Yaak Pabst erklärt, warum das Versagen des Marktes kein Zufall ist.
Der unmittelbare Auslöser der jetzigen Turbulenzen an den Finanz- und Kreditmärkten war der Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes. Zu Beginn stellte der Immobilienmarkt für die Banken ein gutes Geschäft dar. Viele Finanzinstitute aus der ganzen Welt mischten mit und witterten hohe Profite: Sie vergaben Kredite und bekamen als Sicherheiten Hypotheken auf Häuser oder Grundstücke. Millionen Menschen in USA nahmen die Kreditangebote der Banken an und verschuldeten sich. Dadurch hatte der US-amerikanische Durchschnittshaushalt letztes Jahr Schulden in Höhe von 129 Prozent seines verfügbaren Jahreseinkommens.
Im Verlauf des Booms wurden diese Immobilienkredite auch an Menschen
vergeben, die über keine hohe Kreditwürdigkeit verfügten -
beispielsweise jemand, der bereits in der Vergangenheit bei Krediten in
Zahlungsverzug geraten war oder der gar einen Bankrott oder eine
Zwangsversteigerung mitmachen musste. So entstand ein Sektor von so
genannten „subprime" (zweitklassigen) Hypotheken. Weil der Subprime-Hypothekenmarkt sehr riskant ist, entwickelten die
Banker neue Finanzinstrumente, um das Risiko zu streuen.
Hypothekenschulden unterschiedlicher Güte wurden zu undurchschaubaren
Paketen zusammengefasst und weiterverkauft.
Das ging so lange gut, wie der Anstieg der Immobilienpreise als ein
Naturgesetz erschien. Als Sicherheit zählte nicht das tatsächliche
Einkommen der Schuldner, sondern der momentane Wert des Hauses. Aber
als die Zinsen für Immobilienkredite stiegen, konnten viele Haushalte
sie nicht mehr zurückzahlen und stellten ihre Darlehenszahlungen ein.
Die Banken warteten also vergeblich auf ihr Geld. Um an Geld zu kommen,
boten immer mehr Schuldner ihre Häuser zum Verkauf an. Und weil immer
mehr Häuser und Grundstücke in den USA veräußert wurden, sanken dort
schließlich die Immobilienpreise. Die Spekulationsblase war geplatzt.
Eine Kettenreaktion setzte ein. Die riesigen Posten in den Bilanzen der
Banken und Versicherungen, die auf US-Immobilien beruhten, mussten nach
unten korrigiert oder ganz abgeschrieben werden. Finanzunternehmen
waren von solchen Abschreibungen massenhaft betroffen und vom Konkurs
bedroht. Weil die Hypothekenschulden von Millionen Amerikanern zu
undurchschaubaren Paketen zusammengefasst und weiterverkauft worden
waren, wusste niemand genau, bei wem die faulen Kredite gelandet waren
und welches Ausmaß sie hatten. Daraufhin begannen die Banken, einander
kein Geld mehr zu leihen. Sie befürchteten, dass sie ihr Geld nicht
zurückbekommen würden, falls ihre Partner plötzlich in den Strudel der
Krise gerissen werden sollten. Die Kreditgeschäfte zwischen den Banken
kamen zum Erliegen. Das Chaos nahm seinen Lauf: Die Börsen stürzten ab
und das Bankensystem stand vor dem Kollaps.
Krise mit System
Die Spekulation mit US-Immobilienkrediten hat die jetzige Krise
beschleunigt. Mit der Krise im Bankensektor kamen auch krasse Fälle ans
Licht, bei denen Spekulanten sich an dem Zusammenbruch von Unternehmen
eine goldene Nase verdient hatten. Wie Karl Marx sagte, ist das
Finanzwesen „eines der wirksamsten Vehikel für Krisen und Schwindel".
