Es wäre schon interessant zu wissen, was die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bewogen haben mag, Finanzminister Olaf Scholz (SPD) in der Haushaltsplanung in Sachen Militärbudget freie Hand zu geben. Der hat im aktuellen Haushaltsbeschluss des Berliner Kabinetts nämlich verankert, dass die Verteidigungsausgaben im kommenden Jahr „nur“ um zwei Milliarden auf knapp 45 Milliarden Euro und damit auf 1,37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Die Verteidigungsministerin hingegen hatte 47,2 Milliarden, also 2,5 Milliarden mehr gefordert. Doch damit nicht genug: Nach Scholz soll das Militärbudget bis 2023 wieder auf 1,25 Prozent des BIP absinken. Von der Leyen plante bisher für 2023 mit 1,49 Prozent und 54,7 Milliarden. Der Vorgang enthält Sprengstoff, weil die Kanzlerin erst im Vorjahr in Richtung USA und NATO ausdrücklich zugesagt hatte, 2024 mindestens 1,5 Prozent des BIP fürs Militär ausgeben zu wollen.
Trumps Kläffer an der Spree pöbelte nach Bekanntwerden der neuen Zahlen denn auch sofort los (siehe Richard Grenell unter Antworten in dieser Ausgabe). NATO-Generalsekretär Stoltenberg tutete ins gleiche Horn: „Ich erwarte mehr, ich erwarte einen weiteren Anstieg.“
Kritik kam aber auch aus Merkels eigenen Reihen. Ein „völlig falsches Signal und schlecht für die Sicherheit Deutschlands“, monierte Henning Otte, der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Der Finanzminister gefährde „unseren Ruf der Zuverlässigkeit, den wir bei unseren internationalen Bündnispartnern genießen“. Vize-CSU-Generalsekretär Florian Hahn diagnostizierte einen „sicherheitspolitischen Offenbarungseid“, Scholz setze „nicht nur die Sicherheit unserer Soldaten, sondern auch das gute Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn“ aufs Spiel. Starker Tobak, aber beide sind zugleich – in bester Tradition von Karrierepolitikern, die es bleiben wollen – zu feige, Ross und Reiter direkt zu nennen. Wie gesagt, ohne das Plazet der Kanzlerin hätte Scholz nie und nimmer …
Die lässt die Kritik derweil an sich abperlen und hantiert dabei überdies ganz locker mit einem Argument, bei dem zumindest Vorsicht geboten scheint: Es sei unsinnig, auf die „Minimaldaten“ zu schauen, womit sie die Haushaltsansätze meint. Die realen Ausgaben, die zählten, seien immer nach oben korrigiert worden. Es ist allerdings nicht nur Insidern bekannt, dass infolge der hypertrophen und notorisch ineffizienten Verwaltungs- und insbesondere Beschaffungsbürokratie des BMVg in „vielen Jahren […] zum Teil Milliarden nicht ausgegeben werden konnten und daher an den Finanzminister zurückflossen“. So steht es in einer offiziellen Verlautbarung des BMVg vom Januar dieses Jahres.
Zahlenstreit um die Militärausgaben hat in der NATO ja durchaus Tradition. Da ging es unter dem Terminus technicus Burden Sharing im Kalten Krieg auch schon mal um ein Drei-Prozent-Ziel, das das Bündnis insgesamt aber nie erreichte. Der jetzige Zahlenzirkus, der mit dem Zwei-Prozent-Beschluss des NATO-Gipfels von Wales 2014 zwar nicht begann, aber deutlich an Fahrt gewonnen hat, wird seit Donald Trumps Amtsantritt von Washington ausnehmend aggressiv geführt und ist insgesamt nicht frei von teils hysterischen Zügen. Dabei fällt meist fast völlig unter den Tisch, dass praktisch sämtliche großen und mittleren NATO-Staaten ihre Militärausgaben in den letzten Jahren systematisch erhöht haben. Der Aufwuchs allein der USA lag von 2017 auf 2018 bei knapp 90 Milliarden US-Dollar und betrug damit das Anderthalbfache des gesamten russischen Militärhaushalts.
Als Begründung für mehr NATO-Aufrüstung genannt werden üblicherweise die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen durch die aggressive, expansionistische Politik Moskaus, die an der Krim und am russischen Agieren gegenüber der Ostukraine und in Syrien festgemacht wird.
Dabei scheint in der sicherheitspolitischen Community hierzulande sowie bei den assoziierten Medien ein stillschweigender Komment vorzuherrschen – nämlich in diesem Kontext keinesfalls die Sinnfrage zu stellen oder – anders formuliert – diese zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.
Welchem sicherheitspolitischen Zweck gegenüber Russland kann noch mehr konventionelle NATO-Rüstung rationalerweise dienen?
Wenn man diese Frage indes stellt, dann landet man früher oder später bei zwei strategischen Vergleichen – dem der Militärausgaben von NATO und Russland und dem des konventionellen Kräfteverhältnisses zwischen beiden Seiten.
