Nach dem Massaker und der sexualisierten Gewalt der Hamas an der Bevölkerung und an Frauen in Israel am 7.10.2023 kam es zu einer neuen Wendung der langzeitlichen Debatte um Antisemitismus[1] im Feminismus. Bisher hatte sie sich auf antisemitische Diskurse im Mainstream-Feminismus fokussiert. Nun aber wurde kritisiert, dass zwei führende feministische Theoretiker*innen jüdischer Herkunft, nämlich Judith Butler und Nancy Fraser, einen offenen Brief der Philosophy for Palestine vom 8.11.2024 unterschrieben hatten. Darin wurde vor einem eskalierenden Massaker Israels in Gaza gewarnt, die Unterstützung der westlichen Regierung dafür kritisiert und u.a. zum Boykott israelischer Institutionen aufgerufen. Während der Brief sich allgemein davon distanziert, „Gewalt zu begrüßen und sich zweideutig zu dem Wert unschuldiger Leben zu äußern“, verurteilt er das Massaker der Hamas nicht explizit und spricht auch kein Mitgefühl für die Opfer in Israel aus (Philosophy for Palestine 2024). Weiterhin bezeichnete Butler am 3.3.2024 in Paris den Angriff der Hamas am 7.10.2023 als einen „Akt des bewaffneten Widerstands“, den sie von einem terroristischen oder antisemitischen Angriff abgrenzt.[2] Nun hat bewaffneter Widerstand als wissenschaftliche neutrale Bezeichnung keine positive Wertung; Butler hat das in ihrer Äußerung betont, während Kritiker*innen ihr das unterstellten. Jedoch ist Butlers Unterscheidung zwischen bewaffnetem Widerstand bei der Hamas und einem terroristischen und antisemitischen Angriff für mich nicht nachvollziehbar und bestürzend. Denn in dem Massaker der Hamas sind diese Elemente untrennbar verbunden. Immerhin haben die Hamas-Kämpfer am 7.10.2023 rund 1.200 Israelis und Menschen aus anderen Regionen, darunter auch Arbeitsmigrant*innen aus Südostasien, umgebracht und zahlreiche jüdische Frauen vergewaltigt und ermordet. Das ist ein klarer Akt des Terrors, in dem die Täter mörderischen Hass auf jüdische bzw. israelische Menschen offenbarten.
Politiker*innen und Intellektuelle, auch Feminist*innen, warfen Butler und Fraser fehlende Empathie für die Opfer der Hamas in Israel vor und leiteten daraus den Vorwurf des Antisemitismus ab. Allgemein wurde zum Leitwort dieser Kritik, dass eine fehlende Distanzierung von der Hamas mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Damit wurde die Bedeutung politischer Äußerungen umgekehrt: Ist herkömmlich deren expliziter Inhalt zentral, so wird nun bewertet, was nicht gesagt wird. Auf dieser Grundlage sowohl der expliziten Aussagen als auch des Nichtgesagten wurde einigen jüdischen Feminist*innen (wie parallel dazu auch vielen anderen antizionistisch engagierten Juden und Jüdinnen[3]) Antisemitismus vorgeworfen. Manche Stimmen weiten den Antisemitismus-Vorwurf zu einer generellen Delegitimation des dekonstruktiven Feminismus aus.[4]
Weitere Brisanz erhielt diese Debatte dadurch, dass Feminist*innen wie andere Personen, bei denen propalästinensische Positionen vermutet wurden, Ziel von realen oder angedrohten Sanktionen wurden. Nancy Fraser wurde eine Gastprofessur an der Universität Köln im Mai 2024 von deren Rektorat entzogen. Der Antisemitismusbeauftragte von Hessen und der Verband Jüdischer Studierender Hessen forderten, Judith Butler den ihr 2012 verliehenen Adornopreis abzuerkennen. Staatliche Sanktionen wegen des Vorwurfs des Antisemitismus wurden u.a. gegen Proteste und Konferenzen gegen den Gazakrieg, gegen Schüler mit Kufiya-Tüchern und gegen das dekoloniale queere Zentrum Oyoun in Berlin gerichtet.
Der Palästinakonflikt, also der Kontext dieser Auseinandersetzungen, besteht schon lange, aber der Angriff der Hamas am 7.10.2023 bedeutet eine Wende. Das schreckliche Massaker der Hamas stellt den größten Mord an Juden und Jüdinnen seit der Shoah dar und ruft unter Juden und Jüdinnen in aller Welt massive Traumatisierungen auf. Die folgende völkerrechtswidrige inhumane Kriegsführung der israelischen Regierung und Armee hat zu hohen Opferzahlen, darunter viele Kinder, Hungernot und Massenerkrankungen ohne entsprechende medizinische Versorgung geführt. Beide Schrecken können nicht gegeneinander aufgewogen werden. Deswegen sind die Debatten von großer Emotionalität[5] und Vermischung verschiedener Ebenen aus dem ohnehin hochkomplexen Nahostkonflikt geprägt. Sachliche Feststellungen können tiefe emotionale Verletzungen aufrufen. Aber empathische Äußerungen lassen sich weder unter Zwang einfordern noch normieren. Vielmehr lautet eine Zukunftsfrage, wie die unterschiedlichen involvierten Gruppen Wege finden können, miteinander zu reden oder nur ins Gespräch zu kommen.
Im Rahmen dieses Beitrags können die einzelnen Äußerungen und Kritiken an Judith Butler und anderen Feminist*innen nach dem Aufflammen der Debatte um Antisemitismus und Feminismus nicht rekonstruiert werden. Zu oft folgen solche Verfahren auch kriminalistischer Logik mit der Zuweisung von individueller Schuld und entsprechender Ausgrenzung derart als „diskursive Täter“ markierter Menschen. Vielmehr geht es mir hier darum, zu fragen, wie der Diskurs um Antisemitismus und Feminismus gegenwärtig insgesamt restrukturiert wird. Zunächst will ich auf die möglichen Grundlagen des Diskurses eingehen. Diese verorte ich in der universalen Geltung von Frauen‑ und Menschenrechten, die die Würde, Freiheit und das gute (Über‑)Leben aller einfordern. Darauf versuche ich, die Logiken der sich vervielfältigenden, wechselseitig ausgrenzenden Antisemitismus-Vorwürfe zu erfassen. Meine Grundthesen lauten: Die Debatten werden auf beiden Seiten von etwas geprägt, was ich identitären Partikularismus nenne. Während ich weiter unten ausführlicher darauf eingehe, will ich diesen kurz kennzeichnen: Er stellt eine unmittelbare Identifikation mit einer „Wir-Gruppe“ dar, deren partikulare Perspektive verallgemeinert und anderen Sichtweisen vorangestellt wird. Diese Haltung ist auf allen Seiten der Debatte wirkmächtig und treibt Polarisierungen voran. So zeigt sich ein identitärer anti-antisemitischer Partikularismus, der sich an autoritäre Entwicklungen anlehnt und diese befördert. Diese Partikularismen stützen sich auf antagonistisches diskursives Kapital, mit dem die eigene Position verabsolutiert und die Gegner grundlegend delegimitiert werden. Parallel dazu äußern sich Formen von deliberativen diskursivem Kapital (wie etwa in der Reaktion der feministischen Philosophin Seyla Benhabib auf Judith Butler und Nancy Fraser; vgl. Benhabib 2023). In ihnen wird eine inhaltliche differenzierte Auseinandersetzung mit der kritisierten Position gesucht und die Begründung der Kritik daran und der eigenen Position wird diskursiv vermittelt (s.u.).
