten das Ziel einer "Multi-Kulti-Gesellschaft" höher bewertet als die von ihnen so oft beschworenen Menschenrechte. Sie hätten Menschenhandel, Schleuserkriminalität, Schwarzarbeit und Zwangsprostitution ermöglicht.
Fischer entgegnete zunächst, die Union könne "meinen Rücktritt fordern", solle aber aufhören, die Ukrainer zu kriminalisieren: "Das ist moralisch unanständig." Als sein Rücktritt wirklich gefordert wurde, entschuldigte sich Fischer dann aber doch. Diese Entschuldigung, dieses Einknicken vor einer rassistischen Kampagne seitens der Opposition und der meisten Medien dürfte freilich der einzige echte Fehler gewesen sein, der dem Außenminister in dieser Sache (von anderen Dingen soll hier nicht die Rede sein) unterlaufen ist. Für den Grundsatz des so genannten Volmer-Erlasses - "im Zweifel für die Reisefreiheit" - sollte er sich jedenfalls ebenso wenig entschuldigen wie für den Anstieg der gewährten Visa.
Zumal die Vorwürfe von konservativer Seite auch von der Faktenlage her aus der Luft gegriffen sind. Eine am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zum Thema "Menschenhandel" forschende Arbeitsgruppe stellte nämlich fest, dass die Zahl ukrainischer Opfer unter den Zwangsprostituierten im fraglichen Zeitraum sogar abgenommen habe. Für den Bereich der Kriminalität gilt ähnliches. Die Quote ukrainischer Tatverdächtiger, so zitierte kürzlich die Frankfurter Rundschau einen Kriminologen, sei seit 1999 nahezu unverändert und zum Teil, wie beim Drogenhandel, mit 0,1 Prozent "geradezu sensationell niedrig". Und selbst die von der CDU herangezogenen Zahlen zum Anstieg der Schwarzarbeit lassen sich nicht halten. Der Leiter des Tübinger Forschungsinstituts, auf das sich die Union bezieht, wehrte sich gegen seine Instrumentalisierung mit den Worten, die Behauptung der CDU, durch illegal beschäftigte Ukrainer sei ein Milliardenschaden entstanden, sei "jenseits von Gut und Böse".
Es ist offensichtlich: Jede Vereinfachung von Reiseformalitäten und von Aufenthaltsrecht ist ein Schritt zur Entkriminalisierung. Die Möglichkeit, mit Visum ganz legal über den ganz offiziellen Weg nach Deutschland einreisen zu können, verhindert und stört gerade das Geschäft der so genannten Schlepper. Ein legaler Aufenthaltsstatus stärkt die Möglichkeiten beispielsweise von (Zwangs-) Prostituierten, sich kriminellen Strukturen zu entziehen.
Und wenn diese Liberalisierung tatsächlich auch von Leuten genutzt wurde, um ukrainische Frauen nach Deutschland zu bringen und zwangsweise zu prostituieren, dann ist dies nicht zuerst ein Problem der Einreisebestimmungen oder ein Versäumnis von Grenz- oder Botschaftsangestellten. Mit Einreiseverboten oder der Abschiebung der Frauen wird das Problem Zwangsprostitution nicht im geringsten aus der Welt geschafft. Denn erstens wird die Nachfrage schnell anderweitig befriedigt, und zweitens genießen deutsche Sextouristen absolute Reisefreiheit. Darin liegt der eigentliche Visa-Skandal.
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