Anspruchsvolle Reparationen

Zur ökologischen Modernisierung der imperialen Lebensweise

Das Vernutzen der Natur zugunsten der Profitinteressen einer Minderheit kann mit dem Begriff der imperialen Lebensweise gefasst werden. Mit einer ökologischen Modernisierung dieser Lebensweise ist es nicht getan. Mit der aktuellen Forderung von Klimareparationen haben soziale Bewegungen eine Möglichkeit, um sowohl die Auswirkungen als auch die Ursachen der Klimakrise zu bekämpfen.

Im Sommer 2023 scheint sich in Europa etwas verändert zu haben. Die extremen Hochwasserkatastrophen, Dürreperioden und Waldbrände haben dazu geführt, dass weitgehend noch offensichtlicher und allgemein anerkannt ist: Der Klimawandel findet statt und hat teilweise katastrophale Auswirkungen. Zuvor erschien es vielen Menschen im Globalen Norden nur so, dass die natürlichen Lebensgrundlagen andernorts oder in ferner Zukunft gefährdet seien. Nun sind die Folgen für immer mehr Menschen unmittelbar spürbar.

Insbesondere die Klimabewegung und kritische Medien weisen seit einigen Jahren darauf hin, dass es inzwischen viel gesichertes Wissen zum Klimawandel gibt. So etwa im sechsten Sachstandbericht des Weltklimarates IPCC. Dort wird betont, dass sich bis zum Jahr 2020 die globale Durchschnittstemperatur seit Beginn der Industrialisierung bereits um 1,1 Grad erhöht hat. Dabei ist die Temperatur stärker auf dem Land als in den Ozeanen angestiegen – und in Europa stärker als im globalen Durchschnitt. Das erzeugt Hitzestress, gesundheitliche Schäden und vermindert das Wohlergehen, die Arbeitsproduktivität sowie die Konzentrations- und Lernfähigkeit. Klimawandelbedingte Schäden und Verluste nehmen insgesamt zu.

Die abrupten, nicht vorhersehbaren Veränderungen des globalen Klimas – sogenannte Kipppunkte – haben unabsehbare Folgen. Verursacht werden sie etwa durch das Abschmelzen von Gletschern, die Veränderung von Meeresströmungen oder das Auftauen von Permafrostböden und die damit einhergehende gewaltige Freisetzung von Methan.

Eine Zahl des Berichts sprengt dabei die Vorstellungskraft: 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen leben bereits heute in Kontexten, die stark vom Klimawandel betroffen sind. Das betrifft insbesondere jene Populationen im Globalen Süden, die historisch am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben – aber es gibt diese Populationen auch im Globalen Norden. Ernährungs- und Wasserversorgung werden nach dem Bericht des IPCC zunehmend zum Problem. In bestimmten Regionen steigt der Wasserbedarf für künstliche Bewässerung, insbesondere für die Landwirtschaft aufgrund der zunehmenden Trockenheit. Und die zunehmende Extremhitze erhöht die Sterblichkeitsraten.

Immer mehr Menschen müssen aus wirtschaftlichen, politischen und klimatischen Gründen ihr kippendes Lebensumfeld verlassen und werden zur Migration oder gar Flucht getrieben. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzte Mitte 2023, dass etwa 100 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Verfolgung, Krieg und Gewalt sind. Der Sommer der Migration 2015 war ein erster Höhepunkt massiver Fluchtbewegungen nach Europa. Das führt in den Zielländern zu Unsicherheiten und Ängsten, die vor allem von rechten Kräften politisch kapitalisiert werden. Die Antwort der Regierenden ist eine zunehmende Abschottung, wie etwa die 2023 in der EU verhandelte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).