Universale Grundlagen der Debatte
Können in einer hoch polarisierten Debatte überhaupt gemeinsame ethische Grundlagen für diskursive Kommunikation und Auseinandersetzungen zwischen denen identifiziert werden, die sich universal-demokratischen wie feministischen, dekolonialen oder linken Werten verpflichtet fühlen?[6] Eine universale Grundlegung, auf die sich die Weltgemeinschaft in den letzten Jahrzehnten geeinigt hat, sind die Frauen‑ und Menschenrechte sowie in Deutschland die Grundrechte in der Verfassung. Auch wenn diese Rechte in der Praxis oft verletzt werden, besteht ein grundlegender Wertekonsens darüber.
Also sollte man sich über Folgendes einigen können: Es darf nicht zugelassen werden, dass Juden und Jüdinnen in ihrem Alltagsleben Angst vor Antisemitismus und Gewalt verspüren und dass Menschen aus Palästina oder dem Nahen Osten antiarabischen oder antimuslimischen Rassismus erfahren. Diskursive Strategien, die Gewalt und Diskriminierung in diesem Sinne ausüben oder unterstützen, sind abzulehnen.
Weiterhin gehört zu den Grundlagen der Debatte, die verschiedenen Entwicklungen der Gewaltexplosion in Israel und Palästina nach dem 7.10.2023 anzuerkennen: Der UN‑Hochkommissar für Menschenrechte hat eindeutig bewiesen, dass die Hamas am 7.10.2023 ein schreckliches Massaker, umfassende sexualisierte Gewalt und Geiselentführungen beging. Vor allem Israelis und Juden und Jüdinnen waren davon betroffen, aber auch zahlreiche Arbeitsmigrant*innen aus Südostasien, also aus postkolonialen Regionen, wurden umgebracht oder als Geiseln genommen. Letztere Opfer sind heute weithin vergessen.
Ebenfalls laut der UN führte die folgende Militäroperation Israels in Gaza zu zehntausenden Todesopfern, zwei Drittel davon Frauen und Kinder, zu mehr als zwei Millionen Flüchtlingen, zu einem Stillstand im Bildungssystem und zu einer tiefen Krise in der Lebensmittel‑ und Krankenversorgung.[7] Wer das Massaker und die sexualisierte Gewalt der Hamas leugnet, reißt die Grundlagen der Debatte ebenso ein, wie, wer von einer alleinigen Verantwortung der Hamas für die Todesopfer und Hungersnot in Gaza spricht, die inhumane Kriegsführung Israels ignoriert und sie schlicht als „Verteidigungskrieg“ legitimiert.
Allerdings wird diese Frage nach den Grundlagen der Debatten dadurch hoch komplex, dass es eben nicht nur um eine intellektuelle Einschätzung des Massakers und der sexualisierten Gewalt vonseiten der Hamas und um die massenhaften Opfer des Kriegs Israels in Gaza geht, sondern auch um die dadurch ausgelösten Emotionen und (Re‑)Traumatisierungen. Diese Emotionen sind von allen Seiten zu respektieren.
Gerade der Eigensinn von und der Respekt vor Emotionen sollte aber davor bewahren, sie in politischen Auseinandersetzungen einzufordern, zu normieren und zu instrumentalisieren. Wie sich inzwischen zeigt, ist Enthaltung oder Entzug von Empathie auf allen Seiten der feministischen (und anderen Debatten) festzustellen.[8] Folglich müssten sie dann auch allen Seiten zum Vorwurf gemacht werden. Aber dem widerspricht grundlegend, dass Gefühle nicht von Seiten politischer Akteur*innen oder einer politischen Gemeinschaft zu normieren und zu verordnen sind. Denn daraus kann sich eine Totalisierung politischer Verhaltensanforderungen ergeben, die auf eine innerlich gesteuerte Kontrolle der ganzen Person hinausläuft und eine grundlegende Einschränkung persönlicher Freiheit bedeuten würde, besteht doch die Gefahr, dass „legitime“ Emotionalität und bei deren Ausbleiben Sanktionen eingefordert werden. Es zeichnen sich autoritäre emotionale Regimes ab, in denen hegemoniale Gruppen Gefühlsbewertungen vornehmen und entsprechende Einschlüsse und Ausschlüsse durchsetzen können. Das mag noch dystopisch erscheinen, ist aber ansatzweise schon zu beobachten. Da der Feminismus verlangt hat, Gefühle und Körper der Akteur*innen bei der Analyse von Problemen, etwa von Gewalt, einzubeziehen, ist er bei der Emotionsfrage in seiner Reflexions‑ und Urteilsfähigkeit besonders gefordert. Es muss die Freiheit geben, „Falsches“ zu fühlen, und wiederum bei Anderen, dies als „falsch“ Gesehene zu kritisieren.
Angesichts wuchernder Totalisierungen, Vermengungen und Vereindeutigungen der den „Gegner*innen“ zugeschriebenen Positionen möchte ich für eine mehrfache Differenzierung eintreten: Ausgesprochene Sachargumente sind zu trennen von Emotionen; beide Diskurselemente bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Aufgrund der Gefühlsbewertung anderer Menschen lässt sich nicht auf die Gerechtigkeitsqualität eines Arguments schließen. Ferner bilden zunächst die getroffenen Aussagen die Grundlage der Kritik und nicht das Nicht-Gesagte. Denn diese sind klar zu rekonstruieren und in ihren Geltungsgründen kritisch zu diskutieren. Das Nicht-Gesagte bzw. das Schweigen ist in Bezug auf die damit bezogene Auslassung zu beurteilen, aber nur schwerlich in Bezug auf die damit verbundene Intention. Schließlich ist auch zwischen der Beurteilung einer Aussage und der Bewertung einer Person zu differenzieren. Um diese Differenzierungen zu illustrieren, sollen sie hier auf häufige Vermengungen in der Debatte bezogen werden: Schweigen und mangelnde Empathie angesichts des Massakers der Hamas oder der Opfer der israelischen Kriegsführung können Kritik daran begründen, jedoch nicht Gefühlsbewertungen in dem Sinne, dass die Sprecher*innen deswegen als antisemitisch oder aber als kolonialistisch einzustufen seien. Wenn einzelne Aussagen als antisemitisch eingestuft werden, so begründet das auch noch nicht eine generelle Einstufung der Sprechenden als Antisemit*innen.
