Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Der Migrationspakt der Vereinten Nationen ist in diesem Haus mehrfach mit dem Hinweis verteidigt worden, er belasse die Souveränität über die Flüchtlingspolitik doch bei den einzelnen Staaten. Das ist richtig, und es ist schwachbrüstig. Der Pakt erfordert stärkere Fürsprache – unter anderem durch weitere Aufklärung über die Traditionen, in denen der Angriff auf ihn steht, und durch genauere Festlegungen zu einem Handeln in seinem Sinne.
Ich erinnere mich gerne an ein Erlebnis, das fast fünfzig Jahre zurückliegt. Als Kernschichter arbeitete ich damals im Transformatorenwerk Berlin-Oberschöneweide. Am Tag nach der Mondlandung Neil Armstrongs meinte mein Vorarbeiter und guter Kumpel Wilfried plötzlich: „Sag mal, Wolfgang, wenn der an den Rand geht, fällt er doch runter.“ Aber er ließ sich darüber aufklären, dass der Mond eine Kugel und keine Scheibe war. Das waren noch Zeiten.
Inzwischen ist es nicht mehr ausgemacht, dass Udo Lindenbergs Liedzeile „Hinterm Horizont geht’s weiter“ allgemein geglaubt wird. So vermögen die Kolleginnen und Kollegen, die hier ganz rechtsaußen Platz genommen haben, sich offensichtlich nicht vorzustellen, dass Menschen auch menschenwürdig leben wollen und dieselben Rechte wie sie selbst haben, wo ihr Blick nicht mehr hinreicht. Sie haben lieber eine Scheibe und suhlen sich in ihren eigenen Vorurteilen. Wer da anders spricht, glaubt oder sich verhält, ist fremd und möge bleiben, wo der Pfeffer wächst – selbst wenn da kaum noch etwas wächst. Wenn – wie es der größte deutsche Dichter schon so weise beobachtete – hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen, möchte man schließlich am Fenster stehen, sein Gläschen austrinken und den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten sehen, bevor man abends froh nach Hause kehrt und den Frieden segnet. „Sie mögen sich die Köpfe spalten, Mag alles durcheinander gehn; Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.“
Solche Reaktionen waren auch nach dem Osterspaziergang verbreitet. Der junge Heinrich Mann zum Beispiel rief zwar schon am Ende des 19. Jahrhunderts zum Zusammengehen der Kulturnationen Frankreich und Deutschland und zur Union Europas auf. Aber sein Aufruf resultierte wesentlich aus der Furcht vor dem entstehenden Bündnis Frankreichs mit Russland und dem „Theil ursprünglicher, ungebrochener Kraft, um den der hochkultivirte, künstliche Westen dem rohen und skrupellos gebliebenen Osten nachsteht“. Schon werde „ganz Europa überall auf seinen Wegen belästigt durch den wirthschaftlichen Einfluß außereuropäischer Länder, die zum Theil kaum civilisirt, unter ganz ungleichen Bedingungen produziren“. Wo führe das hin? „Abrüstung? Welchen Sinn hat das Wort für Völker, deren Leben sich auf ungesattelten Pferdrücken zuträgt und sich täglich mit den Waffen in der Hand erhält. Und wenn sie die Waffen fortlegen so thun sie es um an der Brust einer ursprünglichen Natur dumpfen und fatalistischen Träumen nachzuhangen von einer endlos weiten Zukunft, die ihnen gehört. Ein Prophet oder Führer, kühner als andere, oder vielleicht eine Theuerung, ein Mißwuchs der Frucht, empfindlicher als andere, weckt sie auf, sie machen sich auf den Weg den Gott ihnen vorgeschrieben, und langsam schiebt sich ihre unwiderstehliche Wucht über unsern in seiner Kultur erschlafften Erdtheil.“
Sie sehen, meine Damen und Herren von der rechten Front, wie wenig originell Sie sind, wenn Sie nachts aus ihren Alpträumen erwachen und diese tags in die Welt posaunen. Und uns, verehrte weitere Mitglieder dieses hohen Hauses, hat ein hundertster Jahrestag gerade vor Augen geführt, wohin Nationalismus auch unter angeblich hochkultivierten Staaten führen kann, wenn sie sich in feindlichen Blöcken zusammenrotten. Sollte es wirklich unser erstes Ziel sein, diesmal bloß alle „Civilisirten“ zusammenzuschließen, um uns die aus wirtschaftlich oder politisch unerträglichen Verhältnissen Flüchtenden vom Hals zu halten, an den sie sich untereinander gehen mögen so viel sie wollen? Oft haben die ja nicht einmal mehr Pferde – kommen jedoch nun auch noch aus dem Süden, wenden manchmal Flugzeuge, Lastwagen und neuartige Waffen gegen die überhaupt nicht Rohen, die sie erfunden, gebaut und verkauft haben, und wollen sich bisweilen einfach nicht integrieren.
