Kriegsfähigkeit und Friedensfähigkeit der Weltgesellschaft nach der Zeitenwende

Kriege verhindern und Frieden sicherer und besser machen - das verträgt keine politische Enge. Es erfordert die größtmögliche politische Koalition. Erforderlich ist eine neue Koalition der Vernunf

"Es gibt historische Augenblicke, die selbst von Zeitzeugen als Marksteine eines Epochenendes erkannt werden können. Die Jahre um 1990 waren eindeutig ein solcher säkularer Wendepunkt gewesen. Doch während jeder sehen konnte, daß das Alte zu Ende gegangen war, herrschte über den Charakter und die Aussichten des Neuen tiefe Ungewißheit."1 Schon vor mehr als einem Jahrzehnt äußerte der britische Historiker Eric Hobsbawm diesen Gedanken. Doch noch immer herrscht bei uns Zeitzeugen des Umbruchs tiefe Ungewissheit über den Charakter und die Aussichten des Neuen. Was wir über die neue Ära allenfalls wissen können, ist das, was an ihrem Anfang schon sich grundlegend verändert hat und was aus der alten noch in der neuen Ära weiter wirkt. "Wir wissen nicht, was als nächstes kommt und wie das dritte Jahrtausend aussehen wird, aber wir können sicher sein, daß es vom kurzen 20. Jahrhundert geprägt sein wird."2 Das gilt wohl auch für den Charakter des Krieges und des Friedens und für die Aussichten in dieser Lebensfrage.

In der zu Ende gegangenen Geschichtsperiode, im kurzen 20. Jahrhundert, wie Hobsbawm die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion nennt, haben Krieg und Frieden eine dominante Bedeutung für den Gesellschaftsprozess erlangt. Charakteristisch für diese Zeit wurde der imperialistische Krieg, der als interimperialistischer oder Kolonialkrieg in Erscheinung trat. Typisch waren auch antikoloniale Kriege, die oft als Guerillakrieg geführt wurden, und ebenso Bürgerkriege. Noch nie griff der Krieg aber so zerstörerisch in die Gesellschaft ein und noch nie war der Frieden von so existenzieller Wichtigkeit für die Weltentwicklung. Erstmalig ist der Krieg in der zurückliegenden Epoche zum Weltkrieg geworden und hat als sein Gegenstück den Weltfrieden hervorgebracht. Das Einzigartige aber ist vor allem, dass diese Ära einen Krieg als reale Möglichkeit ins Leben gerufen hat, mit dem die menschliche Gesellschaft ausgelöscht würde.

In ihrem Wesen und ihren rscheinungsformen sind Krieg und Frieden ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Totalität, also der Produktions- und der ideologischen Verhältnisse. Krieg und Frieden sind zwei komplementäre Formen der Politik, und welche von ihnen zum Zuge kommt, wird prädestiniert von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auch den Inhalt und die Form der Politik bestimmen. Wir wissen aus dem verflossenen kurzen 20. Jahrhundert, dass sich die Rolle und der Charakter von Krieg und Frieden immer in Abhängigkeit von einer tieferen Ursache verändert haben, nämlich von grundlegenden Umwälzungen in der Produktivkraftentwicklung. Hatte die industrielle Revolution die kapitalistische Produktions- und Lebensweise etabliert, so revolutionierten sich ständig die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in ihr weiter. Der Kapitalismus wandelte sich in den monopolistischen und dieser brauchte eine imperialistische Politik. Sie brachte eine neue Art von Krieg, den imperialistischen Krieg hervor.

Der Weltkrieg war die Fortsetzung der imperialistischen Politik mit anderen Mitteln. Eine neue Art von Krieg war er auch wegen der Mittel, mit denen er geführt wurde, ermöglicht von den neuen Produktivkräften, die von der industriellen Revolution geschaffen wurden. Und so ging es weiter mit dem Zweiten Weltkrieg und mit dem völlig veränderten Charakter eines möglichen dritten Weltkrieges. Immer lag dem Krieg und auch seinem Gegenstück, dem Frieden, eine bestimmte Ausprägung der Produktionsweise zugrunde, die den Charakter der realen und möglichen Kriege und Frieden bestimmte und ganz wesentlich dafür war, ob die Politik in Form des Krieges oder in Form des Friedens geführt worden ist.