Die Engführung identitärer Partikularismen
Die Debatten um das Massaker der Hamas und den Gazakrieg verlaufen überwiegend polarisierend und antagonistisch.[9] Eine der Ursachen dafür liegt in meinen Augen in dem Umschlagen von Identitätspolitik: Sie ist zu einem hegemonialen Diskurs geworden, den auch die Herrschenden übernommen haben. Dabei tendiert sie dazu, ihre Ambivalenz zu verlieren und sich zu identitären totalisierenden Partikularismen zu verengen und zu verhärten. In anderen Worten, wenn Identitätspolitik hegemonial wird, kann sie partikular und folglich repressiv und ausschließend werden. Diese Tendenzen sind unter allen Richtungen, also auch bei Vertreter*innen dessen festzustellen, was nun Anti-Antisemitismus genannt wird. Sie sind nicht neu, aber nun ist der Moment für eine Grundlagenkritik gekommen, die sich mit einer Rückbesinnung auf universale Werte verbindet. In der Debatte um Antisemitismus und Feminismus zeigen sich Ansätze zu einem reflexiven Universalismus, der nicht in dem eurozentrischen Denken steckenbleibt, sondern seine bisherige hegemoniale Begrenztheit kritisiert und die Ungleichheiten, Differenzen und Gemeinsamkeiten auf Weltebene wahrnimmt (s.u.).
Schon die historische Herausbildung der Identitätspolitik ist widersprüchlich: Hat sie doch viele Quellen, so ein antagonistisches Politikverständnis nach Carl Schmitt oder die Klassenkampfrhetorik in der radikalen Linken. Ihre Pioniere waren die Verfechter nationaler Identität, die die Nation als imaginierte Gemeinschaft (Anderson 1988) gegen die von ihnen identifizierten Unterdrücker beschworen. Die Black-Power-Bewegung in den USA ab den späten 1960ern vertrat in weiten Teilen Spielarten des Schwarzen Nationalismus. Sie beeinflusste auch einen Pol der Frauenbewegung, der sich identitätspolitisch formierte.[10] Frauen sollten eine eigene Identität entwickeln, um gegen die Herrschaft der Männer zu kämpfen. Der gemeinsame Bezugsrahmen war die Kritik an erfahrener Gewalt und Ungleichheit. Die eigene Subjektwerdung und Autonomie wurde um den Preis einer Abgrenzung und Grunddistanzierung zu Männern gesucht.
Im Rahmen dieser großen Bandbreite spitzten Schwarze queere Feministinnen den Ansatz der Identitätspolitik zu und formulierten ihn zugleich als Such‑ und Öffnungsprozess. Sie suchten angesichts einer doppelten Diskriminierung als Schwarze Frauen im Feminismus und als queere Frauen in der Schwarzen Befreiungsbewegung eine eigene Identität, die einen neuen inklusiven Raum jenseits der Ausgrenzung eröffnen sollte. Es ging ihnen dabei auch um einen neuen Identitätsentwurf, der den Mainstream-Feminismus öffnen und verändern sollte (Taylor 2017).
Identitätspolitik sozialer Emanzipationsbewegungen ist also ambivalent: Sie ermöglicht ausgegrenzten oder untergeordneten Gruppen, mittels einer angenommenen Gemeinsamkeit von Gewalt‑ und Ungleichheitskritik einen Raum dafür aufzubauen, Erfahrungen zusammenzustellen, daraus Wissen zu schaffen und Macht zu bilden. Zugleich aber wird diese Gemeinsamkeit durch Abgrenzung zu Kontrahent*innen verstärkt, die als Gegner*innen oder Unterdrücker*innen auftreten oder als solche definiert werden.
Das Problem der Identitätspolitik ist, dass ihre Ambivalenz in identitäre Abgrenzung und Engführung gegenüber diesen identifizierten Gegnern umschlagen kann. Zum einen wird dann die Gegnerschaft totalisiert und der Gegner nicht mehr als gleicher Mensch, sondern als grundlegend abzulehnen und auszugrenzen, in Extremfällen als tendenziell unmenschlich gesehen. Zugleich wird die eigene Gruppe homogenisiert, und Abweichung „nach innen“ wird ausgeschaltet und sanktioniert. Die Ambivalenzen bei sich und den Anderen werden zugunsten von Selbst‑ und Fremdhomogenisierung im Rahmen eines antagonistischen, auf die Sicht der Welt insgesamt projizierten Dualismus von Selbst und Feind stillgestellt.
Wenn nun die Herrschenden identitäre Diskurse übernehmen, so hat das Konsequenzen: Zum einen können sie ihre Machtausübung dadurch legitimieren. So können gemeinsame Bezugsrahmen von Gewalt‑ und Ungleichheitskritik wie die gleiche Geltung von Menschenrechten für alle verloren gehen. Gestützt auf identitäre Diskurse können hegemoniale Gruppen Politiken im Sinne einer partikulären hegemonialen Selbstbehauptung entwickeln und durchsetzen. So beschwören rechtsextreme Parteien in Europa und den USA den Vorrang und den Schutz der Autochthonen oder Weißen vor den Einwanderer*innen oder „Anderen“.
Identitätspolitik und Partikularismus sind eng miteinander verbunden. Die Ziele und Wünsche der identitätspolitischen Akteure sind oft partikular, da sie das situierte Wissen der eigenen Gruppe reflektieren.[11] Zugleich wird teils ein Monopolanspruch auf legitime Deutungen und Sprecher*innenpositionen als Repräsentant*innen der identitären Gruppe erhoben, da nur letztere die eigene als unterdrückt und ausgegrenzt wahrgenommene Position korrekt formulieren könnten. In manchen queerfeministischen oder antirassistischen Kreisen zeigt sich dieser Monopolanspruch darin, dass die Aussagen der legitimen Sprecher*innen nicht hinterfragt oder diskutiert werden sollen. Während es in alltäglichen Begegnungen üblich ist, einen Beleg dafür einzufordern oder nachzufragen, werden schon diese Reaktionen angesichts des Deutungsmonopols der Sprecher*innenposition als Zumutung betrachtet. Mit diesem Monopol auf Definitionsmacht wird der Anspruch aufgegeben, dass es allgemeine Kriterien wie etwa die Frauen‑ und Menschenrechte für Problembenennungen geben soll, dass diese Kriterien intersubjektiv nachvollziehbar sein sollten und dass darüber diskutiert werden darf.
