Lockdown im Schuldturm?

in (10.03.2021)

Läuft Ausbeutung heute über Verschuldung statt über Arbeit? Spätestens seit der Krise 2008 gelten Schulden Vielen als eine Art finsteres Kerngeheimnis des Kapitalismus, das es zu enthüllen und skandalisieren gilt. Weil der Corona-bedingt stockende Wirtschaftsmotor eine Pleitewelle befürchten lässt, erhält diese Sicht derzeit neuen Auftrieb – unter anderem im Dokumentarfilm Oeconomia von Carmen Losmann.

Immer wieder Schuldenkrisen
Es ist interessant zu entdecken, wo überall Schulden drinstecken. Wir wissen, dass Schuldenstände allerorts im Steigen begriffen sind, und gleichzeitig Vermögen steigen. Wir hören von hoffnungslos überschuldeten Menschen, die im aussichtslos scheinenden Kampf gegen Übervorteilung und Existenzverlust bei der Schuldnerberatung landen. Wir hören von Staaten, die in die Schuldenkrise geraten, ja ganzen Staatengruppen wie in der internationalen Schuldenkrise, die in den 1980er Jahren den globalen Süden traf, oder der Asienkrise Ende der 1990er Jahre.
Als eine der zentralen Ursachen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gilt das Wachstum der Verschuldung privater Haushalte in den Jahren davor, das mit der Immobilienpreisblase in den USA und vielen anderen Ländern einherging. Private Verschuldung war in Ländern wie den USA ein zentraler Stützpfeiler, mit dem der Konsum privater Haushalte und ihren belebenden Wirkungen auf den Wirtschaftskreislauf auf hohem Niveau gehalten wurde. Der Finanzsektor lukrierte lange Zeit gute Einkünfte aus der Kreditvergabe und dem Schnüren von daraus abgeleiteten Finanzprodukten, die im Finanzsektor gehandelt werden konnten. Der Staat förderte jahrzehntelang die Privatverschuldung insbesondere für den privaten Immobilienerwerb mithilfe von Garantien und Zinsbegünstigungen. Denn das war die politisch bequemere (und mit der Ideologie des Besitzindividualismus kompatiblere) Form der Unterstützung armer Bevölkerungsteile als andere Formen öffentlicher Aktivität (sozialer Wohnbau, steuerfinanzierte Umverteilung etc.), und gleichzeitig auch eine Form der Sozialisierung der damit für den Finanzsektor verbundenen Risiken. Das Wirtschaftsmodell erhielt das Etikett „privatisierter Keynesianismus“, weil die mit dem Ökonomen John Maynard Keynes assoziierte Politik der kreditfinanzierten Wirtschaftsstabilisierung in diesem Modell von den Haushalten getragen wurde, während der Staat sich auf Moderation zurückzog. In der Covid-Pandemie fiel diese Rolle notgedrungen wieder an den Staat zurück.

Dass die Aufnahme von Schulden der Wirtschaft nützt, und dass die Bedienung von Schulden die Betroffenen überfordern kann, ist richtig. Doch es ist verkehrt, daraus abzuleiten, dass Kreditaufnahme grundsätzlich ein den Betroffenen verordnetes reines Übel sei.