Nehmen wir das als heuristische Methode für die Untersuchung von Krieg und Frieden in der heutigen Weltgesellschaft, so stellt sich die Frage nach Wesen und Erscheinungsformen der sie bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

Zur Kriegsfähigkeit der heutigen Weltgesellschaft
Auch angesichts der Globalisierung bleiben die gesellschaftlichen Verhältnisse in den verschiedenen Weltregionen weiter sehr heterogen. Die Spanne reicht von hoch entwickelten Formen kapitalistischer Produktions- und Lebensweise über weniger entwickelte Formen, die von nachholender Entwicklung und noch vorhandenen vorkapitalistischen Gesellschaftsformen gekennzeichnet sind, bis hin zu Formen ursprünglicher Subsistenzwirtschaft und einer von Familien und Stämmen formierten Gesellschaft sowie dementsprechend archaischen ideologischen Verhältnissen. Mehr denn je aber werden von den hoch entwickelten bürgerlichen Gesellschaftsformen all die anderen überlagert und umgeformt.

Aus diesen heterogenen Produktions- und Lebensweisen entspringen auch weiterhin verschiedene Kriege, die sich in ihrem Wesen, in ihrem politischen und militärischen Charakter gravierend voneinander unterscheiden. Dasselbe gilt für die unterschiedlichen Formen des Friedens. In den noch nicht einmal zwei Jahrzehnten der neuen Geschichtsperiode ereigneten sich vor allem zahlreiche Sezessionsund Unabhängigkeitskriege, Bürgerkriege, ethnische und Religionskriege und auch Stammeskriege. In ihnen verflochten sich oft diese unterschiedlichen Merkmale, und fast immer waren die tieferen Ursachen wirtschaftlicher Natur. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass es im meist sehr verworrenen Kriegsgeschehen letztlich um ökonomische Interessen von Völkern und Volksgruppen, Ethnien und Stämmen ging. Überwiegend waren diese Kriege bedingt oder ermöglicht durch die Auflösung der alten und die Entstehung einer neuen Weltordnung. Sie fanden vor allem an den Rändern der vorher bestehenden Machtblöcke, in Gebieten der aufgelösten Sowjetunion und in Hemisphären statt, in denen das Ordnungssystem, das die globale Konkurrenz der beiden Weltsysteme geschaffen hatte, nun seine Geltung verlor.

Dominant aber sind in der neuen Ära jene wirklichen und möglichen Kriege (sowie, dazu später, Formen des Friedens), die aus der hoch entwickelten bürgerlichen Produktions- und Lebensweise und deren nun ungehinderter globalen Ausdehnung resultieren: die Kriege der kapitalistischen Zentren gegen Staaten an der Peripherie. Es sind imperialistische Kriege zur Neuordnung der Welt.3

In der bürgerlichen Produktions- und Lebensweise haben sich in den letzten Jahrzehnten wesentliche Veränderungen vollzogen, hervorgerufen von einer neuen Phase in der Revolution der Produktivkräfte. Schon in der vorangegangenen Geschichtsperiode war die zweite industrielle Revolution in eine neue Phase getreten - einige bezeichnen sie als dritte industrielle Revolution -, die geprägt ist von der Revolution der Denkzeuge. Doch erst mit der massenhaften Anwendung der Mikroelektronik in allen Bereichen der Gesellschaft, mit der durchgreifenden Automation der Produktion und speziell mit der globalen Vernetzung der neuen Informationsverarbeitungsmittel hat sie ihre Qualität voll entfaltet.4