Seit der postmodernen Kritik an „Großen Erzählungen“ ab den 1970er Jahren – allen voran am Marxismus – wurde diese Partikularität als Gegenmittel gegen die Herrschaft der zentralen Ideologien betrachtet. Nun zeigt sich aber klar, dass partikuläre Erzählungen selbst zur Totalisierung neigen und damit Ausgrenzung und Herrschaft in Namen der „Selbstbehauptung“ begründen können. In der öffentlichen Diskussion werden im Namen des Anti-Antisemitismus Menschen, die gegen den Gazakrieg protestieren, oder Jugendliche mit einer Kufiya mit Hamas-Sympathisant*innen gleichgesetzt, und es wird ihnen pauschal Israelhass unterstellt. Zugleich werden Juden und Jüdinnen in Berlin von Pro-Palästina-Aktivist*innen beschimpft und körperlich angegriffen.
Der Totalisierung von identitären Ansprüchen und Zielen ist nur durch Universalismus, also den Einbezug anderer von Gewalt und Ausgrenzung betroffener Menschen in das eigene Denken entgegenzuwirken: Unmenschlich sind ein Massaker ebenso wie Massentötungen durch Kriegsführung und Hungersnot. Diskriminierung und Gewalt und daraus folgende Angst erleben – aus unterschiedlichen Gründen – gegenwärtig Juden und Jüdinnen, sowie Palästinenser*innen in Deutschland.
Der identitäre Partikularismus des Anti-Antisemitismus einerseits und der unbedingten Unterstützung der Kriegsführung Israels in Gaza andererseits wird brisant durch seine Anlehnung an und Legitimierung von staatlichem Autoritarismus. Sprecher*innen rufen nach Verboten, Polizeimaßnahmen usw. und erklären israelkritische Positionen als antisemitisch, die deswegen nicht zugelassen werden dürften.
Da viele Politiker*innen identitäre Diskurse übernommen haben,[12] finden sie dort Gehör, dies umso mehr, als sich autoritäre Maßnahmen mit dem Kampf gegen Antisemitismus wie selbstredend legitimieren lassen. Anders gesagt, werden durch die Legitimierung autoritärer Politik als Kampf gegen Antisemitismus repressive Vorhaben von Politiker*innen von der SPD bis zur AfD etwa in der Kultur‑ und Migrationspolitik abgestützt. Demokratische Akteure berufen sich auf den Kampf gegen Antisemitismus und auf die Solidarität mit Israel als deutsche Staatsraison. Zugleich greifen führende Politiker*innen auch zu Einschüchterung und Repression, die die Grundrechte in der Verfassung wie die Meinungs‑, Wissenschafts‑ und Kunstfreiheit in Frage stellen und die bisherigen Rechte von Einwanderer*innen einschränken wollen. Minister*innen und leitende Beamte in Kultur‑ und Wissenschaftsministerien diskutieren über einen möglichen Entzug von Fördermitteln, wenn sie Antisemitismus konstatieren, und praktizieren dies auch schon.
Nationalistische und rechtsextreme Vertreter*innen fordern nun verstärkt den Ausschluss von Einwanderer*innen insbesondere aus dem Nahen Osten. Sie berufen sich dabei auf einen muslimischen Antisemitismus, wobei sie den Antisemitismus in der langheimisch deutschen Bevölkerung ignorieren und das Problem tendenziell auf die Migration externalisieren. So können autoritäre Politiken gegenüber Kritiker*innen und insbesondere in der Migrationspolitik legitimiert und vorangetrieben werden. Zum Beispiel soll bereits ein von Eingewanderten verschickter antisemitischer Post im Internet deren Ausweisung ermöglichen, was auch SPD-Politiker*innen befürworten. Während sich bedeutende Akteure wie die Rektorenkonferenz für die Wissenschaftsfreiheit einsetzen, herrscht ein bedrückendes Schweigen um diese geplante Verschärfung des Ausländerrechts.
Zu Zeiten einer Rechtswendung in Europa und weltweit lehnt sich der identitäre proisraelische Partikularismus an den Autoritarismus an und legitimiert ihn. Er läuft ein hohes Risiko, denn historisch wurden Juden und Jüdinnen in der Diaspora vom autoritären Nationalismus ausgegrenzt und verfolgt. Der Philosemitismus, mit dem rechtsextreme und autoritäre Politiker*innen ihr Auftreten u.a. gegen Einwanderer*innen und dekoloniale wie antirassistische Kräfte heute begründen, kann sich bei veränderter Opportunität rasch wandeln. Doch die autoritären Politiken und Maßnahmen etwa gegen Meinungs‑ und Wissenschaftsfreiheit oder gegen „Volksfremde“ wären dann bereits verankert.
Antagonistisches, denunziatorisches und deliberatives diskursives Kapital
Ich habe argumentiert, dass die Debatte deswegen so polarisiert und hart geführt wird, weil sie von der Logik identitärer Partikularitäten beeinflusst wird. Das gilt auch für die Debatte um Antisemitismus im Feminismus. Ich vermute, dass diskursives Kapital in diesen Auseinandersetzungen eine wesentliche Machtressource darstellt. Dabei lehne mich an das Kapitalkonzept von Pierre Bourdieu (1992) an, der damit Ressourcen wie ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapital erfasst, die bei Positionierungen im sozialen Feld und dem Kampf um Macht darin wirksam werden.
Auch diskursives Kapital lässt sich als eine solche Ressource in Auseinandersetzungen um Legitimität und Definitionsmacht begreifen. Unter „diskursivem Kapital“ verstehe ich die Wirkungsmacht von Aussagen; sie geht sowohl auf die Sprecher*innenposition als auch auf den Inhalt und den Politikstil der Aussage zurück. Ich nehme weiterhin an, dass Sprecher*innen in öffentlichen Auseinandersetzungen ihr diskursives Kapital bewusst formulieren und einsetzen, auch wenn sie viele Elemente intuitiv oder assoziativ aufnehmen. Sie wissen um die Wirkung des Inhalts und des Politikstils ihrer Aussagen. Nach dem 7.10.2023 werden Emotionen noch verstärkt neben sachbezogenen Aussagen sowohl inhaltlich thematisiert wie im Politikstil eingesetzt.