Insidergeschäfte sind zwar verboten. Aber vorab zu wissen, dass ein
Unternehmen etwas ankündigen wird und zudem zu wissen, ob diese
Neuigkeiten gut oder schlechr sind, um dann gegebenenfalls Anteile des
Unternehmens zu kaufen oder abzustoßen, ist höchst einträglich. Eine
Untersuchung von 172 Firmenzusammenschlüssen an amerikanischen Börsen
kam zu dem Ergebnis, dass in jedem einzelnen Fall Insidergeschäfte
getätigt worden waren.
Die gegenwärtigen Verwerfungen lassen sich allerdings nicht nur auf die
Handlungen einiger zwielichtiger Händler zurückführen. Das Chaos, das
wir jetzt erleben, ist nur die neueste Krise des globalen
Wirtschaftssystems. Allein in den vergangenen 25 Jahren ist es immer
wieder zu großen Finanzkrisen gekommen: Von der Schuldenkrise in Mexiko
und Lateinamerika 1982, der Krise an der New Yorker Börse 1987, über
die Asienkrise 1997, die Krise 1998 in Russland und Brasilien, bis hin
zum Niedergang der New Economy Ende der 1990er Jahre und der Rezession
in den USA von 2000 bis 2002.
Aber im Gegensatz zu früheren Finanzkrisen der neoliberalen Ära hat die
jetzige ihren Ursprung mitten im Herzen des kapitalistischen Systems:
in den Vereinigten Staaten. Sie weitet sich aus und wird die gesamte
Weltwirtschaft erfassen. Die großen Exportwirtschaften - Deutschland,
Japan, China - werden angesichts schrumpfender Märkte für ihre Waren in
die Krise mit hineingezogen. Jetzt droht eine Weltrezession wie Mitte
der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Die „unverantwortlichen Zocker
in der Finanzindustrie" haben die Krise beschleunigt, aber sie sind
nicht ihre Ursache. Die Ursache hierfür liegt viel tiefer, denn
Wirtschafts- und Finanzkrisen sind im Kapitalismus unvermeidbar.
Marx' Kritik
Wir haben es mit einer Krise des Kapitalismus zu tun, wie sie schon
Karl Marx beschrieben hat. Er fand heraus, dass die Profitraten im
Kapitalismus langfristig die Tendenz haben zu sinken. Diese Dynamik
sieht er als Hauptursache für Krisen im Kapitalismus. Auch die heutigen
Probleme des Kapitalismus liegen in dieser Dynamik begründet. Dem
System ist es nicht gelungen, die Profite auf dem Niveau der
Nachkriegsjahre zu halten. Anfang der 1970er verlor die Weltwirtschaft,
die für Jahrzehnte gewachsen war, ihre Dynamik. Das Wachstum
stagnierte, die Profite fielen, und die Arbeitslosigkeit kehrte ins
Herz des Systems - die entwickelten Industrieländer - zurück.
Die Profitraten haben seitdem nie wieder das Niveau, das sie im so
genannten „Wirtschaftswunder" hatten, erreicht. Sie blieben zu niedrig,
um eine dauerhafte Expansion des Kapitalismus hervorzubringen. Der
weltweite Kapitalismus befindet sich deswegen seit den 1970er Jahren in
einer Stagnationskrise. Wir haben es also mehr mit einer Profitkrise zu
tun als mit einer Finanzkrise. Aber diese Krise hat bis heute noch
nicht das System als Ganzes in den Abgrund gerissen. Das hängt mit
einem Prozess zusammen, den auch schon Marx im „Kapital" beschrieben
hat. Dort erwähnte er eine Reihe von „entgegenwirkenden Ursachen" zum
Fall der Profitraten (siehe auch den Artikel „Kapitalismuskritik 2.0").
