Ein kommunikationswissenschaftlicher, aber nicht nur wissenschaftlicher Beitrag zum 50. Geburtstag
Seit ihrer Gründung vor 50 Jahren ist die Graswurzelrevolution (GWR) ein zentrales Medium der gewaltfrei-anarchistischen Szene
und vieler befreundeter Bewegungen. In seinem Beitrag zum Jubiläum betrachtet der Kommunikationswissenschaftler Armin Scholl die GWR, ihre Rolle in der Zeitungslandschaft und ihre diversen Funktionen für Aktivist*innen und den Diskurs. (GWR-Red.)
Als Horst Stowasser das (sein) Projekt A plante und Mitte der 1980er-Jahre als Broschüre herausbrachte, ging es auch um die Frage, wie anarchistische Ideen verbreitet werden können. Anarchismus hat bekanntlich nicht die beste Presse, wird mit Chaos in einem Atemzug genannt, und irgendwie hält sich hartnäckig das Bild vom Bombenleger. Stowasser hat seinerzeit unterschieden zwischen einem internen Bulletin (einer Art Intranet) und einer eigenen lokalen Zeitung, die über das Geschehen (aus anarchistischer Perspektive) berichtet. Im Prinzip leistet die Graswurzelrevolution beides. Und vielleicht verdankt sie ihren Erfolg genau dieser doppelten Funktion, dass sie sowohl der Verständigung nach innen – innerhalb der gewaltfreien anarchistischen Szene – dient als auch der Mitteilung nach außen. In der Tat wird die Graswurzelrevolution nicht nur in verschiedenen linken Kreisen gelesen, sondern auch im bürgerlichen Milieu (und sogar abonniert). Gleichzeitig berichtet sie in Konkurrenz zu den bürgerlichen Nachrichtenmedien (Zeitungen, Rundfunk), versteht sich als (links-)alternatives Medium, das Themen aufgreift, die anderswo vernachlässigt werden, das Meinungen ausdrückt, die in anderen Medien unterdrückt oder an den Rand gedrängt werden, das über Menschen berichtet, die in der Mehrheitsgesellschaft als Außenseiter*innen behandelt oder ignoriert werden.
Konnte man früher, in der Folge der 1968er, also in der Gründungszeit der Graswurzelrevolution (1972), bis weit in die 1990er-Jahre Alternativmedien prinzipiell als progressive, emanzipatorische Projekte verstehen, haben sich mittlerweile auch rechte, rechtsradikale Alternativmedien etabliert, die einen völlig anderen Anspruch haben. Alternativ bedeutet im Allgemeinen einfach, „anders als das Normale“ zu sein, egal wo das Andere steht. Es wird also zur Herausforderung, progressive Alternativmedien klar von regressiven Alternativmedien unterscheiden zu können. Wer einmal den Versuch gemacht hat, die Symbole der linken Autonomen eindeutig von den Symbolen der „Autonomen Nationalisten“ zu trennen, weiß, was ich meine. Die Trennungslinie verläuft auch nicht eindeutig zwischen linker und rechter Gesinnung, denn es gibt auch jede Menge linker Gruppierungen und Medien, deren Gesinnung nicht freiheitlich, herrschaftskritisch oder gewaltfrei ist. Solche linksdogmatischen Medien sind oft Propagandaorgane autoritärer kommunistischer Parteien.
Klare Linie statt Propaganda
Im Impressum bekennt sich die Zeitung Graswurzelrevolution klar zu den Zielen eines gewaltfreien Anarchismus und formuliert als ihre Aufgabe, „Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreiten und weiterzuentwickeln.“ Ist die GWR also auch ein Propagandamedium – nur eben für Gewaltfreiheit, Herrschaftskritik, Rassismuskritik usw.? Ja und nein: Etwas zu propagieren, klingt zunächst neutral und ist selbstverständlich legitim. Erst das Substantiv Propaganda hat einen negativen Beigeschmack, weil es durch einen Kommunikationsstil gekennzeichnet ist, der nicht vor Desinformation, Diffamierung und Denunziation zurückschreckt. Staatliche Propaganda wird von Geheimdiensten gemacht und spielt eine herausragende Rolle in Kriegen, wenn die (eigene) Bevölkerung auf Linie gebracht werden soll, um die Kriegsbeteiligung des eigenen Landes zu legitimieren. Ich würde übrigens nicht jede Stellungnahme pro Krieg als Instrument in einem Konflikt für Kriegspropaganda halten, wenngleich eine solche Position aus pazifistischer Sichtweise eindeutig abzulehnen ist. Es ist in erster Linie eben der Stil und nicht unbedingt der Inhalt, der Kommunikation als Diskussion, Debatte auf der einen Seite charakterisiert oder als Propaganda auf der anderen Seite. „In erster Linie“ meint allerdings nicht „immer“, denn es gibt Meinungen und Positionen, die inhaltlich so menschenverachtend sind, dass sie auch vom Kommunikationsstil gar nicht anders als von Hass geprägt und propagandistisch-manipulativ auftreten.
