Cash-Transfers oder Staudämme?

Der Wohlfahrtsstaat in Tansania wird transnational beeinflusst

Die Liste der beteiligten Organisationen liest sich wie das Who is Who der internationalen Entwicklungsszene: Die Weltbank, UN-Organisationen wie UNICEF und World Food Programme, die staatliche amerikanische Hilfsorganisation USAID, aber auch die Stiftung von Microsoft-Gründer Bill Gates beteiligen sich am Productive Social Safety Net in Tansania. Seit beinahe zwei Jahrzehnten experimentieren die tansanische Regierung und ihre internationalen PartnerInnen mit diesem Sozialprogramm, durch das die absolute Armut insbesondere in ländlichen Gebieten verringert werden soll. Inzwischen erhalten mehr als fünf Millionen TansanierInnen, also knapp zehn Prozent der Bevölkerung, Bargeldleistungen aus dem Programm.
Insbesondere die Weltbank vergab dazu Kredite zu Vorzugsbedingungen an Tansania, die sich auf 420 Millionen US-Dollar seit 2013 belaufen. Die internationalen Organisationen sonnen sich in den Erfolgen des Programms, das inzwischen vielfach evaluiert worden ist: Der Schulbesuch der Kinder stieg genauso an wie regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen der Kleinkinder, und vor allem die Ernährung der LeistungsempfängerInnen habe sich stark verbessert. Zudem, so ein Mitarbeiter von UNICEF, nutzen viele EmpfängerInnen die regelmäßigen Einkünfte für Investitionen insbesondere in die Kleintierhaltung. Ein voller Erfolg also?

Ärger mit den Zahlen
Nicht ganz. Ende 2018 stockte das Programm: Die Weltbank hielt Kreditauszahlungen zurück, mit der Folge, dass zum ersten Mal die Cash-Transfers nicht mehr stattfinden konnten. Ein gravierender Schritt, denn nach der allgemeinen Lehrmeinung ist gerade die Verlässlichkeit der Leistungen der wichtigste Erfolgsfaktor. Die ärmsten Bevölkerungsschichten leben ansonsten buchstäblich von der Hand in den Mund, wodurch ihre ökonomischen und sozialen Aktivitäten nicht planbar sind. Statt in die Zukunft zu investieren, können nur unmittelbare Bedürfnisse befriedigt werden. Individuelle und externe Katastrophen wie eine schwere Krankheit oder ausbleibende Regenfälle machen jede Investition schnell zunichte.
Genau hier setzen die Cash-Transfer-Programme an. Durch die Verlässlichkeit der Geldzahlungen können die EmpfängerInnen mehr Risiken eingehen und auch in Notlagen darauf zählen, dass notwendige Medikamente im nächsten Monat bezahlt werden können, ohne sofort die eine Ziege im Familienbesitz verkaufen zu müssen.
Offiziell war von der Weltbank nichts zur plötzlichen Unterbrechung des Programms in Tansania zu hören. In der Entwicklungsszene in der Hauptstadt Dar-es-Salaam ist die Problematik jedoch Tagesgespräch: Die Weltbank war extrem verärgert über die Verschärfung des Statistikgesetzes im vergangenen Jahr. Es kriminalisiert Veröffentlichungen von statistischen Erhebungen, die nicht durch nationale Behörden autorisiert worden sind.
Ausgelöst wurde die Gesetzesänderung offenbar durch eine unliebsame Meinungsumfrage, die eine inländische Organisation durchgeführt hatte. Schnell entwickelte sich aber ein Streit mit den internationalen PartnerInnen über die Zahlenhoheit im Land. Für die Weltbank, die regelmäßig eigene Erhebungen durchführt, war dieses Gesetz nicht akzeptabel. Mittlerweile wurden die Kredite wieder freigegeben – Gerüchten zufolge aber erst, nachdem die Regierung eine baldige Entschärfung des Gesetzes in Aussicht gestellt hat.
Der Konflikt wirft ein Schlaglicht auf die Beziehungen zwischen einem der ärmsten Staaten der Welt und den internationalen »Entwicklungspartnern«. Öffentliche Wohlfahrt ist gerade in Afrika in höchstem Maße transnationalisiert – in dem Sinne, dass nur durch die Zusammenarbeit zwischen Organisationen wie der Weltbank und der staatlichen Verwaltung überhaupt Sozialleistungen wie die Cash-Transfer-Programme, aber auch Schulbildung, Gesundheitsversorgung oder Lebensmittelnothilfe bereitgestellt werden können. Doch staatliche Institutionen, internationale Organisationen und transnationale NGOs geraten immer wieder in Konflikte, die nur wenig mit den offiziellen Zielen der Programme zu tun haben. So auch in diesem Fall, in dem ein Sozialprogramm für die ärmsten Bevölkerungsschichten zu einem Faustpfand in einem politischen Konflikt geworden ist, auf den die EmpfängerInnen keinerlei Einfluss nehmen können.