Der Neoliberalismus kombinierte eine Reihe dieser „entgegenwirkenden
Ursachen". Insofern war der Neoliberalismus selbst eine Antwort auf das
Ende des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der Aufstieg des Neoliberalismus
Die Antwort der Regierungen auf die wiedereinsetzenden
Krisenerscheinungen Mitte der 1970er Jahre bestand in einer zunächst
zaghaften, aber dann immer schneller und rücksichtsloser werdenden
Durchführung von Maßnahmen gegen diese Stagnation. Es handelte sich
unter anderem um folgende: Erstens wurden große Teile des
Staatseigentums verkauft, was dem Privatkapital große Summen in die
Hände spielte. Zweitens wurden die Kontrollen über die Mobilität von
Gütern, Dienstleistungen und vor allem Geld von Land zu Land beseitigt
- eine Maßnahme, die dem Kapital erlaubte, sich freier auf der ganzen
Welt zu bewegen.
Drittens, und das war die einschneidenste Veränderung, wurde der
Lebensstandard der Arbeiterklasse angegriffen. Oft ist dies der
schnellste und einfachste Weg, die Profite wieder anzuheben: Den
Beschäftigen wird weniger bezahlt und die Arbeitszeit wird verlängert.
Auch der Abbau des Sozialstaates durch Steuersenkungen für Unternehmen
und die Kürzung von Sozialleistungen bewirken indirekt eine Erhöhung
der Profite.
In den Vereinigten Staaten war dieser Angriff auf die Arbeiterklasse
erfolgreich. Zwischen 1975 und 1995 stagnierten dort die
durchschnittlichen Reallöhne für männliche Vollzeitarbeiter. Teilweise
sanken sie sogar geringfügig. Anderswo schlugen die Angriffe weniger
durch, aber auch in großen Teilen Europas wurden die Wohlfahrtsstaaten
abgebaut. Durch diese Attacken gelang es dem Kapital, seine Profite um
einiges zu erhöhen und die Krisen abzuschwächen.
Die Rolle der Finanzmärkte
Die Finanzmärkte und die Finanzinstitutionen spielten dabei eine
wichtige Rolle. Sie sind für das Funktionieren des Kapitalismus
unabdingbar. Dieser beruht darauf, dass Unternehmen unter den
Bedingungen von Konkurrenz versuchen, maximale Profite zu erzielen.
Normalerweise investieren sie einen Teil ihrer Einkünfte in neue
Technologien, um gegenüber der Konkurrenz Vorteile zu haben.
Aber wenn Unternehmen attraktive Anlagemöglichkeiten im
Produktionssektor (beispielsweise im Maschinenbau oder der
Automobilindustrie) fehlen oder wenn sie investieren wollen, aber nicht
über das nötige Geld dafür verfügen, spielen die Börse, das Bankenwesen
oder ähnliche Einrichtungen eine wichtige Rolle. Sie helfen dabei,
Kapital und Investoren zusammenzuführen. Banken verwalten zum Beispiel
Konten von Unternehmen, die im Moment nicht investieren wollen und
können so dieses Geld anderen zur Verfügung stellen, die gerade neue
Anlagen kaufen wollen.
Weil Investitionen von Kapital im produktiven Sektor Mitte der 1970er
Jahre wegen der fallenden Profitraten mit einem höheren Risiko
verbunden waren, wuchs die Bereitschaft, an den Börsen und
internationalen Finanzmärkten mit überschüssigem Geld zu spekulieren.
Darüber hinaus schuf die Expansion und wachsende Komplexität des
Finanzsystems eine faszinierende neue Möglichkeit für den Kapitalismus.
Es ist im individuellen Interesse jedes Unternehmers, seinen
Angestellten so wenig wie möglich zu zahlen, um die Profite zu erhöhen.
Aber wenn alle dies tun, sind die Arbeiter kollektiv nicht in der Lage,
sich zu leisten, was die Kapitalisten in ihrer Gesamtheit produzieren.
Was für einen Kapitalisten gut ist, ist für das System im Ganzen nicht
notwendigerweise gut.