In den bürgerlichen Medien gibt es die so genannte redaktionelle Linie. Das ist die vom Verlag verfolgte politische Linie, die sich in der Berichterstattung niederschlägt, jedoch ohne direkt die Position einer bestimmten Partei zu propagieren. Die Unabhängigkeit bürgerlicher Medien wird dadurch gewährleistet, dass es sozusagen eine weltanschauliche Leitlinie gibt, die aber nicht zum Sprachrohr einer bestimmten Partei werden darf. So ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) konservativ, steht damit der CDU näher als anderen Parteien, berichtet aber auch kritisch über die CDU. Auch die Tageszeitung (taz) ist zwar im grünen Milieu verankert, berichtet aber durchaus kritisch über Bündnis 90/Die Grünen. Überträgt man diese liberale Vorstellung von Journalismus und Medien – zumindest von der Idee her – auf die libertäre Graswurzelrevolution, würde ich die weltanschaulichen Leitlinien (siehe Impressum) und das Einstehen für diese Ziele durch ihre Publikation gerade nicht als Propaganda einstufen. Der Kampf gegen Sexismus, Rassismus, Militarismus, Naturzerstörung, Unterdrückung, Ausbeutung wird nämlich kommunikativ als Diskurs und Debatte und nicht als Verkündung, als autoritäre Vorgabe ausgetragen.
Hierarchiefrei und selbstkritisch
Was ein progressives Alternativmedium zudem ausmacht, ist die Organisation der Redaktion. Der Herausgeber*innen-Kreis der Graswurzelrevolution agiert kollektiv und ohne Hierarchie. Hier gibt es keine Chefredaktion wie in den bürgerlichen Medien, die im Einzelfall durchsetzt, dass eine Tierbefreiungsaktion sprachlich als terroristischer Akt ausgedrückt wird. Natürlich finden auch in der Graswurzelrevolution Auswahlprozesse statt: Einen anti-anarchistischen Artikel kann ich mir kaum vorstellen. Aber die Berichterstattung ist nicht nur kritisch gegenüber bürgerlichen Ideologien (Neoliberalismus) oder autoritären Ideologien (neben faschistischen auch orthodox-kommunistischen), sondern – und genau das unterscheidet sie von Propaganda – auch selbstkritisch. Die Graswurzelrevolution ist kein unkritisches Sprachrohr egal welcher Richtung des Anarchismus. Und sie lässt Basisinitiativen selbst zu Wort kommen. Sie ist also in verschiedenen Hinsichten binnenpluralistisch. Selbst das hat sie mit den qualitativ hochwertigen bürgerlichen Medien gemein, wenngleich der Bereich des Sagbaren jeweils sehr unterschiedlich ist.
Arm, aber frei
Ein wichtiger Aspekt ist die Finanzierung: Hier liegen die größten Unterschiede zu den bürgerlichen Medien, denn diese sind weitgehend gewinnorientiert. Selbst die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind dem ökonomischen Konkurrenzdenken verhaftet: Um die teuren Übertragungsrechte von sportlichen Großereignissen (Fußball-WM, Olympische Spiele) zu ermöglichen, muss zusätzliches Geld über Werbung oder Sponsoring reinkommen, oder das Budget wird so umgewidmet, dass wichtige andere Aufgaben wie die kritische Berichterstattung unter den Tisch fallen oder an den Rand gedrängt werden. Die Abhängigkeiten von Finanzen und staatlichen Regulierungen (nicht nur in Diktaturen!) sind die größten Probleme für die Freiheit und Unabhängigkeit bürgerlicher Medien.
