Gespenster aller Länder

Themeneditorial iz3w 394 (Jan./Feb. 2023) zu "Horror in Film und Literatur"

»Saúl, die Höllenfeuer warten schon auf dich.« Weihnachten hasst der mexikanische Unternehmer Saúl Coder ohnehin: Erst ein lästiger Angestellter, der um Unterstützung für sein todkrankes Kind bittet; dann der nervige Neffe, der zum Weihnachtsessen einlädt; und nun kehrt auch noch sein alter Geschäftspartner aus der Hölle zurück. Weihnachten? Tonterías – Humbug. Dann nehmen drei Geister Saúl mit auf eine Rundreise durch Mexiko-Stadt und erschrecken ihn dabei vor den Konsequenzen seines Handelns.

Das »Cuento de Navidad« (Mexiko 1999) ist eine Adaption von Charles Dickens »A Christmas Carol« als fünfzehnteilige Telenovela. Der sozialkritische Stoff aus Zeiten der industriellen Revolution funktioniert auch für ein mexikanisches Publikum, das um die Jahrtausendwende schwer mit den Folgen der Peso-Krise kämpft. Der sozialkritische Schriftsteller Dickens verfasste übrigens über zwei Dutzend Geistergeschichten. Die Gothic Fiction (Schauerliteratur) ist ein Genre für turbulente Zeiten: Schon im 19. Jahrhundert verwies es auf den feudalen Muff unter der Oberfläche der neuen bürgerlichen Ära. Allen voran hat sich das Kino im 20. Jahrhundert den Stoff des Gothic zu eigen gemacht. Die US-Filmindustrie vermarktete solche Filme in den 1930er-Jahren erstmals als »Horror«.

 

                Wenige Jahrzehnte später kennt das Grauen keine Grenzen mehr: Längst heulen die Werwölfe nicht mehr nur in London oder Paris, sondern auch in São Paolo (»Die guten Manieren«, 2018). Das westliche Gespenst hat seine globalen Entsprechungen gefunden: Auf den Leinwänden Guatemalas fordert »La Llorona« (2019) Gerechtigkeit für den Bürgerkrieg, in Indonesien erinnern als Kuntilanak bezeichnete Frauengeister an die Traumata der Suharto-Diktatur und in Japan rächen sich Onryō für erlittene patriarchale Gewalt. Als »Globalgothic« bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin Glennys Byron diese Globalisierung des Horrors. Das hängt mit der weltweiten Expansion der Filmindustrie zusammen, aber auch mit dem realen Schrecken des Neoliberalismus. Der globalen Anpassung der wirtschaftlichen Struktur folgt die Angleichung der Ängste und ihrer Artikulationsformen.

Wie einst im ursprünglichen Gothic die verlassenen Schlösser des Feudalismus als Orte des Spuks in die bürgerliche Ära hineinragten, so sind es heute die globalen Ruinen des geplatzten Traums von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in denen das Grauen haust: Von den vom Immobiliencrash gezeichneten Vororten Detroits (Barbarian, 2022) bis zu den bleivergifteten Ufern des Riachuelo in Buenos Aires. Das sind düstere Aussichten: Eine Vergangenheit, die, wie Marx schrieb, »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« lastet und eine Zukunft, in der wir, wie David Cronenberg zeigt, Plastik fressen müssen (Crimes of the Future, 2022). Der »Train to Busan« (2016) rast mit Hochgeschwindigkeit, doch auch am Zielbahnhof lauern die Zombies – und weil jede*r um das eigene Überleben kämpft, liegt der Griff nach der Notbremse fern.

 

                Da wird es unheimlich, oder im Sinne der Wortbedeutung: un-heimelig. Den das Un-heimliche verweist gerade auch auf den Schrecken, der hinter dem Vertrauten lauert. Und weil auf den Schrecken der Normalität zu verweisen immer schon Anliegen der iz3w ist, proklamieren wir: Gespenster aller Länder, vereinigt euch! Die Frage, was Horror und Gesellschafskritik verbindet, vertieft im Einleitungsartikel Georg Seeßlen (Seite 23). Danach bleiben wir dem globalen Spuk anhand ausgewählter Beispiele auf der Spur: Wie die argentinische Literatur Horrormotive nutzt, um die Schrecken von Diktatur und Postdiktatur auszudrücken, zeigt Nikolas Grimm (Seite 26). Dass sich realer und fiktiver Schrecken oft in nichts nachstehen, betont Rosaly Magg am Beispiel vom Horror der Flucht und Migration (Seite 36). Dazu gibt es zwei schaurige Interviews: mit dem Autor Mark H. Harris über Horror und Rassismus in den USA (Seite 32); und was Dracula in Istanbul treibt, erklärt uns der Regisseur Cem Kaya (Seite 40).

Un-heimlich wird es auch da, wo die Sehnsüchte der Weihnachtszeit auf die Realität der bürgerlichen Familie treffen. Nicht umsonst gibt es das Subgenre des Holiday-Horror. Da heißt es Vorsicht, werte Leser*innen, um nicht vom Weihnachtsbaum (Treevenge, 2008) oder von bösen Schneemännern (Jack Frost, 1997) gefressen zu werden. Und falls es bei der politischen Weihnachtsdebatte im Familienkreis doch zu gruselig wird: Man verstecke sich einfach hinter dieser arglosen iz3w! Das Titelmotiv stammt übrigens von der argentinischen Künstlerin Dolores Alcantena und ist von der Kurzgeschichte »Der Hof nebenan« von Mariana Enríquez inspiriert. Dort geht es um toxische Familienverhältnisse und Schuldgefühle, die einen verzehren können – und das im wörtlichen Sinn.

 

Wir wünschen angenehmes Gruseln

die redaktion