Der Kapitalismus als Religion der Verschuldung und der Schulden

1. In einem Jugendtext Der Kapitalismus als Religion beschreibt Walter Benjamin das Verhältnis zwischen Schulden und Subjektivität, Verschuldung und Bildung der Psyche als grundlegend für die Ausbeutung und die Herrschaft des Kapitals.
Diese besondere Religion hat drei wesentliche Charakteristika:
1. der Kapitalismus ist eine Kultreligion;
2. der Kult dieser besonderen Religion ist unendlich;
3. diese Religion produziert zugleich Schuldhaftigkeit und Verschuldung.

 

Die Religion des Kapitalismus ist ein reiner Kult. Sie kennt weder Dogmen noch Theologie. Ihr Interesse gilt allein den praktischen Verhaltensweisen ihrer Anhänger_innen. Der Kult organisiert sich um den Gott des Geldes, insbesondere in seiner Form als Kreditwährung. Dieser Kult erlaubt keine Transzendenz, das Geld ist ein immanenter, in der Welt inkarnierter Gott. Die Produktion von Kredit und Schulden ist – wie für den monotheistischen Gott – eine Art creatio ex nihilo (die Banken produzieren Kredite durch simple Schriftstücke).
Dieser Kult hat keinen Anfang und kein Ende, er deckt sich mit dem Leben, er ist permanent. Im Unterschied zu anderen Religionen gibt es nicht das Wechselspiel zwischen Feiertagen (mit Opfern, Gebeten und Ritualen, in denen die Gemeinschaft zusammenkam) und Arbeitstagen. Der Kult des Geldgottes ist andauernd. Er verwischt die Differenz zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem Alltag und der Feier.
Der dritte Zug, der diese Religion definiert, ist das Ineinandergreifen von Schuldhaftigkeit und Schulden. Der Kapitalismus ist die erste Religion, die keine Sühne vorsieht, sondern im Gegenteil die Schuld verewigt. Die Wiedergutmachung der Schuld ist unmöglich, da der Gott des Geldes selbst der Welt immanent ist. Er ist nicht, wie in den anderen Religionen, ein Gesetzgeber und Schöpfer jenseits der Welt, wie in anderen Religionen. Gott ist nicht tot, wie Nietzsche verkündet hatte. Er ist Teil der Welt in Form des Geldes (des Kredits).
Benjamin sagt uns auf andere Weise, was schon Nietzsches Genealogie der Moral zum Ausdruck gebracht hatte: Der Kapitalismus ist keine Produktionsweise, ohne gleichzeitig eine Produktion von Subjektivität, Gedächtnis und Empfindsamkeit zu sein. Die Beziehung zwischen Gläubiger_in und Schuldner_in kann sich nicht entfalten, ohne dass sich eine Beziehung zwischen Subjektivitäten einrichtet und „Vertrauen“ ihr Inhalt ist.
Mit der Verschuldung wird die Zeit gekauft und verkauft, nicht die Arbeitszeit wie in der industriellen Organisation, sondern ganz einfach die Zeit. So entsteht eine ganz besondere Modalität eines Machtverhältnisses. Die Schuldner_in kauft, noch ehe sie zahlt, die Zeit des Genusses eines Guts, eines Projekts, eines „Lebens“. Mit den Schulden entsteht die Möglichkeit, mit dieser Zeit, einschließlich der Zeit zwischen Bewilligung des Kredits und seiner Rückzahlung, zu tun, was sonst nicht getan werden könnte.
Die Gläubiger_in hat eine Hypothek auf eben diese Zeit, weil die Schuldner_in sie tilgen muss. Die Gläubiger_in kontrolliert diese Zeit durch das Ersuchen, dass sie verwendet wird, um Geld für die Rückzahlung der Schulden aufzutreiben. Die Gläubiger_in kann also eine Lebensweise, einen Anreiz zur Arbeit, zum Sparen und zu Opfern durchsetzen, die zur Tilgung des Darlehens nötig sind.
Im Kapitalismus ist das grundlegende soziale Verhältnis weder der Tausch noch die Produktion. Vielmehr sind es die Schulden, die jede andere Weise der Anerkennung und In-Wert-Setzung des Maßes zwischen den Menschen beherrschen und ersetzen. Wer Geld hat, ist kreditfähig und manifestiert damit das Zeichen der Gnade Gottes. Wer nicht kreditfähig ist, kann sich unmöglich retten, da er in der Schuld steht und in einer Weise schuldhaft ist, die nicht gesühnt werden kann. Seit die Verschuldung kein individuelles, sondern ein kollektives Problem ist, da wir wegen der öffentlichen Schulden alle Schuldner_innen sind, auch wenn wir individuell kein Darlehen aufgenommen haben, sind alle schuldig, die ganze Welt steht in der Schuld. Schulden sind das „Schicksal“ unserer Gesellschaften und unserer Leben.

