Überleben im Mediensystem – gegen das Mediensysten

Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse zum 45. Geburtstag der Graswurzelrevolution

Im Juni 1972 erschien die Nullnummer der Graswurzelrevolution. Kaum jemand hätte damals gedacht, dass es diese Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft 45 Jahre später, im Juni 2017, immer noch geben würde. Wir haben den Kommunikationswissenschaftler Armin Scholl gebeten, die GWR unter seine wissenschaftliche Lupe zu nehmen. Das Ergebnis seiner Analyse ist für uns Anregung und Ansporn zugleich. (GWR-Red.)

 

Als vor fünf Jahren in Münster der 40ste Geburtstag der Graswurzelrevolution mit einem dreitägigen Kongress gefeiert wurde, beschäftigte sich ein Arbeitskreis mit der Zukunft der Zeitschrift.

Eigentlich muss einem darum nicht bange sein, wenn ein anarchistisches Medium nicht nach einem oder zwei Jahren sein Erscheinen einstellt, sondern zu einer permanenten kritischen Beobachtung der Gesellschaft fähig ist und zu einer Konstante im anarchistischen Diskurs wird. Aber wegen der starken Verbreitung sogenannter sozialer Netzwerke wurde insbesondere von jüngeren Diskutierenden der Vorschlag in die Runde gebracht, ob die GWR nicht zu einem Online-Medium entwickelt werden könne. Den Web-Auftritt der GWR gab es bereits, aber auch Facebook, Twitter und Co. könnten ebenfalls eine Plattform für die Verbreitung anarchistischer Debatten bieten.

Das ökonomische Argument, dass damit auch die Produktionskosten gesenkt werden könnten, hat durchaus etwas für sich  darauf komme ich gleich zurück. Wir Älteren jedenfalls waren skeptisch, denn diese Portale sind sämtlich nicht die Organe der Gegenöffentlichkeit, sondern Datenkraken, welche der kommerziellen und politischen Fremdbestimmung Tor und Tür öffnen. (Dies ist nicht ausnahmslos richtig, denn immerhin können sich Flüchtlinge mit Google Maps orientieren, und während des Arabischen Frühlings wurden Twitter und Facebook geradezu für revolutionäre Zwecke benutzt.)

 

Wozu Gegenöffentlichkeit?

 

Mit dem politischen Anspruch auf Gegenöffentlichkeit begannen soziale Bewegungen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, sich aus der Abhängigkeit der etablierten Medien zu lösen. Ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk oder die Presse, insbesondere der Springer-Konzern und seine BILD-Zeitung, eine faire Berichterstattung über Proteste, schon gar nicht, wenn diese radikal wurden, war von diesen Medien kaum zu erwarten. Warum also nicht das Heft selbst in die Hand nehmen und gegen den Mainstream eine eigene Öffentlichkeit, die Gegenöffentlichkeit, aufbauen. Die Herstellung alternativer Medien hatte aber ökonomische Grenzen: An eine Tageszeitung war (zunächst) nicht zu denken, ebenso wenig an alternative Fernsehsender. Aber es entstanden zahlreiche Szene-Organe, freie Radios, später auch Videogruppen, die teilweise staatlicherseits kriminalisiert wurden. Und sie blieben meist in einer gegenöffentlichen Nische, ohne allzu viel Resonanz in die bürgerlichen Medien oder in die breite Bevölkerung hinein zu entwickeln. Erst mit der Tageszeitung (taz) entstand eine alternative Zeitung, die aber bereits in ihrer Gründung vom Zwiespalt geprägt war, häufig und in kritischer Solidarität über die sozialen Bewegungen (Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung usw.) zu berichten, und professionell Journalismus zu machen (also wie die etablierten Massenmedien, nur eben politisch weiter links).

Über die Entwicklung der taz zu einer bürgerlichen Zeitung will ich mich hier nicht ausbreiten.

Aber die GWR gedieh in diesem Kontext und blieb ihrem Anspruch als alternativem und anarchistischem Medienorgan bei allem Wandel und bei chronischer Unterfinanzierung treu.

 

Friedensjournalismus und radikale Propagandakritik?