Imperiale Lebensweise

Der Umgang mit der Klimakrise durch die Machteliten verdichtet sich in einigen Begriffen, die inzwischen nicht nur auf Fachtagungen verwendet werden, sondern einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind: grüne Wirtschaft, grüne Jobs und grünes Wachstum. Ein neues Zauberwort ist die Dekarbonisierung. Alles soll so weitergehen wie bisher, aber nicht mehr angetrieben mit fossiler Energie. Das ikonische Beispiel ist der angestrebte Umbau des Verkehrssystems von Autos mit Verbrennungsmotor zu solchen mit Elektromotor. Ansonsten bleibt alles intakt: Das Auto selbst, die produzierenden Konzerne, die Infrastrukturen, der globale Zugriff auf Rohstoffe – bei vermehrter Nachfrage nach Lithium, Kupfer oder Nickel für die Batterien – und die damit verbundene Lebensweise. Auch das Fliegen soll nicht auf der kurzen Strecke ersetzt und auf längeren Strecken auf das Notwendigste beschränkt werden, vielmehr werden Flugzeuge künftig mit Wasserstoff betrieben. Auch wenn niemand weiß, wo der klimafreundliche Strom herkommen sollen.

Das ist gesellschaftlich breit akzeptiert. Die Klimakrise wird zwar zuvorderst von den expansiven und imperialen Strategien des Kapitals und der unterstützenden Politik verursacht. Aber sie basiert auch auf dem ganz normalen Alltag vieler Menschen im Globalen Norden.

Markus Wissen und ich bezeichnen diese Verbindung kapitalistischer wirtschaftlicher und politischer Strukturen mit dem (Arbeits-)Alltag der Menschen als imperiale Lebensweise. Sie wird dadurch möglich, dass der Globale Norden auf die billigen Ressourcen und billige Arbeitskraft andernorts zugreift. Für die einen entsteht auf diese Weise Handlungsfähigkeit und materieller Wohlstand, aber auch – wenn politisch gewollt und erkämpft – eine funktionierende öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Für die Anderen bedeutet es eine fortschreitende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und eine Verfestigung von Abhängigkeitsverhältnissen. Im Wortsinn befeuert diese Lebensweise zudem die Klimakrise.

Die imperiale Lebensweise hat sich im Globalen Norden durch den Globalisierungsprozess der letzten 30 Jahre und insbesondere auch durch die Digitalisierung mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch vertieft. Systematisch greifen die Menschen auf High-Tech-Geräte, aber auch auf T-Shirts, Autos, Nahrungsmittel und anderes zu, was unterbezahlte Arbeitskräfte produzieren. Subjektiv erleben das viele Menschen als Wohlstand.

Die imperiale Lebensweise bedeutet dabei nicht, dass alle Menschen im Norden gleich leben, sondern sie basiert überall auf sozialer Ungleichheit und verschärft diese noch. Laut einer Ende September 2022 in der Zeitschrift Nature erschienenen Studie von Lucas Chancel emittieren seit 1990 die unteren 50 Prozent der Weltbevölkerung (gemessen an Einkommen und Vermögen) 16 Prozent der globalen Emissionen, die obersten 1 Prozent verursachen hingegen 23 Prozent der globalen Emissionen. Die Klimakrise ist zwar eine globale Herausforderung, doch sie wird insbesondere von einer kleinen Minderheit verursacht, die nicht nur auf Kosten anderer und der Natur lebt, sondern mit ihrem Vermögen und ihren Investitionsentscheidungen auch versuchen, die Verhältnisse so zu lassen, wie sie sind. Profitiert haben wenige, zahlen müssen (fast) alle. Das zeigt nicht nur den Wahnsinn unserer destruktiven Raserei auf, sondern auch die Illusion einer sogenannten Entkopplung – ein weiteres Mantra der grün-kapitalistischen Machteliten – von Konsum, Wachstum und Energie/Ressourcenverbrauch einerseits sowie ökologischer Zerstörung andererseits.

Aus einer geopolitischen Perspektive verstärken wirtschaftliche Globalisierung und die globale Ausweitung der imperialen Lebensweise den Bedarf an natürlichen Ressourcen in den Ländern des Globalen Südens. Die Konkurrenz um Land, etwa in Afrika, nimmt zu. Damit verstärken sich öko-imperiale Spannungen. Im Globalisierungsprozess der Nahrungsmittelindustrie werden Menschen von ihrem Land vertrieben, auf dem sie sich selbst ernähren konnten. Genau auf diesem Land wird dann Palmöl, Zuckerrohr oder Soja für die globalen Industrien und den Konsum im Norden angebaut.