2. Die Politiken der Verschuldung sind nicht nur makroökonomisch. Sie verkörpern sich nicht nur in den großen Finanz- und Börsenströmen, in der großen Zahl täglich getauschter Finanztitel, die in hoher Geschwindigkeit, vierundzwanzig von vierundzwanzig Stunden in den elektronischen Netzwerken zirkulieren.
Die Schulden sind ein Instrument der Kontrolle, des Ansporns zur Arbeit und zur Produktivität für die immense Menge prekärer, häuslicher und migrantischer Arbeit. Sie durchdringen das tägliche Leben der „Armen“, um es zu organisieren, zu dirigieren und der Logik von unbezahlter oder schlecht bezahlter Arbeit zu unterwerfen.
In den Ländern des Südens, von Indien bis Afrika, von Asien bis Las Americas hat die selbstständige, informelle, prekäre, unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit eine sehr große Entwicklung durchgemacht. Für eine sehr große Mehrheit dieser „armen“ Bevölkerungen, zu denen auch eine deklassierte Mittelschicht zählt, ist der Zugang zu Lohn und zum Wohlfahrtsstaat blockiert. Offen bleibt der Zugang zum Kredit, oder genauer, zum Mikrokredit (Kleinkredite, sogar in Höhe von 20 oder 30 Dollar).
Nach der Explosion von Armut und Prekarität, die durch die Politiken der „Strukturanpassung“, wie sie von den Weltfinanzinstitutionen (Weltbank, IWF etc.) zur Zahlung der öffentlichen Schulden vorangetrieben wurden, ausgelöst wird, hat sich auf der Mikroebene der Kleinkredit entwickelt. Es werden Schulden gemacht, um Elektrohaushaltsgeräte zu kaufen, Wasser- und Stromrechnungen zu bezahlen sowie um essen zu können. Verpasst die Schuldner_in einen Zahlungstermin, explodieren die Zinsen und die Schuldner_innen laufen Gefahr, drei- oder viermal mehr zu zahlen als den eigentlichen Kaufpreis. Die Verschuldung ist in den popularen Schichten der Länder des Südens der Welt allgemein verbreitet. Die von den Politiken der internationalen Finanzinstitutionen propagierte „Inklusion“ verläuft nicht mehr über die Beschäftigung, sondern über die Verschuldung.
In Kenia sind, einem auf „Inklusion durch Finanzen“ spezialisierten Unternehmen zufolge, von den Millionen von Menschen, die auf Mikrokredite zurückgreifen, 2,7 Millionen zahlungsunfähig. 400.000 davon müssen weniger als zwei Dollar zurückzahlen (die Zinsen sind Wucherzinsen, für einen Kredit von dreißig Dollar sind viereinhalb Dollar Zinsen zu zahlen).
Die Kreditfähigkeit beinhaltet ein Wissen und eine Kontrolle des privaten Lebens der „Schuldner_innen“. Sie wird ausgehend von Verhaltensweisen beurteilt, die die Mikrokreditunternehmen aus den von Mobiltelefonen aufgezeichneten Daten ableiten: Wenn die Schuldner_innen oft mit ihren Eltern sprechen, wenn ihre immer von Handys kontrollierten Wege und Reisen Routine sind, dann sind sie zuverlässiger als andere, deren Verhaltensweisen zufällig und unvorhersehbar sind.
Dieselbe Inklusion durch die Finanz herrscht zunehmen auch in Indien vor, wo es zu einer Selbstmordwelle unter Bäuer_innen (vor allem Frauen) kam, denen es nicht gelang, ihre kleinen Darlehen zu tilgen. Auch in Las Americas ist die Mikroverschuldung sehr verbreitet, wo sie den Abbau und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ersetzen soll.
Der Mikrokredit ist zugleich ein Instrument sozialer und subjektiver Kontrolle. Er setzt beim Individuum eine Unternehmenslogik in Gang, er zwingt zu kalkulieren, Ausgaben vorherzusehen und regt dazu an, das Leben in Abhängigkeit von (prekärer, unterbezahlter) Arbeit zu organisieren, die es braucht, um die Zinsen auf die Schulden zu zahlen. Er diszipliniert das tägliche Leben von Millionen von Armen. Der Mikrokredit spaltet und individualisiert, weil jede_ Schuldner_in isoliert wird und ihren Gläubiger_innen alleine gegenübersteht. Die prekäre, migrantische, häusliche Arbeit nimmt eine neue Gestalt an, insofern sie durch eine Diskontinuität von Beschäftigung und Einkommen und durch eine Kontinuität von zu tilgenden Schulden charakterisiert ist.
Die Schulden sind ein Dispositiv der Gouvernanz der selbstständigen Arbeit. Im dritten Band des Kapitals zitiert Karl Marx einen Text von 1840, in dem es um eine „pastorale Macht“ geht (für Michel Foucault kontrolliert und lenkt die pastorale Macht das tägliche Leben der Regierten), die einen wachsenden Einfluss sowohl auf die Verhaltensweisen der Amerikaner_innen ausüben wird, die davon leben, dass sie mit Kreditkarten jonglieren, wie auch auf das „Benehmen“ der Armen, die ganz kleine Summen ausleihen: „Die Banketablissements sind religiöse und moralische Institutionen. […] Der Rat der Banker_in ist […] wichtiger als der des Pastors.“ Marx spricht hier noch von den Bürgerlichen, die von der Bank Geld für ihre Investitionen ausleihen. Eineinhalb Jahrhunderte später können und müssen alle, sogar die Armen Darlehen aufnehmen. Hier begegnen wir wieder der religiösen und moralischen Dimension, mit der wir diesen kurzen Text begonnen haben.


Aus dem Französischen übersetzt von Birgit Mennel.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (https://igbildendekunst.at/zeitschrift/), Nr. 56, Winter 2020/21, „Zur ästhetischen Ökonomie der Schulden“.

Maurizio Lazzarato ist Soziologe und Philosoph, er lebt und arbeitet in Paris. Er forscht zu immaterieller Arbeit, Ontologie der Arbeit, kognitivem Kapitalismus und „postsozialistischen“ Bewegungen.