In den Debatten um Antisemitismus und den Nahostkonflikt lassen sich idealtypisch drei Formen von diskursivem Kapital gegenüberstellen: antagonistisches, denunziatorisches und deliberatives Kapital. Das antagonistische diskursive Kapital vollzieht in Aussage und Politikstil eine klare Abgrenzung zwischen dem identitär-partikulären „Eigenen“ und dem „Anderen“, der zum Täter und Gegner definiert wird. Dabei wird oft assoziativ eine Kette von Argumenten und Symbolen zusammengefügt. Diese Kette wiederum wird einer dualistischen Konfliktkonstruktion zugrunde gelegt, in der die „Anderen“ als alleinige Täter*innen oder Schuldige dargestellt werden und eigene Verantwortung, Ambivalenzen oder mögliche Handlungsalternativen unsichtbar werden. In der Konstruktion der Gegner*innen werden inhaltlich Emotionen wie Dämonisierung, Verächtlichmachung und tendenzielle Entmenschlichung eingesetzt. Ferner werden Gefühlsbewertungen wie der Vorwurf der Kälte oder des Empathiemangels gegenüber Opfern eingebracht. Der eigene Diskurs vermischt Argumente mit Emotionen von Wut, Entsetzen und affektiver identitärer Besetzung der eigenen Gruppe, Zugehörigkeit oder Nation.
Bei antagonistischem diskursivem Kapital geht es darum, ein Deutungsmonopol und damit ein diskursives Machtmonopol für die eigene Seite im Kampf um Selbstbehauptung und Durchsetzung zu erreichen. Neben der moralischen und emotionalen Abwertung der „Gegner*innen“ dient dazu die Legitimierung durch die eigene identitäre Sprecher*innenposition. Diese würde jedoch dadurch relativiert, dass etwa antizionistische Juden und Jüdinnen die israelische Kriegsführung oder Palästinenser*innen die Hamas kritisieren. Damit werden potenziell viele legitime Stimmen laut und die emotionalen Angriffe auf Judith Butler und Nancy Fraser gelten auch der Tatsache, dass sie als Feminist*innen mit jüdischem Hintergrund sprechen und plurale Diskurse anstelle eines homogenen Sprecher*innenmonopols sichtbar werden.
Um das antagonistische diskursive Kapital an einigen hervorstechenden Beispielen zu illustrieren: So haben etwa Pro-Palästina-Aktivist*innen die sexuelle Gewalt durch die Hamas abgestritten und Frauen angegriffen, die sie thematisierten.[13] Damit wird das Motiv der lügenden Frau, die fiktive Vergewaltigungen auftischt, ausgespielt und mit der Diskreditierung Israels verbunden.[14] Ein weiteres konträres Beispiel ist das Argument von identitären proisraelischen Kräften, dass allein die Hamas die Verantwortung für die vielen Todesopfer im Gazakrieg trage, den sie „israelischen Verteidigungskrieg“ nennen. Denn die Hamas habe ihn ausgelöst und sei für die zehntausende Toten verantwortlich, die in der wirklichen Welt aber durch die Waffen und die inhumane Strategie der israelischen Regierung und Armee sterben. Ein drittes Beispiel: Kritik an der Kriegsführung Israels und dem Sterben von tausenden von Kindern wurde als antisemitisch delegitimiert. Denn sie sei nur eine Neuauflage des antisemitischen Mythos von den Juden als Kindermörder, der die Pogrome gegen Juden im Mittelalter legitimiert habe. Offensichtlich haben Mythen über Juden im Mittelalter, mit denen Pogrome mit diffamierender Propaganda begründet wurden, nichts mit einer Strategie der Kriegsführung zu tun, als deren Opfer heute nachweisliche tausende von Kindern sterben. Diese Tatsache wird durch eine symbolische Verknüpfung mit dem christlichen Antisemitismus negiert, die Verantwortung für das Sterben der Kinder als imaginär minimiert und das Schuldmotiv auf die als antisemitisch gebrandmarkten Kritiker verlagert und externalisiert.[15]
Der offene Brief der Philosophy for Palestine, den Judith Butler und Nancy Fraser unterschrieben haben, lässt sich dem antagonistischen diskursiven Kapital zuordnen: Denn er verurteilt nicht explizit das Massaker und die sexuelle Gewalt der Hamas und benennt Israel indirekt als verantwortlich für die Bedingungen, die Gewalt erzeugen.[16] In meinen Augen ist er jedoch nicht antisemitisch, sondern israelkritisch. Er kritisiert einseitig die israelische Regierung und Armee, aber enthält keine Billigung der Gewalt der Hamas gegenüber Juden und Jüdinnen oder ihres antisemitischen Denkens und Terrors. Das Schweigen gegenüber dieser Gewalt wiederum kann Kritik begründen, aber wie ich oben argumentiere, kann es nicht als Zustimmung umgedeutet werden.
Als zweite Form lässt sich denunziatorisches diskursives Kapital benennen. Darunter verstehe ich eine Zuspitzung des antagonistischen Kapitals, die auf diffamierende persönliche Abwertung und völlige Delegitimierung der angenommenen Gegner*innen zielt. Donald Trump hat mit seinen Reden von „crooked Hillary“ und „crazy Kamala“ eine gewisse Meisterschaft in der Verwendung denunziatorischen Kapitals erwiesen.[17] Dieses hat sich vor allem in digitalen Medien verbreitet, wird aber auch weiter eingesetzt. So werden personalisierte Antisemitismusvorwürfe in der politischen Debatte schlagkräftig benutzt. Häufig werden sie auf jüdische Kritiker der israelischen Regierung und Kriegsführung angewandt, denen somit eine legitime Sprecher*innenposition entzogen werden soll, die sie im Rahmen der politischen Vielfalt der israelischen Demokratie wahrnehmen können. Denn wer als Antisemit gekennzeichnet wird, hat zu schweigen. Jedoch kann eine Inflation dieser Vorwürfe eine entgegengesetzte Wirkung erzeugen: Wenn bereits die Forderung nach einem Waffenstillstand und einem würdigen Weiterleben der Menschen in Gaza und der Westbank als Antisemitismus abgelehnt wird, wird der Vorwurf tendenziell unglaubwürdig. Weiterhin wird Menschen, die ein Ende des Tötens und eine Zweistaatenlösung wünschen, die Einordnung als Antisemit verordnet und nicht alle werden das zurückweisen.
