Sozialstaaten

Themenschwerpunkteditorial iz3w 374 (September/Oktober 2019)

2015 drohte ein heikles Jahr für Europa zu werden: Der US-amerikanische Filmregisseur Michael Moore bereiste den alten Kontinent, um für seinen Film »Where to Invade Next« zu recherchieren. Die Sache endete aber glimpflich, denn Moore entdeckte ein soziales Mekka und konnte der Welt zahlreiche Wohltaten präsentieren: In Europa zahlen alle Leute Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, um sich abzusichern, die Armut zu beseitigen und ein inklusives Gesundheits- und Bildungssystem auszubauen. In Finnland bringen Schulen genannte Selbstverwirklichungsclubs blitzgescheite Kinder hervor, in Italien zahlen ArbeitgeberInnen Urlaubsgeld und ein 13. Monatsgehalt, in Deutschland dringt die Demokratie über »Mitbestimmung« bis hinter die Werkstore vor und in Frankreich gibt es Schulspeisungen. Zu Ende des Films fragt man sich erstaunt, warum das grundvernünftige Sozialstaatsmodell nicht weltweit installiert ist und ausgebaut wird.
Tatsächlich ist es nahezu unmöglich, in der internationalen Staatenwelt GegnerInnen des Sozialstaats zu finden. Insbesondere die Vereinten Nationen beschwören turnusmäßig die Sozialstaatlichkeit. Im UN-Sozialpakt sind das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Arbeitsrecht und vieles mehr verankert.

 

Allein: In Wirklichkeit lässt die Existenz sozialer Sicherheiten weltweit sehr zu wünschen übrig. Zwischen Nord und Süd besteht eine große Asymmetrie, wie der Einleitungsartikel dieses Themenschwerpunktes ausführt (Seite 14). Auch wohnen der Sozialstaatlichkeit starke Beschränkungen bis hin zu repressiven Elementen inne, wie etwa die Beiträge über die nicht nur mangelhafte, sondern auch autoritäre Sozialstaatlichkeit in Indien (Seite 17), Russland (Seite 20) oder Venezuela (Seite 22) ausführen.
Man kann Sozialstaatlichkeit eng oder weit fassen. Eng gefasst gewährleistet der Sozialstaat den jeweiligen Staatsangehörigen den minimalen Lebensstandard, den es zum Überleben braucht. Der Sozialstaat schützt die Mitglieder der Gesellschaft vor extremer Armut. Dazu interveniert er in Bereichen wie Wohnen, Pflege, Bildung und Auskommen zugunsten »sozial Schwacher«. Weit gefasst sichert der Sozialstaat den Lebensstandard in einer Weise ab, in der die Einzelnen ohne Mangel an der Gesellschaft partizipieren können. Im Bildungssektor wird für Chancengleichheit gesorgt, zum Wohnen gibt es Wohngeld und sozialen Wohnungsbau und in Kultureinrichtungen wird ermäßigter Eintritt gewährt. Der Sozialstaat ist so ein Mittel, der nicht nur Armut und Mangel bekämpft, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.

 

All diese Versprechen werden in der globalen Realität aber kaum eingelöst. Die gelobte Sozialstaatlichkeit hat ihre Schattenseiten, auf die schon der Einleitungsartikel verweist. Entsprechend der Herkunft des hiesigen Sozialstaates vom bismarckschen Obrigkeitsstaat birgt er ein strukturelles Demokratiedefizit. Der Sozialstaat stellt die UntertanInnen im Tausch gegen ihr Wohlverhalten mit dem Notwendigsten ruhig. In seiner nationalstaatlichen Verfasstheit wirkt er exkludierend gegenüber Nichtstaatsangehörigen. Der »Transnationalisierung der Armut« (siehe iz3w 336) stehen die unterfinanzierten nationalen Sozialbudgets völlig hilflos gegenüber. Die globalen Profitströme hingegen umgehen transnational die nationalen Steuergesetze, wie die ugandische Volkswirtschaftsexpertin Irene Ovonji-Odida beklagt (Seite 28).
In Weltregionen wie etwa dem subsaharischen Afrika kann noch nicht einmal von Grundformen garantierter sozialer Absicherung gesprochen werden. Ein »Sozialstaat Somalia« scheiterte bereits in seinen Startlöchern (siehe Seite 26). Wenn ganze Bevölkerungen noch nicht einmal sozialstaatlich diszipliniert werden, sondern sie ein bloßer Spielball von Armut, Rechtlosigkeit und informellen Ökonomien sind, dann ist schon eine eng gefasste Version von sozialer Absicherung ein immenser Fortschritt.

»Where to Invade Next«? Die Schaffung und der Ausbau der Sozialstaatlichkeit bleiben weiterhin auf der Agenda der sozialen Kämpfe. Doch eine umfassende Umverteilung und Demokratisierung der Produktionsmittel bleiben auch im Falle wichtiger Etappenerfolge noch weit entfernt. Ein angstfreies Leben für alle wird erst jenseits der national verfassten Sozialstaaten zu haben sein.

 

die redaktion