Blätter wie die Graswurzelrevolution sind arm, aber frei. Sie erkämpfen sich, wenn‘s sein muss, mit zivilem Ungehorsam, diese Freiheit gegen Repressionen (Beobachtung durch Verfassungsschutz und alle möglichen staatlichen Schikanen) und Missachtung. Sie sind in diesem Sinn auf der einen Seite autonom, aber auf der anderen Seite abhängig von ihrem Publikum und dessen Unterstützung durch dauerhafte Nutzung der Zeitung, eventuell von finanziellen Zuwendungen über das regelmäßige Abo hinaus. Publikationsorgane wie die Graswurzelrevolution sind zudem angewiesen auf kritische Reaktionen auf die Berichterstattung, sie brauchen die Szene, das Milieu, in dem sie existieren können, in dem sie sich bewegen und damit auch etwas bewegen.
Dafür bekommt die Leser*innen-schaft der Graswurzelrevolution jede Menge Leistungen: Informationen über das eigene Milieu, weltanschauliche Theoriebildung, praktisches Anschauungsmaterial aus vielen aktivistischen Gruppierungen mit vielfältigen Aktionsweisen, Kritik an gesellschaftlichen Missständen in einer grundlegenden und radikalen Art und Weise, wie man sie in den bürgerlichen Medien nicht finden wird. Wobei ich nicht ausschließen würde, dass der eine oder die andere Redakteur*in der Qualitätspresse (1) Anregungen aus der Graswurzelrevolution für die eigene Berichterstattung bekommt. Damit sind wir bei einem Punkt, der für die Leser*innen von besonderem Wert ist oder sein sollte: In der Graswurzelrevolution findet jede Menge investigativer Journalismus statt, also jene journalistische Leistung, die mit aufwändiger Recherche Missstände und Machenschaften aufdeckt, die dahinter liegenden Strukturen öffentlich macht und kritisiert.
Presse gegen Bedeutungslosigkeit
Ohne es mit Studien gemessen zu haben, wage ich die These, dass ein politisches Milieu wie der Anarchismus ohne mediale Unterstützung, ohne die Herstellung von Öffentlichkeit gesellschaftlich bedeutungslos wäre. Wer jetzt abfällig kommentiert: Das ist der Anarchismus sowieso, weil selbst in progressiven sozialen Bewegungen das reformistische Gedankengut überwiegt, im Zweifelsfall nach der revolutionären Jugendphase die brave Rückkehr in den Schoß der bürgerlichen Familie und des Staates erfolgt, hat meines Erachtens ein sehr absolutes Verständnis von gesellschaftlichem Fortschritt. Die Impulse für die emanzipatorische Entwicklung einer Gesellschaft sollten bei allen zu beobachtenden Rückschritten nicht unterschätzt werden. Und wer weiß, in welcher Barbarei wir leben würden, wenn es radikale progressive Gesellschaftskritik nicht gäbe und diese nicht durch Medien wie die Graswurzelrevolution öffentlich kommuniziert würden.
Zähigkeit und Ausdauer
Dass es die Graswurzelrevolution bereits seit 50 Jahren gibt, grenzt in anarchistischen Kreisen an ein Wunder. Anscheinend hat die Zeitung so viel Kraft, dass sie immer wieder Impulse zur Erneuerung bekommt. Sie hat mehr Leben als die sprichwörtlichen sieben Leben der Katze. Diese Zähigkeit und Ausdauer machen sie zu einer Ausnahmeerscheinung anarchistischer Publikationen. Das kann man gut nachlesen in Bernd Drückes Dissertation „Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?“, die trotz ihres Alters (1998) von eindrücklicher Aktualität ist. Bernd war schließlich selbst der langjährigste verantwortliche Redakteur der Graswurzelrevolution.
Armin Scholl
Anmerkung:
(1) Der Begriff „Quality Press“/„Qualitätspresse“ bezeichnet besonders auflagenstarke und überregionale Zeitungen, die sachorientierte und gut recherchierte Berichterstattung in den Mittelpunkt stellen (im Gegensatz zur Boulevardpresse). Sie haben damit großen Einfluss auf die Meinungsbildung und den gesellschaftlichen Diskurs.
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 466, Februar 2022, www.graswurzel.net