Eine dritte Form des diskursiven Kapitals kann als deliberativ bezeichnet werden: Es setzt nicht auf Abgrenzung und Schlagkraft gegenüber einem identifizierten Gegner, sondern auf immanentes Verständnis der Gründe des Gegenübers und auf deren Widerlegung oder auf Wege der Übereinkunft. Es geht also um einen Dreischritt von Verständnis, Kritik der wahrgenommenen Position der „Anderen“ und Diskussion über Wege zur Ko‑Existenz im diskursiven Raum, wobei eine Bandbreite von Bündnissen unter Anerkennung der Differenz bis zu Fundamentalkritik und Distanzierung auftritt. Hier geht es nicht um die Durchsetzung eines Deutungs‑ und Machtmonopols, sondern um prozessuales Verhandeln der verschiedenen Deutungen unter Anerkennung ihrer möglichen Diversität. Dazu tragen gegenwärtig gerade Feminist*innen mit jüdischem Hintergrund bei.
Auch deliberatives diskursives Kapital vollzieht Gefühlsbewertung und mobilisiert Affekte, die sich allerdings von denen des antagonistischen und des denunziatorischen diskursiven Kapitals unterscheiden. Betont werden Empathie, Offenheit und Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Positionalitäten. Weiterhin werden die eigenen subjektiven ambivalenten Gedanken und Gefühle herausgearbeitet und Relationalität betont. Viele Diskurse sind auf der Mikroebene persönlicher Beziehungen verortet. Beide Tendenzen entsprechen dem feministischen Bestehen darauf, von Subjektivität und Beziehungen auszugehen. Dennoch stellt sich die Frage, ob und wie deliberatives diskursives Kapital auf der Meso‑ oder Makroebene zu formulieren wäre.
Dieses diskursive Kapital will ich ebenfalls an Beispielen verdeutlichen. Die Philosophin Seyla Benhabib hat auf den Brief der Philosophy for Palestine sehr persönlich geantwortet: Sie benennt ihre eigene Stellungnahme für eine Zweistaatenlösung und einen Waffenstillstand aus ihrer Geschichte. Zugleich geht sie auf die Situationsanalyse des Briefs ein und kritisiert die stillschweigende Hinnahme der Hamas und ihrer Gewalt gegenüber Israelis, aber auch gegenüber Palästinenser*innen. Sie verweigert sich einer persönlichen Disqualifizierung und Ausgrenzung der Verfasser*innen des Briefs, sondern reflektiert seine Kernaussagen und begründet, warum sie ihnen nicht zustimmt. Ihr Brief stellt einen deliberativen Prozess dar, der den Antagonismus durchbricht und eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Positionen eröffnet. Er verwendet deliberatives diskursives Kapital.
Ein weiteres Beispiel ist das Buch Trotzdem Sprechen, in dem deutsche, jüdische, palästinensische und weitere Menschen ihre Erfahrungen und Perspektiven nach dem 7.10.2023 beschreiben. Ungeachtet der Meinungsverschiedenheit wollen die Herausgeberinnen am
„Gespräch festhalten, das Zuhören beinhaltet, den Wunsch zu verstehen oder doch zumindest eine Bereitschaft, die andere Position auszuhalten…Was wäre, wenn Meinungsverschiedenheiten nicht zu Misstrauen, sondern zu einem Lern‑ und Verständnisprozess führten, wenn dadurch das gegenseitige Vertrauen bestärkt würde? Wenn wir gemeinsam für eine offene, pluralistische Gesellschaft einstehen, in der unterschiedliche Biografien, Lebenswelten, Narrative nebeneinander Platz finden?“ (Gorelik u.a. 2024: 8f)
Diese Sätze fassen zusammen, was deliberatives diskursives Kapital bedeuten kann. Sie bieten Alternativen zu dem identitären Partikularismus, indem sie Beziehungen zwischen unterschiedlichen Menschen zu ihrem Ausgangspunkt machen.
So setzt Paula Villa in dem Band partikulare Existenzen nicht wie sonst so oft gegen den Universalismus, sondern vermittelt zwischen beidem. „Immer sind wir Menschen. Im universalen Sinn der Menschlichkeit. …gleiche, immer und unhintergehbar mit dem Recht, Rechte zu haben.“ Aber das Universale realisiert sich erst, wenn es empirisch eingelöst wird, und dann zeigen sich spezifische Positionierungen. Aber in diesen gehen die Menschen nicht auf, sondern sind „eigensinnig und formulieren aus diesen Positionierungen heraus in komplexen Prozessen unsere eigenen Positionen, etwa politischer Art“ (Villa 2024: 98). Villa verbindet also in einer komplexen Balance das Partikulare mit dem Universalen.
Auch Judith Butler bietet Zugänge zu deliberativem diskursivem Kapital. In ihrem Buch über das Verhältnis von Jüdischsein und Zionismuskritik mit dem Titel Parting Ways hält sie fest: „Die Frage des ethnischen Verhältnisses zu den Nicht-Juden wird bestimmend dafür, was jüdisch ist. … Relationalität ersetzt Ontologie“ (Butler 2012: 5). Beziehungen bringen Anderssein (alterity) disruptiv in Identität ein und konstituieren sie dadurch. Das Denken im Austausch und in der Irritation durch die Anderen ist also wesentlich für das Eigene und im Fall Butlers: das Jüdische. Wie erklärt sich dann ihre Ausblendung der Gewalt der Hamas gegen Menschen in Israel am 7.10.2023? Ich vermute, dass das Sprechen über deren Leiden durch die intersektionale Annahme gehemmt wird, dass Butler sich als privilegiert sieht. Während sie antiidentitär argumentiert, verortet sie sich dennoch entsprechend einer identitären Logik als Jüdin und als privilegiert. Wenn sie vom Jüdischsein schreibt, wendet sie dieses universal, nicht aber ihre Bezugnahme auf Privilegien. Aber sind denn die „Privilegierten“ von gleichen universalen Rechten wie das Recht auf Leben oder Gewaltfreiheit intellektuell ausgenommen? Hier zeigt sich eine tiefgehende Leerstelle im Diskurs, der Empathie für jüdische Opfer zu blockieren scheint.
Zum Schluss
Beim Nachdenken über Feminismus und Antisemitismus bin ich dem verbreiteten Vorgehen des kriminologischen Aufspürens von antisemitischer Täterschaft und Schuld in feministischen Texten ausgewichen. Vielmehr habe ich versucht, der inneren Logik und Dynamik der Diskurse darüber nachzugehen und habe die sperrigen vorläufigen Arbeitsbegriffe identitärer Partikularismus und antagonistisches bzw. denunziatorisches versus deliberatives diskursives Kapital vorgeschlagen. Mein Wunsch war, über die Art des Sprechens und Debattierens nachzudenken.