Neoliberales Allheilmittel
Cash-Transfer-Programme wie das Productive Social Safety Net sind in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem Lieblingsansatz vieler Entwicklungsorganisationen geworden. Denn seit den 1990er Jahren sollen Entwicklungsprojekte vor allem zwei Aspekte vereinen: Sie sollen »partizipativ« sein in dem Sinn, dass die Entwicklungsländer und möglichst auch die betroffenen Bevölkerungsschichten in die Planung wie auch die Umsetzung von Projekten einbezogen sind. Außerdem sollen Projekte vor allem die individuelle Marktteilnahme der Entwicklungssubjekte fördern: Auch die ärmste Bewohnerin Tansanias kann eine Start-up-Unternehmerin werden, und sei es nur durch den Verkauf einiger Eier auf dem Wochenmarkt. In dieser neoliberalen Sichtweise benötigen die Ärmsten nur ein wenig Starthilfe, um sich selbst aus der Misere zu befreien.
Cash-Transfer-Programme erfüllen beide Bedingungen. Denn auch wenn das Productive Social Safety Net in Tansania zunächst von der Weltbank angeschoben worden ist, so hat die Regierung doch ihre institutionellen Kapazitäten eingebracht: Die staatliche Verwaltung wird zum Ausführungsorgan transnationaler Wohlfahrt.
Zudem sind die Cash-Transfers kostengünstig, da die Auszahlungen sich auf Kleinstbeträge belaufen. Im Productive Social Safety Net erhalten Familien derzeit maximal 38.000 tansanische Schilling pro Familie und Monat (rund 15 Euro). Zugleich bleiben die strukturellen Ursachen von Armut wie soziale Ungleichheit, mangelnde Infrastruktur und miserable Bildungs- und Jobchancen weitgehend unberührt.
Ein dritter Faktor, der die Popularität dieser Programme in der transnationalen Entwicklungsszene erklären kann, ist ihre einfache Quantifizierbarkeit. Die Autorität von Organisationen wie der Weltbank speist sich aus ihrem Nimbus, Entwicklung basierend auf überlegenem ExpertInnenwissen voranzutreiben. Ebenfalls seit den 1990er Jahren wird dies gerne als »daten-basierte« Praxis bezeichnet. So wirbt etwa USAID damit, dass durch das Productive Social Safety Net 97 Prozent der von dem Programm profitierenden Kinder unter zwei Jahren regelmäßig zu Gesundheitsuntersuchungen gebracht werden.
Sicherlich eine beeindruckende Zahl. Allerdings wird nicht erwähnt, dass diese Vorsorgeuntersuchungen eine Teilnahmebedingung an dem Programm sind und die hohe Quote daher keine Überraschung darstellt. Eher wäre interessant zu erfahren, wie viele Eltern diese Bedingung – aus welchen Gründen auch immer – nicht erfüllen konnten oder wollten. Entwicklungsorganisationen lieben große Zahlen, die die Sinnhaftigkeit ihrer Aktivitäten belegen sollen, und Cash Transfer-Projekte sind dafür besonders gut geeignet.

Klassisch mit Beton
Die tansanische Regierung folgt hingegen einer anderen politischen Logik. Obwohl zunächst äußerst skeptisch gegenüber einem Programm, das mit nur wenigen Bedingungen Bargeld direkt an Bedürftige vergibt (was dem traditionell paternalistischen Verständnis der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft widerspricht), nimmt sie die positiven Nebeneffekte des Programms inzwischen gerne mit. Eine große Bevölkerungsgruppe erhält Sozialleistungen durch Regierungsstellen, was sich mitunter in WählerInnen-Stimmen auswirken dürfte. Dafür nimmt man in Kauf, dass die Kredite für das Programm in der mittleren Zukunft zurückgezahlt werden müssen.
Doch eigentlich eifert die Regierung einem traditionellen Entwicklungsmodell nach: Durch Großprojekte wie etwa dem Wiederaufbau einer wichtigen Bahnstrecke, einem Staudamm oder dem Kauf neuer Flugzeuge soll Tansania in sechs Jahren zu einem »Middle-Income«-Staat werden. Vorbild dabei ist insbesondere die Chinesische Volksrepublik, sowohl hinsichtlich der Investitionen in Beton als auch der zentral gesteuerten, autoritären Entwicklungsplanung. In den letzten Monaten ergaben sich daraus immer schärfere Konflikte mit den traditionellen Entwicklungsorganisationen, die den steigenden Schuldenstand des Landes genauso kritisieren wie die fragwürdige Effektivität dieser Projekte, deren Fertigstellung noch lange nicht gesichert ist.
Die Verschärfung des Statistikgesetzes war ein Versuch, unerwünschte ausländische Einmischung genauso wie inländische Kritik an der Regierungspolitik zu erschweren. Dass sich dieser Konflikt um die »richtige« Entwicklungsstrategie an der Hoheit über statistische Daten entzündete, zeigt, dass auch die tansanische Regierung um die symbolische Bedeutung quantifizierbarer Entwicklungs- und Wohlfahrtspolitik weiß.

 

Alex Veit leitet das Teilprojekt »Transnationale Wohlfahrt. Aufstieg, Zerfall und Renaissance afrikanischer Sozialpolitik« im Sonderforschungsbereich »Globale Dynamiken von Sozialpolitik« an der Universität Bremen.