Solidarische Lebensweise

Der Begriff der imperialen Lebensweise trifft das Unbehagen vieler Menschen: Unbehagen an autoritären politischen Tendenzen, sozialer Polarisierung und Bereicherung der Eliten.

»Was tun?« – die alte Frage Lenins sollten wir nicht mit Lenin beantworten. Genau das schlägt der schwedische Umwelthistoriker und Bewegungsintellektuelle Andreas Malm vor, wenn er von »Öko-Leninismus« spricht. Politische Kader aus den Bewegungen sollen den radikalen Umbau vorantreiben. Doch das läuft ins Leere, weil die sozialen Bewegungen zu schwach sind. Und das Problem besteht zum anderen gerade nicht darin, dass mit vermeintlich linken, autoritären ökologischen Politiken das fossile Kapitel eingehegt werden müsste. Das Problem geht tiefer und ein »Sturm auf den Winterpalais« wird im Kapitalismus kein Machtzentrum vorfinden, das durch einen Putsch übernommen werden könnte.

Wie können Alternativen zur imperialen Produktions- und Lebensweise aussehen? Es gibt vielfältige Widerstände und Vorschläge, wie etwa soziale Rechte verteidigt werden können, ohne dies auf Kosten anderer zu tun, sondern indem sie die Mächtigen und die mit ihnen verbundenen Herrschaftsverhältnisse infrage stellen. Der Umbau des Ernährungssystems in eine ökologische Landwirtschaft bedeutet eine andere Ernährungsweise und ein anderes, nicht industriell-globales Produktionssystem. Die Debatte um sozial-ökologische Infrastrukturen für ein ‚Gutes Leben‘ für alle hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Dabei geht es auch darum zu zeigen, dass solche Entwicklungen ohne Konflikte und Kämpfe nicht zu haben sind.

Internationale Solidarität ist aber auch nicht einfach die mit ‚dem Süden‘. Es bedarf auch der Kritik an der imperialen Lebensweise der Ober- und Mittelschichten in den Ländern des Globalen Südens. Deren Lebensweise trägt dazu bei, dass Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und Konsens geschaffen wird – zulasten der Ärmeren und der Natur.

Die Forderung nach Klimareparationen …

Die Klimabewegung hat in den letzten fünf Jahren erreicht, dass die Klimakrise breit erkannt und diskutiert wird. Doch die Kritik wird immer wieder von den Herrschenden eingefangen und uminterpretiert. Ein prominentes Beispiel für das letzte ist der »Europäische Grüne Deal«, den Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission Ende 2019 angekündigt hat. Es handelt sich um ein umfassendes Programm zur Dekarbonisierung der Wirtschaft, grüner Industriepolitik oder Sicherung der Energieversorgung angesichts zunehmender geopolitischer Konflikte. Allerdings wird der Plan allenfalls in einzelnen Branchen verwirklicht, denn die Widerstände von Kapitalseite sind zu groß. Zum anderen funktioniert der Deal zu Lasten der Gesellschaften des Globalen Südens, weshalb auch von ‚grünem Extraktivismus‘ oder ‚grünem Kolonialismus‘ gesprochen wird. Gegen diese Art der ökologischen Modernisierung der imperialen Lebensweise sind Kritik und Widerstand angebracht.

Aktuell entstehen neue klimapolitische Kampffelder. Neben der Eindämmung oder zumindest Abschwächung des Klimawandels geht es zunehmend um die Anpassung an diesen. Die konkreten Formen der Anpassung sind umstritten. Sind es vor allem technische ‚Lösungen‘? Welche Gruppen erhalten damit Möglichkeiten, um durch Anpassungsmaßnahmen weniger vom Klimawandel betroffen zu sein? Wer verdient an den Maßnahmen? Es sind jedenfalls eher die Menschen im Globalen Norden und die finanzstarken Konzerne, die profitieren.