Es steht viel auf dem Spiel: der Zerfall der politischen Öffentlichkeit und die Hilflosigkeit gegenüber einer möglichen Wende zum Autoritarismus. Die identitären Partikularismen mit ihrem antagonistischen diskursiven Kapital können zu einer Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit führen, in der universale Frauen‑ und Menschenrechte an Relevanz verlieren und delegitimiert werden. Wie die Forschungsgruppe um Steffen Mau eindrucksvoll gezeigt hat, besteht in Deutschland gegenwärtig keine Polarisierung über die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität (vgl. Mau u.a. 2023, sowie immer noch Vester 2001). Vielmehr arbeiten Polarisierungsunternehmer*innen daran, anhand bestimmter Triggerpunkte, etwa Einwanderung oder geschlechtergerechte Sprache, Emotionen und Empörung zu schaffen, die Hasssprache und Gewalt legitimieren können. Der Kampf gegen Antisemitismus (unter Einschluss kritischer Reflektion und Überprüfung des eigenen Verhaltens) ist grundlegend für die Demokratie und ein gleiches gutes Zusammenleben. Aber zugleich wird der Antisemitismusvorwurf für Autoritarismus und Ausgrenzung instrumentalisiert.
Angesichts des identitären Partikularismus gewinnt ein reflexiver Universalismus an Bedeutung. Es geht nicht um Neuauflagen des eurozentrischen Universalismus, der den (weißen) Mannmenschen zum Maß der Welt erhob. Vielmehr bedeutet reflexiver Universalismus, die unterschiedlichen und ungleichen intersektionalen Positionalitäten und zugleich die Autonomie und Würde jeder einzelnen Person wahrzunehmen und anzuerkennen; zu sehen, dass Kulturen unterschiedlich und in sich widersprüchlich, voller Spannungen und Vieldeutigkeiten sind und dass das auch für die einzelnen Menschen gilt.
Dieser neue Universalismus bricht auch im Feminismus auf. So haben jüdische und viele andere Feminist*innen zum Internationalen Frauentag in Berlin am 8.3.2024 unter dem Motto „Für einen universalen Feminismus“ eine große Demonstration organisiert, die allerdings in den Medien kaum erschien. Es nahmen an die 8.000 Personen teil, viele mit selbstgemachten Plakaten mit Aufschriften wie „Universelle feministische Solidarität“, „Mysogynie tötet – Femizide stoppen“, „Rape is not Resistance“, „Believe Israeli Women“, „Fight racism, antisemitism, religious extremisms, fascism“, „Gegen Gender und Nation“, „Feminism unlimited. Für uns alle feministische Solidarität – gegen selektiven Feminismus“. In den Praktiken der Frauenbewegung ist der Universalismus angekommen.
Nun sprechen zum Schluss meine Emotionen, die ich auf den vorigen Seiten verdrängt habe: Ich schreibe diesen Text voller Unsicherheit, Zorn und Angst – einer Angst, die mich seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine und noch öfter nach dem Massaker der Hamas und dem Krieg Israels in Gaza schlecht oder gar nicht schlafen lässt. Unsicher, weil ich mich zu wenig mit Antisemitismus und dem Palästinakonflikt beschäftigt habe und mich nicht früher dazu geäußert habe. Zornig auf den Autoritarismus, Militarismus und Hass, der die Welt identitär-partikulär in Freund und Feind aufteilt und zur Bekämpfung des Übels nur Gewalt, Verbote und gleichförmige Normierung zu kennen scheint, anstatt Raum für Gespräch, Verständnis und Lernen dadurch zuzulassen.
Und voller Angst – um das Leben der Menschen in Gaza, besonders der Kinder, aber auch um das mittelfristige Überleben der Menschen in Israel. Eine Kette von Ängsten peitscht durch meinen Kopf und Körper: davor, diesem Massentöten von Menschen in Gaza und ihrer völligen psychischen und physischen Erschöpfung weiter hilflos zuzusehen, während ein Waffenstillstand vonseiten der israelischen Regierung weiterhin herausgeschoben wird (Stand 2.9.2024); davor, dass die Existenz Israels dadurch tiefgreifend und unumkehrbar bedroht wird.
Dass der Autoritarismus mächtiger wird und die Freiheit des Denkens, Anzweifelns und über die Grenzen Liebens, für das gerade die jüdische intellektuelle Tradition steht, untergeordnet oder unterdrückt wird. Vor einer weltweiten Erstarkung des Antisemitismus, der sich auf das Massensterben in Gaza und die widersprüchliche, aber letztlich weiterbestehende Unterstützung der inhumanen Kriegsführung Israels durch die USA und Deutschland beziehen kann. Dass die Gräben zwischen den sozialen Bewegungen für Freiheit, Menschen‑ und Frauenrechte im globalen Norden und Süden sich so vertiefen, dass sie nicht mehr zu überbrücken sind. Im globalen Süden wird dem „westlichen“ Menschenrechtsdiskurs angesichts des Gazakriegs jedwürdige Glaubwürdigkeit abgesprochen. Diese Stimmen werden hier weitgehend ausgeblendet – aber wie will man ihnen glaubhaft widersprechen? Das ist nicht auf eine strategische Frage nach der bleibenden Bedeutung Europas in einer multipolaren Welt zu reduzieren. „Wir“ in diesem Europa, aus dem der Kolonialismus wie auch grundlegende Anstöße für die Menschenrechte kamen, drohen unseren menschlichen Kern zu verlieren.
Es ist an der Zeit für einen reflexiven Universalismus, wie ihn Paula Villa angedeutet hat: Dieser Universalismus bedrängt identitäre Proteste für Menschlichkeit wie das Eintreten Jugendlicher für einen Waffenstillstand in Gaza nicht mit Autoritarismus, Bekenntniszwang, Gefühlsbewertungen und Verboten. Vielmehr ist er für das Gespräch zwischen den partikulären Vielen offen und baut auf der verbindenden Brücke der Menschen‑ und Frauenrechte aller auf. Auch die Rechte der Kinder, die, wenn sie überleben, diese Konflikte und auch diese Traumata von uns erben werden und Grundlagen brauchen, um neue Wege zu suchen.
Literatur
Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a.M.
Benhabib, Seyla (2023): „Die Hamas ist keine Befreiungsbewegung. Eine Antwort auf ‚Philosophy for Palestine‘“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Dezember, S. 71‑76 (https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/dezember/die-hamas-ist-keine-befreiungsbewegung; letzter Aufruf: 24.7.2024).
Bourdieu, Pierre (1992): „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“. In: Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg, S. 49‑75.
Butler, Judith (2012): Parting Ways: Jewishness and the Critique of Zionism. New York, US‑NY.
Gorelik, Lena; Miryam Schellbach & Mirjam Zadoff (Hg.) (2024): Trotzdem sprechen. Berlin.
Mau, Steffen; Thomas Lux & Linus Westheuser (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Frankfurt a.M.
Philosophy for Palestine (2024). https://aurdip.org/en/philosophy-for-palestine; letzter Aufruf: 24.7.2024.