Glaubte man einem weiteren historischen Zeugen, hätte Widerstehen übrigens sowieso wenig Sinn. Der Untergang des Abendlandes, berechnete der vor nun auch schon hundert Jahren kühl voraus, werde bis zum Jahr 2200 vollzogen sein. Für die Zeit, in der wir gerade leben, steht längst auf synoptischen Tafeln: „Zunehmend primitiver Charakter der politischen Formen. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung.“ Und absehbar wird: „Geschichtsloses Erstarren und Ohnmacht auch des imperialen Mechanismus gegenüber der Beutelust junger Völker oder fremder Eroberer“. Bis zum „langsamen Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte Lebenshaltung“ ist zwar noch zweihundert Jahre Zeit. Und dem mag sich daher noch entgegenstemmen, wer spürt, wie in ihm und ihr „die formvollen Mächte des Blutes wieder erwachen“. Aber über einen „Cäsarismus“, in dem die Gewaltpolitik über das Geld siegt, käme keiner mehr hinaus.
Sie sollten bedenken, werte Kolleginnen und Kollegen am rechten Rand: Einem deutschen Mann haben die Konservativen, zusammen mit Mächten des Geldes, es schon ermöglicht, daß die Gewaltpolitik über alles siegte. Es ist Menschen überall, aber auch der Nation nicht gut bekommen. Weiter werden auch Sie es nicht bringen. Und, wie gesagt, die Barbaren reiten dann dennoch.
Schluss mit dem Unsinn. Man muss grundlegend anders denken und anders handeln. Zu oft wurde und wird unter dem Vorwand, das Land vertrage nicht so viele Ausländer, nicht verstanden, dass diese Ausländer, so fremd sie erscheinen und sein mögen, demselben Menschengeschlecht angehören wie die Bewohner jener demokratischeren oder reicheren Länder, in die sie fliehen, und dass die Menschenrechte, zumindest seit einiger Zeit und in Gegenden, die sich zivilisiert nennen, universal sind. Wenn der Kapitalismus von der Revolution von 1789 bis nach dem Zweiten Weltkrieg sein Gleichgewicht durch soziale und politische Kompromisse im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat – dem drängendsten Problem des Industriezeitalters – hat suchen können, so müssen die Staaten und die Gesellschaften unserer Tage allseits verträgliche Lösungen für zwei andere Weltprobleme finden, wenn sie nicht untergehen wollen: das der Umwelt und das der Ungleichheit – vor allem der zwischen den reichen und den armen Teilen des Globus.
Statt dessen scheinen unsere Länder – ihre Eliten wie ihre Bewohner – mehrheitlich noch oder gar zunehmend zu glauben, dass ihr Überleben keine Frage der menschlichen Solidarität, sondern eine der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht sei, über die sie verfügen. Zweifellos wird diese Macht noch eine Weile ausreichen, um die Grenzen im gegenwärtigen Zustand zu erhalten oder sie sogar weiter zu befestigen. Perspektivisch aber scheinen mir kein Nationalismus und keine Rüstung die erforderlichen Revolutionen im Verstehen der Anderen wie vor allem im Verändern der politischen und wirtschaftlichen Regeln, der Beziehungen und der Hierarchien zwischen denen, die da sind, und denen, die kommen, ihren Gesellschaften und ihren Staaten ersetzen zu können – um es den Flüchtenden zu ermöglichen, dort zu leben, wo sie geboren sind, und uns allen, mit ihnen in einer Welt zu leben, die von den Werten der gegenseitigen Hilfe und Solidarität der Menschen bestimmt ist.
Zurück in die Grotesken des heutigen Tages. Drei erste Schritte sollten von diesem Haus aus sofort gesetzt werden.
Erstens. Die Heimatabteilung des Bundesministeriums des Innern weist ein Siedlungsgebiet aus, in dem diejenigen leben können, die ihre rein deutsche Abstammung vier Generationen zurück nachweisen und die jene Kriterien der deutschen Leitkultur anerkennen, die ein früherer Vorsitzender einer Fraktion aus der Mitte dieses Hauses auf einem Bierdeckel definieren möge. Die Grenzen dieses Gebiets bleiben so offen, wie seine Bewohner es bestimmen.
Zweitens. Die Heimatabteilung wird danach dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angegliedert. Dieses wird umstrukturiert zu einem Bundesministerium für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit und erhält zur Erfüllung seiner Aufgaben weitere finanzielle und soweit verwendbar auch personelle Ressourcen aus dem Bundesministerium der Verteidigung. Die Mittel dieser beiden Ministerien werden spätestens innerhalb von drei Jahren auf insgesamt 2,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufgestockt, wovon dem Ministerium für Zusammenarbeit mindestens 2 Prozent zustehen.
Drittens. Eine interfraktionelle Gruppe von Abgeordneten nominiert Bundeskanzlerin Angela Merkel für den Friedensnobelpreis – für die visionäre Kraft, mit der sie durch das Öffnen der deutschen Grenzen im Herbst 2015 ein Beispiel für die Menschlichkeit, die Sittlichkeit und die Bereitschaft zum Erschüttern eigener Strukturen und Gewohnheiten gegeben hat, ohne die die Menschen auf diesem Globus nicht friedlich werden leben können.