Ein bedeutendes Thema ist, wie mit den Klimaschäden umgegangen werden soll, wenn etwa kleine Inselstaaten untergehen, weil der Meeresspiegel ansteigt oder weil es zu unfassbaren Überschwemmungen wie im Sommer 2022 in Pakistan kommt. In der offiziellen Politik wird das seit einigen Jahren als »Verlust und Beschädigung« (loss & damage) diskutiert. Schnell wird deutlich, dass bei den offiziellen Maßnahmen die nördlichen Akteur*innen die Prozesse kontrollieren wollen: Wenn sie anbieten, dass den Ländern des Globalen Südens im Gegenzug für Klimaschutz Schulden erlassen werden, dann diktieren sie oft die Bedingungen. Ob es am Ende zu einer Reduktion der Auslandsschulden kommt, ist dabei gar nicht sicher – aber es lassen sich die Emissionsreduktionen auf Klimabilanzen im Norden anrechnen. Das Thema wird zudem stark auf Finanzflüsse reduziert, an denen vielleicht auch die Südregierungen Interesse haben – jedoch oft zulasten lokaler Bevölkerungen.

… kann die soziale Frage neu stellen

Von sozialen Bewegungen werden eher das Thema der Klimaschulden und Klimareparationen stark gemacht. Dabei geht es erstens durchaus um finanzielle Kompensationen. Zweitens und viel zentraler geht es um die Anerkennung, wer die Hauptverursacher der Klimakrise sind, damit sie Verantwortung tragen. Und drittens geht es darum, dass Menschen auskömmliche und gerechte Lebensbedingungen haben und gestalten können: ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem etwa oder angstfrei leben zu können. Dabei wird nicht vergessen, dass vieles nicht repariert werden kann: Krankheit und Tod von vielen Menschen, Verlust an biologischer Vielfalt, abgeholzter Regenwald, ausgetrocknete Seen und Flüsse, kulturelle Errungenschaften. In anderen Fällen ist die Heilung von Menschen, Gemeinschaften und Natur möglich.

Die Frage der Klimareparationen kann sich, ähnlich wie Klimagerechtigkeit zu einer starken Forderung sozialer Bewegungen entwickeln. Diese Forderung kann etwas bewirken, was die Herrschenden fürchten: Die Veränderung von Strukturen und Machtverhältnissen, wie etwa Vormacht der Nordregierungen in vielen Angelegenheiten, die Schwächung der ‚fossilen Verbrecher‘ wie BP, Shell, ExxonMobil oder Chevron sowie ihre Financiers, die seit Jahrzehnten genau wissen, was für ein Desaster sie anrichten.

Es ginge bei Klimareparationen um die Frage von Selbstbestimmung und die Verfügung von Land, was in der nördlichen Klimabewegung oft ausgeblendet wird. Es ginge um bedingungslosen Schuldenerlass, denn die Schulden der Süd-Länder sind in vielen Fällen längst zurückbezahlt und eher ein Herrschaftsinstrument (wie es die Erlassjahr-Kampagne seit der Jahrhundertwende thematisiert).

Die Forderung nach Klimareparationen ginge dabei mit strukturellen Veränderungen in den Ländern des globalen Südens einher. Die Ursachen von Klimakrise, Klimakolonialismus und der unzureichenden internationalen Klimapolitik müssen angegangen werden. Das führt wieder zu der imperialen Lebensweise. Viele Fragen bleiben offen: die Art von Reparationen; oder im Falle von Finanzflüssen: von wem, für wen, wie viel, für was? Was sind kurzfristige und konkrete Forderungen, was sind langfristige Horizonte eines guten Lebens für alle?

Die Antwort ergibt sich aus vielfältigen Kämpfen. Und Klimareparationen wären dabei ein Lernfeld für praktizierten Antirassismus und für Geschichtsarbeit, bei der die Verletzungen der Betroffenen des Klima-Kolonialismus aufgearbeitet werden. Dabei könnte sich ein Feld internationaler Solidarität auf der Höhe der Zeit ausbilden.

 

Ulrich Brand arbeitet an der Universität Wien und hat vor inzwischen über 30 Jahren seinen ersten Beitrag für die »Blätter des iz3w« geschrieben. Im März 2024 erscheint sein gemeinsam mit Markus Wissen verfasstes Buch »Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven« im oekom-Verlag.