Die erneute Revolution der Produktivkräfte revolutioniert auch neuerlich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Transnationale Konzerne, neuer Finanzkapitalismus mit Verselbständigung der Finanzmärkte, eine nie gekannte Machtstellung internationaler Geldeliten - 500 Multis kontrollieren über die Hälfte des Bruttosozialprodukts der Welt -, Entmachtung der Politik durch die Ökonomie, Aushöhlung des demokratischen Rechts- und Sozialstaates - einer der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte (Erhard Eppler) -, Marktradikalismus, Aufkündigung des Klassenkompromisses der fordistischen und keynesianistischen Phase, Anstieg der relativen und Wiederkehr der absoluten Verelendung, gesellschaftliche Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung, Aufbrechen sozialer Spannungen und internationaler Konflikte sowie supranationaler Sicherheitsimperialismus sind dafür kennzeichnende Stichworte.

Die enorme Beschleunigung der Entwicklung und innovativen Umwälzungen in allen Lebenssphären zerbricht die von Traditionen geprägten Gesellschaftsformen und durch Generationen verfestigte Wertvorstellungen und Verhaltensnormen. Die Weltgesellschaft unterliegt dramatischen Veränderungen der ökologischen und ökonomischen Existenzbedingungen. Wir leben in einer Welt voller Antagonismen, die kriegsträchtig sind und Frieden notwendig machen.5

Aus den neuen, nur stichwortartig gekennzeichneten kapitalistischen Produktionsverhältnissen erwachsen eine entsprechende Politik und Ideologie. Der Kapitalismus neuer Form unterwirft die Welt seinem Gesetz, und die Tendenz des Kapitals zur Totalität und globalen Ausdehnung seiner Herrschaft wirkt jetzt ungezügelt und in neuer, von der Globalisierung bestimmten Weise. Dem entspricht die Politik jener Staaten, in denen sich die Kapitalmacht konzentriert. Auf internationaler, speziell sicherheitsrelevanter Ebene tritt sie als so genannter neuer Imperialismus in Erscheinung, von dem seine Befürworter wie seine Kritiker heute sprechen.6

An dieser Stelle ein Wort zum Imperialismusbegriff. Ich denke, unsere historischen Erfahrungen und die neuerliche Imperialismusdebatte ergeben, dass es nicht richtig ist, dem Begriff Imperialismus, wie Lenin es einführte, die Bedeutung einer Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu geben. Lenin war seinerzeit der einzige unter den namhaften Imperialismustheoretikern, die unter Imperialismus ein bestimmtes (letztes) Stadium des Kapitalismus verstanden.7 Auch das gehört, so mein heutiges Urteil, zu den gesellschaftstheoretischen Irrtümern des Marxismus-Leninismus. Vielmehr ist unter Imperialismus eine Politik zu verstehen, die auf die Schaffung oder Aufrechterhaltung eines Imperiums, also auf imperiale Herrschaft gerichtet ist.

In der bürgerlichen Gesellschaft erhält der Imperialismus einen ihr entsprechenden Inhalt und erscheint in spezifischen Formen. Über den kapitalistischen Imperialismus schrieb Rosa Luxemburg: "Sein Wesen besteht gerade in der Ausbreitung der Kapitalsherrschaft aus alten kapitalistischen Ländern auf neue Gebiete und im wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzkampf jener Länder um solche Gebiete."8 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sagte sie: "Heute ist der Imperialismus nicht nur eine Art der auswärtigen Politik, heute ist er die Religion der bürgerlichen Gesellschaft."9 Der neue Imperialismus ist also als eine Art imperialistischer Politik zu verstehen und es scheint mir berechtigt zu sagen, dass er heute in maßgeblichen Staaten wieder die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ist.