Schulden als Mittel zum Zweck
Wer Schulden als Mühlstein kennt, der arme Menschen und Staaten in der Armutsfalle hält, stellt bei genauerer Untersuchung womöglich erstaunt fest, dass nicht jede Schuldnerkarriere unausweichlich in Pleite und Pfändung endet. Firmen, Banken, Staaten, vermögende Einzelpersonen – sie alle verschulden sich regelmäßig aktiv und freiwillig. Weil Kredite für sie ein Werkzeug darstellen, große Vorhaben zu finanzieren, die künftigen Ertrag versprechen. Sogar Geld selbst ist nicht bloß der viel zitierte bedruckte Zettel Papier in begrenzter Stückzahl, sondern eine Art Schuldschein der ausstellenden Instanz, die für dessen Werthaltigkeit geradesteht: Die Zentralbank für das Bargeld, die Banken für die Kontoguthaben. Und wer Geld im Zuge eines Kredits kriegt, muss seinerseits einen Schuldschein ausstellen und hinterlegen, sich also zur Rückzahlung zu einem späteren Zeitpunkt zum jeweils geltenden Zinssatz verpflichten.
Im Unterschied etwa zu einer Goldwährung (wo Vermögensaufbau Hortung bedeutet, und infolge der Wirtschaftskreislauf durch Zahlungsmittel-Entzug gestört wird) kann mit kreditbasiertem Geld sowohl jemand Vermögen in Form eines Guthabens bilden, das ein Anrecht auf eine Kreditrückzahlung enthält, während gleichzeitig jemand anders (der/ die Rückzahlungspflichtige) inzwischen mit dem vorgeschossenen Geld wirtschaftliche Aktivität betreiben kann.
Das mag vielen Menschen nicht bewusst sein, und hilft, die Welt besser zu verstehen. Aber die populäre Vermutung trügt, Schulden und Zinsen seien die geheim gehaltenen Triebfedern des gesamten Wirtschaftssystems, deren Beseitigung sinnvoll wäre, damit sich alles in Wohlgefallen auflöst.
Kapitalistische Marktwirtschaften sind nicht wie Flohmärkte, wo Menschen einen fixen Gütervorrat je nach Tageslaune austauschen oder auch nicht, sondern basieren auf dem permanenten Eingehen, Erfüllen, mitunter auch Brechen, von Verpflichtungen im Hinblick auf die Zukunft, im Schatten der Notwendigkeit zur Existenzsicherung. Kreditverträge sind eine Form davon.

Kredite im Kontext sehen
Das Wirtschaftsleben ist schließlich voller Zwänge: Die meisten Menschen müssen ständig arbeiten gehen, um Geld zum Überleben zu erhalten. Unternehmen müssen Gewinne anstreben, um im Marktwettbewerb zu bestehen und Geld für Löhne, Neuinvestitionen und Finanzierungskosten zu erwirtschaften. Schuldner müssen ihre Schulden bedienen etc. Der Wirtschaftskreislauf hat Züge eines Hamsterrads.
Wirtschaftsaktivität muss geleistet, organisiert, finanziert und genutzt werden. Im Kapitalismus übernehmen die Arbeitenden das Herstellen, die Unternehmen das Organisieren, der Finanzsektor das Finanzieren („Schulden machen“), und die zahlungsfähigen KonsumentInnen das Nutzen der Ergebnisse. Der Staat sichert die Voraussetzungen und Regeln, und mischt mit, wo der Privatsektor sich schwertut. Die Beziehungen in dem Kreislauf sind gleichzeitig von arbeitsteiliger Kooperation und Konkurrenz unter den Beteiligten geprägt.

Die in Oeconomia vertretene Behauptung, dass Geld heute nicht mehr durch Arbeit entstehe, sondern durch ein Schuldengetriebe mit Zügen eines „toxischen Kettenbriefsystems“, ist irreführend, weil sie ein Einzelelement des Wirtschaftskreislaufs zum Treiber erklärt, während andere Elemente ausgeblendet oder auf bloß davon Getriebene reduziert werden. Selbst wenn Schulden auf irgendeine Weise verpufft und verboten wären, würde Arbeit in diesem Wirtschaftssystem weiterhin von auf Märkten konkurrierenden Privatunternehmen zu Profitzwecken organisiert und bewertet, und unsere Existenzen daran hängen. Regisseurin Losmann hat das in ihrem Vorgänger-Film Work Hard Play Hard sehr eindrücklich dokumentiert.

Krise und Moralisierung
Krise tritt dann ein, wenn irgendetwas in diesem Zusammenspiel nicht klappt, der Wirtschaftskreislauf gebremst oder unterbrochen wird, und erwartete Einkommen nicht eintreffen. Dann werden Konflikte virulenter. Unter den Konfliktachsen Kapital-Arbeit, Welt-Nationalstaat, Arm-Reich etc., tritt in Finanzkrisen das Schuldner-Gläubiger-Verhältnis in den Vordergrund und in eine Beziehungskrise im Streit um die Lastenverteilung. Moralisierung ist ein wichtiges Instrument in dieser Auseinandersetzung, bei Schulden offenbar mehr als anderen Wirtschaftsaktivitäten: Verteufeln die einen Schulden als Ausdruck eines verantwortungslosen Lebens über den eigenen Verhältnissen, dämonisieren die anderen die mit Schulden verbundenen Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen als von ausbeuterischen Kredithaien aufgebürdetes Joch.
Wenn Moralisierung und wirtschaftliche Notwendigkeit in ein Spannungsfeld geraten, kann das zu überraschenden Wendungen führen: Als etwa politische Kräfte, die jahrelang das Wettern gegen staatliches Schuldenmachen als Rammbock gegen den Wohlfahrtsstaat eingesetzt hatten, in der Corona-Krise die kreditfinanzierte Stützung des lockdown-gebremsten Wirtschaftskreislaufs rechtfertigen mussten, wurde ein wichtiges Dogma zumindest vorübergehend eingemottet.