 

Ich will im Folgenden ein paar Herausforderungen an ein alternatives Medienorgan wie die GWR formulieren und mich dabei auf zwei auch in der anarchistischen Szene bekannten Theoretiker (und Aktivisten) beziehen: Gemeint sind der Friedensforscher Johan Galtung und der Linguist und USA-Kritiker Noam Chomsky. Ein wichtiges Anliegen der GWR ist die friedensorientierte Berichterstattung über (gewaltsame) Konflikte und Kriege, die aus der grundlegenden Idee der Gewaltfreiheit hervorgeht. Galtung hat den etablierten Massenmedien vorgeworfen, dass sie über Kriege berichten wie über einen (militärischen) Wettkampf, dass sie sich oft auf eine Seite der Kriegstreiber schlagen, dass sie Krieg als Mittel zur Lösung eines Konflikts akzeptierten, dass sie sich zu rein militärstrategischen Überlegungen hinreißen lassen und dabei die betroffene Zivilbevölkerung aus dem Auge verlieren oder zu einer passiven und zu beherrschenden Masse degradieren. Dem stellt Galtung sein Konzept des Friedensjournalismus gegenüber (1): Berichterstattung solle früh einsetzen, wenn Konflikte auftreten und nicht erst, wenn sie bereits in Gewalt ausgeartet sind; sie solle lösungsorientiert für alle Beteiligten sein (statt nach dem Gewinner-Verlierer-Schema); sie solle die Opfer nicht gegenseitig aufrechnen, um Propaganda für die eine oder andere Seite zu machen, sondern generell aus der Perspektive der Zivilbevölkerung berichten. Natürlich weiß Galtung, warum die Medien so kriegsorientiert berichten, wie sie es tun: dass es der kommerziellen Logik geschuldet ist, unbedingt Aufmerksamkeit zu erzeugen und sich zu verkaufen; dass es zudem in ihrer politischen Logik liegt, einseitig die eigene politische Verfassung (liberal-repräsentative Demokratie) als die richtige anzusehen, selbst wenn diese in der Praxis zu verheerenden Folgen führt (siehe EU-Flüchtlingspolitik, Abschottung der Außengrenzen usw.). Dennoch richtet er seine Forderungen an die professionellen Journalisten der etablierten Medien – in der Hoffnung, dass sie in der Lage sind, die kommerzielle und die ideologische Logik zumindest teilweise zu durchbrechen. Positive Beispiele gibt es durchaus, etwa die Sendung „Weltspiegel“ in der ARD, die sonntags über andere Länder nicht vorurteilsgeladen und nicht nur über kriegerische Auseinandersetzungen berichtet.

Hoffnung in die Selbstreformierung der etablierten Massenmedien hat der US-Amerikaner Noam Chomsky nicht. Den extrem kommerzialisierten und ideologisierten US-Fernsehsendern stehen nur kleine und zuschauerarme gemeinwohlorientierte Sender gegenüber. Chomsky kritisiert aber auch die international hochgeschätzte Qualitätspresse (New York Times, Washington Post) für ihre ideologische und propagandistische Berichterstattung.

Er wirft allen US-Medien vor, dass sie die Menschenrechtsverletzungen der USA oder befreundeter Länder ignorieren oder schönreden, wohingegen sie die Gewalttaten missliebiger Staaten kritisieren und dies oft, um indirekt die Kriege des eigenen Landes (damit) zu rechtfertigen. Chomsky zählt fünf Gründe für solche Fehlleistungen des Journalismus und der Medien auf: die Eingebundenheit in kapitalistische Besitzverhältnisse, die Abhängigkeit von kommerzieller (werblicher) Finanzierung, die Abhängigkeit von offiziellen Quellen (Regierungen), der massive Druck von Lobbyisten und Mächtigen sowie die ideologische Verwurzelung (in den Kapitalismus).(2) Er setzt seine Hoffnung einzig in Alternativmedien, weil nur sie aus dieser Logik ausbrechen können, wohingegen positive Beispiele in etablierten Medien als Feigenblatt dafür missbraucht werden, dass die Medien doch eigentlich besser seien als ihr Ruf.

Ich würde die beiden Ansätze nicht gegeneinander ausspielen. Auf den ersten Blick ist Chomskys Kritik radikaler und sie scheint mehr vom anarchistischen Revolutionsgeist durchdrungen zu sein als Galtungs, sagen wir, versöhnlicher erscheinendes Konzept. Aber auch dies birgt eine subtile Radikalität, weil es die etablierten Massenmedien nicht abschreibt, sondern sie in die Pflicht nimmt. Selbst wenn einzelne Journalist*innen (etwa Auslandskorrespondent*innen) letztlich nicht über die Gesamtrichtung ihrer Zeitung oder ihres Fernsehsenders bestimmen können, stehen sie in der individuellen Verantwortung für ihre Berichterstattung und können quasi von innen und unten etwas bewirken.