In der heutigen Weltgesellschaft scheinen die Bedingungen gegeben, den Drang des großen Kapitals zur Universalität und globalen Ausdehnung seiner Herrschaft erneut in Form imperialistischer Politik durchzusetzen. Die als neuer oder auch demokratischer Imperialismus bezeichnete Form der Politik erzeugt notwendig zwei wesentliche globale Konflikte:

Erstens ist das der Konflikt zwischen kapitalistischen Metropolen und Peripherie (Dritte Welt). Der Reichtum im Zentrum hat die Armut an der Peripherie zur Voraussetzung, und er ist abhängig vom Fluss der Profitquellen an der Peripherie. Die Metropolen gebrauchen ihre überlegene Militärmacht, um diesen Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden - als Drohkulisse oder Krieg. Verändert haben sich aber wie gesagt die Gesellschaftsverhältnisse und auch die geopolitische Konfiguration und globale Sicherheitsordnung. Es gibt nicht mehr die bipolare militärische Konfrontation zwischen der Ersten und der Zweiten Welt, die Krieg im Kernbereich des Konflikts nicht aufbrechen ließ.

Als eine Folge ergibt sich, Krieg als Mittel der Politik zu gebrauchen ist wieder möglich, auch für Staaten, die zuvor durch die bipolare Sicherheitsstruktur daran gehindert waren. Wo aber haben diese Staaten die Freiheit, Krieg wieder als Mittel ihrer Politik zu gebrauchen? Sie haben sie nur im Bereich zwischen militärischer Übermacht und Ohnmacht. Bisher kam es hier ausschließlich zu High-Tech-Kriegführung mit herkömmlichen, (nichtatomaren) Waffen. Doch es wächst immer mehr die Gefahr, dass dabei auch nichtstrategische Atomwaffen zum Einsatz kommen. Dieser Konfliktbereich ist das Feld für den Gebrauch des Krieges als Mittel der Politik. Die Politik, die in ihnen fortgesetzt wird, ist die Errichtung einer neuen Weltordnung nach dem Maß der stärksten kapitalistischen Mächte.

Zweitens erwächst zugleich ein globaler Konflikt aus der Konkurrenz der großen Mächte untereinander um den geopolitischen Rang bei der Teilhabe an der Kapitalverwertung. In diesem Konflikt spielt die globale militärische Interventionsfähigkeit eine wesentliche Rolle, noch mehr aber die atomare Schlagkraft. Die riesigen Aufwendungen für die strategischen Kernwaffenkräfte in den USA, in Russland und anderen Atommächten lassen sich nicht aus den Konflikten mit militärisch Schwachen erklären. Ihre wesentlichen Gründe liegen in der geopolitischen Rivalität und globalstrategischen Machtkonkurrenz. Auch auf diesem Konfliktfeld, in der Konkurrenz der großen Mächte, ist der Kampf um eine neue Weltordnung wesentlicher Inhalt der Politik.

Aber, und das ist entscheidend, im Konflikt der globalen Konkurrenten untereinander kann Politik nicht mit Krieg gegeneinander durchgesetzt werden. Zwischen Atommächten, die sich in ihrer Lebensfähigkeit vernichten können, ist Krieg weiterhin sinnlos, nicht Mittel, nicht Fortsetzung, sondern Ende der Politik. Hier wäre es der alles vernichtende Krieg, der nicht Krieg im eigentlichen Sinne ist. Diesen Konflikt mittels Krieg gegeneinander entscheiden zu wollen, ist genau so sinnlos und unmöglich, wie es das im Konflikt der beiden Gesellschaftssysteme und Machtblöcke im Kalten Krieg gewesen ist. Genau so gefährlich wie seinerzeit ist es aber auch, die Fähigkeit zu einem solchen alles vernichtenden Krieg aufrecht zu erhalten, und damit die Möglichkeit, dass er ausbricht. Das Festhalten am atomar gestützten System konfrontativer militärischer Sicherheit bedroht die Welt weiterhin mit dem atomaren Untergang. Das halte ich für die eigentliche Gefahr. Sie wird meist übersehen, weil die öffentliche Wahrnehmung fixiert ist auf die lokalen Expeditionskriege.