Laut Stockholmer Internationalem Friedensforschungsinstitut (SIPRI) beliefen sich die Militärbudgets der USA und Russlands 2018 auf 643,3 und 63,1 Milliarden US-Dollar. Das entsprach einem Verhältnis von zehn zu eins. Großbritannien, Frankreich und Deutschland verausgabten zusammen weitere 155,2 Milliarden Dollar, also zweieinhalb Mal so viel wie Moskau. Angesichts dieser exorbitanten Diskrepanzen ist der Versuch, sie mit der Behauptung zu relativieren, die Russen bekämen aber mehr bang for the buck, also mehr Schlagkraft für jeden ausgegebenen Rubel, so IISS-Experte François Heisbourg auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, einfach nur lächerlich. Ebenso wie die implizite Unterstellung, die Russen seien quasi Weltmeister in Sachen Rüstungsmanagement und -effizienz. Das allgemeine Niveau und der Zustand ihrer Wirtschaft bieten dafür keine belastbaren Anhaltspunkte. Die russische Führung scheint im Übrigen begriffen zu haben, dass sie auf dem Wege über die Militärausgaben der NATO kein Paroli bieten kann. Die russischen Ausgaben wurden nach westlichen Angaben in den vergangenen Jahren wiederholt gekürzt – etwa 2017 um zwischen zehn und zwanzig Prozent.
Was das konventionelle Kräfteverhältnis anbetrifft, so sind die etwa 800.000 russischen Soldaten mit 3,2 Millionen Mann der NATO konfrontiert. Die Gegenüberstellung bei Großwaffensystemen ergibt allein im Vergleich USA-Russland folgendes Bild: 13.000 US-Militärflugzeuge, 3550 russische; 8800 US-Panzer und 41.000 gepanzerte Fahrzeuge, 2870 russische Panzer und 10.720 gepanzerte Fahrzeuge; 10 aktive US-Flugzeugträgerkampfgruppen, ein russischer Träger. (Zahlen für 2016.)
Auch über das wirtschaftliche Potential, um einen raumgreifenden und/oder länger anhaltenden konventionellen Konflikt mit der NATO zu bestehen, verfügt Russland nicht.
Sollten die Russen das Baltikum trotzdem angreifen – eine westlicherseits gern bemühte Schreckensvision – dann mögen sie die drei kleinen Staaten wohl überrennen und durch Blockade des sogenannten Suwalki-Gaps auch die direkte Landverbindung zum NATO-Partner Polen unterbrechen können. Doch sobald die NATO ihre konventionellen Ressourcen aufs Gefechtsfeld brächte, wären die russischen Streitkräfte aussichtslos unterlegen. Da sich Moskau im Falle einer konventionellen Niederlage, „die die Existenz des Staates gefährdet“, wie es in der aktuellen russischen Militärdoktrin heißt, den Ersteinsatz von Kernwaffen vorbehält, muss mit einem entsprechenden Kriegsverlauf gerechnet werden. Und mit wahrscheinlich anschließender Eskalation bis zur gegenseitigen atomaren Vernichtung. Der russische Präsident Wladimir Putin warnte in diesem Kontext: „[…] das wird eine globale Katastrophe für die Menschheit sein. Es wird eine globale Katastrophe für den Planeten sein. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?“
Vor diesem Hintergrund ist jede weitere konventionelle Zurüstung der NATO gegenüber Russland ein sicherheitspolitisches Eigentor par excellence mit dem Potenzial zum suizidalen Finale, denn sie baut die konventionelle Überlegenheit der NATO weiter aus verkürzt damit die Zeitspanne bis zum möglichen russischen atomaren Ersteinsatz nach Ausbruch eines Krieges. Das ist eines der fundamentalen Dilemmata im Verhältnis zwischen der NATO und Russland, das daraus resultiert, dass Moskau nukleare Supermacht bleibt. Auch mit zwei oder – wie im Falle der USA – 3,5 Prozent des BIP für Aufrüstung ist dieses Faktum nicht zu „neutralisieren“.
Diese Sachverhalte und Zusammenhänge gehörten unbedingt mit in Debatten um Rüstungsausgaben und ihre weitere Steigerung. Dem aber steht offenbar der genannte Komment recht wirkungsvoll entgegen.
Der Amtseid des deutschen Bundeskanzlers enthält bekanntlich die Verpflichtung, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren. Vielleicht denkt Angela Merkel in diesen Fragen weiter, als sie öffentlich erkennen lässt, und hatte dies bei ihrem Plazet für Scholz’ „Sparpläne“ mit im Hinterkopf …
P.S.: Bevor es nach einem Kriegsausausbruch mit Russland zur allgemeinen Apokalypse käme, könnte Moskau im Angesicht einer drohenden konventionellen Niederlage – quasi als letzte Warnung – NATO-Europa und Nordamerika auch erst einmal den Stecker ziehen. Durch entsprechend platzierte Höhenexplosionen einiger weniger atomarer Sprengköpfe, um einen verheerenden Elektromagnetischen Impuls (EMP) auszulösen. Der würde mehr oder weniger flächendeckend und dauerhaft die Stromversorgung der Gesellschaften kappen. Was Deutschland in einem solchen Falle zu gewärtigen hätte, soll demnächst in einem weiteren Beitrag beleuchtet werden.