 

Propaganda und/oder Diskurs?

 

Ich halte das nicht für blauäugig, denn auch für radikale Medien wie die GWR stellt sich immer die Frage nach der Resonanz: Will man in erster Linie die eigene Szene bedienen? (Schon das ist kompliziert genug, weil auch hier zum Teil heftige Kritik geübt wird und sich manchmal jemand oder eine Gruppe vor den Kopf gestoßen fühlt.) Oder will man eine größere Resonanz in breitere Bevölkerungsschichten hinein bekommen? Und wenn, dann zu welchem „Preis“?

Ich hatte vor einiger Zeit eine kleine Kontroverse mit einem der Herausgeber*innen der GWR, weil ich die GWR als Beitrag zum öffentlichen Pluralismus angesehen habe, wohingegen er darauf bestand, dass die GWR nicht einfach das liberale Spektrum verbreitern wolle, sondern Propaganda für gewaltfreien Anarchismus anstrebe. (Der Widerspruch ist eigentlich kein richtiger, weil es sich um einen Perspektivwechsel handelt: Die erste Position ist eher der Blick von außen, letzteres ist eher der Blick von innen.)

Ich bin, was den Propagandabegriff angeht, sehr skeptisch, wie die obigen Ausführungen zeigen, aber um den Begriff allein geht es mir nicht, sondern um das dahinter steckende Kommunikationsverständnis: Selbstverständlich soll die GWR nicht einen wie auch immer gearteten Pluralismus (innerhalb des anarchistischen Spektrums) einfach abbilden, sondern gesellschaftlich eingreifen im Sinn der Graswurzelidee.

Die im Wort Propaganda enthaltene Vorstellung der Einwegkommunikation (A überzeugt/überredet/überwältigt B, damit B dann As Position übernimmt) sollte jedoch nicht angestrebt werden.

Gerade die im Anarchismus als offen gedachte Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung ist bei aller Radikalität in der Kritik am gegenwärtigen Zustand offen für Korrekturen. Und diese Korrekturen kommen auch durch die Konfrontation mit eben diesem kritisierten Zustand der Gesellschaft zustande; es sind keine reinen „Selbstkorrekturen“.

Wenn man sich die vielen Irrtümer der klassischen Anarchist*innen vergegenwärtigt (Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus von Proudhon, Gewaltbefürwortung von Bakunin und vieles mehr), dann sind solche Korrekturen notwendig. Dafür muss man die grundlegenden Ideen nicht aufgeben. Galtung und Chomsky sind beide jedenfalls keine Opportunisten geworden, obwohl sie im nicht gerade anarchistisch organisierten Wissenschaftssystem Erfolg hatten. Und auch die GWR hat in der kapitalistischen Medienwelt gegen diese Bestand – ökonomisch und ideologisch.

Meines Erachtens rührt dieser Erfolg daher, dass die Graswurzelrevolution ein Organ des Diskurses ist und dabei eine klare Haltung kommuniziert.

 

Armin Scholl

 

Dr. phil. Armin Scholl ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Uni Münster.

 

Anmerkungen:

1) Galtung, Johan (1998): Friedensjournalismus: Was, warum, wer, wie, wann, wo?, in: Wilhelm Kempf & Irena Schmidt-Regener (Hg.): Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien, Münster: Lit: 3-20. Weitere Informationen findet man auf der Homepage der Journalistin Nadine Bilke (www.friedensjournalismus.de) und auf der Homepage der GWR (www.graswurzel.net/news/friedensjournalismus.shtml).

2) Noam Chomsky hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde auch oft in der GWR behandelt und Texte von ihm wurden ins Deutsche übersetzt und in der GWR veröffentlicht; hier einige deutsche Übersetzungen: Chomsky, Noam (2001): Wege zur intellektuellen Selbstverteidigung. Medien, Demokratie und die Fabrikation von Konsens, hrsg. von Mark Achbar, Grafenau: Trotzdem-Verlag; Chomsky, Noam (2003): Media Control. Wie die Medien uns manipulieren, Hamburg: Europa-Verlag; Chomsky, Noam (2005): Lügen unserer Zeit. Über die Widersprüche von Demokratie und Propaganda, Hamburg: Europa-Verlag.

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 420, Sommer 2017, www.graswurzel.net