Stögner, Karin (2024 i.E.): „Der neue Unwille zu trauern. Kritische Theorie und Antisemitismus nach dem 7. Oktober“. In: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 58‑59.
Taylor, Keeanga-Yamahtta (2017): How we Get Free. Black Feminism and the Combahee River Collective. Chicago, US‑IL.
Ullrich, Peter; Sina Arnold; Anna Danilina; Klaus Holz; Uffa Jensen; Ingolf Seidel & Jan Weyand (2024): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Göttingen.
Vester, Michael; Peter von Oertzen; Heiko Geiling; Thomas Hermann & Dagmar Müller (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt a.M.
Villa, Paula (2024): „Stammeln im Getöse“. In: Gorelik u.a. 2024, S. 89‑106.
Anschrift der Autorin:
Ilse Lenz
Ilse.Lenz@ruhr-uni-bochum.de
https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.03
[1] Vgl. zur Debatte um den Antisemitismusbegriff den pluralen systematisierenden Ansatz bei Ullrich u.a. 2024.
[2] Die Aussage ist wiedergegeben bei https://twitter.com/MaxAbrahms/status/1766292754961695218, letzter Aufruf: 2.9.2024; vgl. den Beitrag von Ullrich in diesem Heft, S. 204ff.
[3] Die Redaktion hat mich auf die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache im Kontext von Juden und Jüdinnen hingewiesen, wofür ich ihr danke; ich habe mich für diese Version entschieden und bin auch sonst ihren Anregungen zur geschlechtergerechten Sprache weitgehend gefolgt; vgl. https://latkesberlin.wordpress.com/2020/10/24/juden-gendern, letzter Aufruf: 10.9.2024
[4] So etwa Jan Feddersen in der taz: https://taz.de/Judith-Butler-und-ihr-Werk/!5994977, letzter Aufruf: 31.7.2024.
[5] Auf meine Emotionen angesichts des Palästina-Konflikts gehe ich zum Schluss ein.
[6] Hier schränke ich den Kreis der Teilnehmenden an den Debatten auf die Menschen ein, die solche Orientierungen vertreten und von denen sie erwartet werden können. Denn bei ihnen ist eine mögliche Grundübereinstimmung anzunehmen, ohne andere davon auszuschließen. Die Überlegungen könnten auch relevant für weitere Kreise sein.
[7] Auch wenn sie als lückenhaft angegriffen wurden, beziehe ich mich auf UN‑Daten, da sie konfliktübergreifend sind und israelische und palästinensische Berichte einbeziehen; vgl. https://www.un.org/en/situation-in-occupied-palestine-and-israel, letzter Aufruf: 10.9.2024; https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/hrcouncil/sessions-regular/session56/a-hrc-56-crp-3.pdf, letzter Aufruf: 10.9.2024; zu den Arbeitsmigrant*innen aus Südostasien vgl. https://www.hrw.org/news/2023/11/03/asian-migrant-workers-victims-hamas-led-attacks, letzter Aufruf: 10.9.2024.
[8] Vgl. etwa die wichtige Analyse von Antisemitismus und Feminismus von Stögner (2024 i.E.), die allerdings die große Zahl der Opfer der israelischen Kriegsführung in Gaza völlig ausspart und nur das Leiden der Palästinenser in Gaza unter der Herrschaft der Hamas anspricht.
[9] Zu Ansätzen dazu, die Positionen der anderen Konfliktbeteiligten zu verstehen oder Brücken zu bauen, vgl. den Teil zu deliberativem diskursivem Kapital.
[10] Den anderen Pol stellte eine sozialstrukturelle Sichtweise dar, nach der die Unterdrückung der Frau durch soziale Systeme wie das Zusammenwirken von Patriarchat und Kapitalismus bedingt ist. Diese Systeme – und nicht bestimmte Gruppen – gelte es zu bekämpfen und zu überwinden. In der Praxis traten beide Orientierungen oft zusammen und vermengt auf.
[11] Das ist naheliegend, aber nicht notwendig so. Identitätspolitische Gruppen können sich wechselseitig wahrnehmen und verständigen.
[12] Zum Beispiel vertreten viele Grüne mit Konzepten von Gruppenidentitäten und deren Sprecher*innen linksliberale Identitätspolitik. Die AfD betreibt in vielem Identitätspolitik von rechtsextrem für „Biodeutsche“ in ihrem Sinne, was sich u.a. in der Remigrationsforderung zeigt.
[13] Hier kann ich nur auf einige Beispiele verweisen wie etwa Berichte der Antonio Amadeo Stiftung; vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/chronik/leugnung-der-vergewaltigungen-an-israelischen-frauen-am-7-oktober/; https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/chronik/leugnung-der-vergewaltigungen-israelischer-frauen-bei-einer-demonstration/; zu einem Angriff auf Frauen, die am Protesttag gegen Gewalt gegen Frauen (25.11.2023) in Paris die sexuelle Gewalt der Hamas thematisierten, vonseiten propalästinensischer Aktivist*innen vgl. https://www.france24.com/en/middle-east/20231204-metoo-for-israeli-victims-too-gaza-war-drives-wedge-between-french-feminists, letzter Aufruf: 10.9.2024.
[14] Zu den internationalen Debatten um die sexuelle Gewalt der Hamas und deren Instrumentalisierung durch die israelische Regierung, um den Gazakrieg zu legitimieren, vgl. https://www.fr.de/politik/missbrauch-israel-gaza-krieg-hamas-anschlag-oktober-sexuelle-gewalt-zr-93051548.html, letzter Aufruf: 10.9.2024.
[15] Eine alternative einfache Reaktion auf die Kritik wäre, dafür Sorge zu tragen, dass Kinder (und zivile Personen) in der Kriegsführung geschützt und ausreichend mit Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung versehen werden.
[16] „Sich auf die Handlungen des israelischen Staates und die unermüdliche Unterstützung, die er von den USA und ihren Bündnispartnern erhält, zu konzentrieren, wie wir es hier tun, bedeutet weder Gewalt zu begrüßen, noch sich zweideutig zu dem Wert unschuldiger Leben zu äußern. Aber so zu handeln, als ob die Geschichte der Gewalt mit dem Angriff der Hamas am 7.10.2023 begonnen hätte, stellt eine rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte und gegenüber palästinensischen und jüdischen Leben dar. Um die Gewalt zu beenden, müssen die Verhältnisse beendet werden, die Gewalt erzeugen.“ (https://aurdip.org/en/philosophy-for-palestine, letzter Aufruf: 10.9.2024; Übersetzung durch die Autorin).
[17] Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_nicknames_used_by_Donald_Trump; letzter Aufruf: 31.8.2024.