Indem Arbeitnehmern billige Kredite und Darlehen angeboten wurden,
konnten die Kapitalisten den Beschäftigten gleichzeitig weniger zahlen,
aber dennoch ihre Güter und Dienstleistungen verkaufen. Das
Finanzsystem sorgte so in der Vergangenheit zwar dafür, dass Geld mit
halsbrecherischer Geschwindigkeit um den Globus gejagt wurde. Doch der
Zustrom realer Profite in das System stieg sehr viel weniger dramatisch
an. Dies erhöhte das Risiko, dass sich spekulative „Blasen" entwickeln
und dann wieder zerplatzen. Die letzten 30 Jahre waren von diesem
Prozess geprägt.
Staatliche Interventionen
Ob die jetzigen Rettungsversuche von Erfolg gekrönt sein werden, steht
in den Sternen. Die US-Notenbank hat sich bereit erklärt, faule Kredite
zu übernehmen, und zwar in unbegrenztem Maße und ohne die
Öffentlichkeit oder auch nur das Parlament über die Einzelheiten weiter
informieren zu müssen. Dieser Schritt wird die Schulden der
öffentlichen Hand ins Unermessliche steigern. Und die USA werden nicht
mehr in der Lage sein, noch einmal in der gleichen Weise einzuspringen,
falls eine weitere Krise dieser Art entstehen sollte.
Bereits Anfang dieses Jahres wurde uns erzählt, ein staatlicher
Eingriff habe seine Wirkung erfüllt, als die US-Regierung die
„Monoline"-Versicherer übernahm. Das gleiche geschah wieder, als sie im
März Bear Stearns aufkaufte und als sie de facto die Hypothekenriesen
Freddie Mac und Fannie Mae verstaatlichte. Die USA, die EU, Japan und
andere große Industrienationen haben bereits dreistellige
Milliardensummen an Steuergeldern in die Märkte gepumpt, damit die
Banken weiterhin billig Geld leihen können.
Es gibt jedoch Grenzen für dieses Vorgehen. Denn die gehandelten und
angehäuften Schulden übersteigen bereits das Bruttoinlandsprodukt der
ganzen Welt. Es gibt keine Garantie, dass die staatlichen Eingriffe
irgendetwas erreichen werden, außer dass sie kurzfristig die Kurse
stabilisieren. Sie geben einfach Geld an die Aktienmärkte, ohne eine
Sicherheit zu haben, dass dieses Geld jemals in die Staatskasse
zurückfließen wird.
Aus Sicht des Kapitals darf der Staat intervenieren, solange es um
zeitlich beschränkte Maßnahmen zur Rehabilitierung des
Marktkapitalismus geht. Aber sobald diese Rettungsmission dann
erfolgreich war, soll der Staat sich zurückziehen. Die offensichtliche
Frage, die diese Strategie aufwirft, ist: Was sollte die Finanzmärkte
davon abhalten, mit dem gleichen Schwachsinn wieder von vorne zu
beginnen?
Die Antwort, die uns die Regierung gibt, ist Regulierung. Im Gegenzug
zur Rettung der Banken wird der Staat diesen Regeln auferlegen. Aber
das alles gab es schon einmal. Die allgemeine Antwort auf die „Große
Depression" der 1930er Jahre war größere staatliche Kontrolle über die
Wirtschaft im Allgemeinen und das Banksystem im Besonderen. Aber als
der Kapitalismus in den 1950ern und 1960ern wieder zu erstarken begann,
bäumte er sich gegen das Netz der Regulierungen auf, mit dem sie ihn zu
bändigen versuchten. Als Mitte der 1970er erneut eine Krise einsetzte,
wurden die Regulierungen und Kontrollen nach und nach wieder
abgeschafft.
Der Zyklus der Auf- und Abschwünge ist dem chaotischen und auf
Konkurrenz beruhenden Wesen des Kapitalismus geschuldet. Solche Krisen
lassen sich nur beenden, indem dieses System durch eine demokratisch
planende Wirtschaft ersetzt wird, die von den arbeitenden Menschen
kontrolliert wird.
Zum Autor:
Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.