Zeitreisen des Geldes
Kredite sind ein Instrument, um die Zeit zwischen Ausgaben und Einnahmen zu überbrücken. Kredite sind ein Geschäftsfeld, auf das Banken spezialisiert sind. Ihr Geschäft besteht darin, eine Art Postdienst für Geld über Raum und Zeit zu betreiben. Die Kundschaft kann mit ihren Kontoguthaben Zahlungen an andere Personen an anderen Orten leisten, und allerorts Abhebungen tätigen – das ist die räumliche Dimension. Die Kundschaft kann darüber hinaus mittels Kauf eines Sparguthabens bei der Bank ihr heutiges Einkommen in die Zukunft schicken. Oder mittels Aufnahme eines Kredits ihr künftiges Einkommen in die Gegenwart schicken lassen (weil Kreditaufnahme bedeutet, dass ich heute Geld nutzen kann, das ich später zurückzahlen muss). Das ist der Zeitmaschinen-Aspekt des Bankgeschäfts. Um das zu leisten, ist die Bank gleichzeitig Schuldnerin (sie schuldet ihrer sparenden Kundschaft deren Guthaben auf Verlangen in bar), und Gläubigerin (die Kreditkundschaft schuldet der Bank die verzinste Rückzahlung von Krediten). Der Zins ist die Gebühr für diese riskanten Zeitreisen des Geldes. Seine Höhe richtet sich auch danach, wie ausgewogen die Transportwünsche in die eine und andere Richtung verteilt sind. Banken sind wirtschaftlich wichtig, aber das macht den Kapitalismus nicht zu einer Bankenherrschaft.
Schulden sind keine Belastung künftiger Generationen: weil die Schulden des einen die Guthaben des anderen sind, und beide weitervererbt werden können. Ob und wie der Staat die Ungleichheit innerhalb einer Generation mit Steuern und Umverteilung beeinflusst, ist eine politische Entscheidung. Das macht aber Kredite nicht zu einem Nullsummenspiel, wie etwa im Film Oeconomia vermutet wird. Entscheidend ist, ob mit dem Kredit der Aufbau von Werten gelingt, die Nutzen stiften und Kreditrückzahlung erlauben – z.B. der Ausbau eines Betriebes, der Bau eines Hauses, ein staatliches Bildungsprojekt etc.

Überschuldung und Schuldenkrisen kann es immer wieder geben, wenn der geplante Aufbau von Werten fehlschlägt, oder – bei räuberischer Kreditvergabe – nie in Aussicht stand. Doch die scheinbar erschreckende Tatsache, dass es derzeit mehr Schulden gibt als Geld, um sie zu bezahlen, und mehr Geld als Güter, die für Geld zu kaufen sind, ist kein Beweis für einen Systemfehler. Darin zeigt sich bloß, dass das Wirtschaftssystem mit laufender Neuproduktion von Gütern, Geld und Schulden (bzw. darauf basierenden Guthaben) rechnet, genauso wie damit, dass jeden Tag aufs Neue Millionen Menschen zur Arbeit gehen. Und genauso wenig wie die Arbeit irgendwann endgültig erledigt ist, gibt es auch keinen feststehenden Zeitpunkt, an dem alle Schulden der Welt bezahlt, alles Geld ausgegeben und alle Güter verbraucht sein müssen. Ob und wie der dafür genutzte Planet und seine Lebewesen damit zu Rande kommen können, ist eine offene Frage, die mit der gedanklichen Reduktion des Wirtschaftssystems auf ein Schuldenkarussell nicht beantwortet werden kann.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (https://igbildendekunst.at/zeitschrift/), Nr. 56, Winter 2020/21, „Zur ästhetischen Ökonomie der Schulden“.

Beat Weber ist Ökonom und lebt in Wien.