Unübersehbar beweist die heutige Weltgesellschaft also ihre Kriegsfähigkeit. Es geht dabei nur um die Frage, worin sie besteht, wie maßgebliche politische Kräfte von ihr Gebrauch machen können und wohin sie treibt. Gesteigert wird die Kriegführungsfähigkeit derzeit durch eine enorme Kriegsrüstung. Obgleich der bis zum Irrwitz militarisierte Systemkonflikt Vergangenheit ist, nehmen die Rüstungen nicht ab, sondern wachsen zu immer größeren Ausmaßen empor. Im Jahr 2005 haben die Weltrüstungsausgaben erstmalig die Marke von einer Billion Dollar überschritten. Nach neuesten Angaben bringen davon mit 47 Prozent nahezu die Hälfte allein die USA auf, weitere 30 Prozent die übrigen NATO-Staaten. Der Rest der Welt teilt sich in die letzten 23 Prozent, darunter solche Schwergewichte wie Russland, China, Indien und Japan. Noch schwerer aber wiegt die Qualität der Kriegsrüstung. Möglich geworden ist eine Kriegführung neuer Art mit Präzisionswaffen, vor allem mit zielsuchenden Abstandswaffen, mit satelliten- und computergestützter Gefechtsführung, also Krieg der sechsten Generation,10 und vorbereitet wird der Krieg aus dem Weltraum 11.

Noch immer spielen die Atomwaffen in den Militärstrukturen und strategischen Planungen die Rolle der stärksten einsetzbaren Gewaltmittel. Obwohl der Systemgegensatz entfallen ist, erhalten die USA und Russland weiterhin die Fähigkeit zur garantierten gegenseitigen Vernichtung aufrecht und es ist damit zu rechnen, dass weitere atomare Weltmächte diese Fähigkeit erlangen. Im Sicherheitsrat haben von den fünf Atommächten schon vier den Ersteinsatz von Atomwaffen zum Grundsatz ihrer Militärdoktrin erhoben.

Grundsätzlich muss man sich darüber klar sein: Nicht der Konflikt zwischen den beiden Eigentumssystemen und Ideologien war der Grund für die Verwandlung des Krieges in einen Gewaltexzess, der jeden politischen Zweck zunichte macht. Die Gründe dafür waren die neuen Kriegsmittel, die alles vernichtenden Waffen und die Verwundbarkeit hochtechnologischer Gesellschaften durch massive Waffenwirkung. Diese Gründe aber bestehen nicht nur weiter, sie verstärken sich immer mehr. Unverhüllt strebt die übrig gebliebene Supermacht eine unipolare militärische Machtstruktur an. Darin sehe ich die größte Gefahr, weil aus dem makabren Gleichgewicht des Schreckens, in dem Raymond Aron seinerzeit - ich denke zu Recht - eine List der Vernunft (Hegel) erkannte, gerade das hemmende Gleichgewicht beseitigt, der Schrecken aber entfesselt würde.

Im Verhältnis von Imperialismus und Krieg ist also einiges konstant geblieben und einiges, sehr wesentliches, hat sich verändert. Wir sehen, auch der neue Imperialismus geht einher mit Kriegen, erzeugt seine materiellen Mittel und die Neigung, von ihnen politischen Gebrauch zu machen. Vom alten Imperialismus unterscheidet ihn jedoch vor allem, dass Kriege zwischen imperialistischen Konkurrenten nicht mehr führbar sind. Als Ersatz dafür steht wie im Kalten Krieg zwischen den globalen Mächten der Krieg der schweigenden Waffen, eine Politik, die den Krieg gegeneinander durch wechselseitige atomare Abschreckung paralysiert - mit all den gefährlichen Implikationen, die der atomaren Abschreckung eigen sind.

Zur Friedensfähigkeit der heutigen Weltgesellschaft
Die Friedensfähigkeit der Weltgesellschaft in der neuen Ära wird häufig generell infrage gestellt. Bejaht man sie, muss man ebenfalls beantworten, worin sie besteht, wie sie realisiert werden kann und wie die Perspektive eines sicheren Friedens zu beurteilen ist. Nach allem, was wir in der zurückliegenden Zeit erfahren haben und über die Entstehungsgründe des Krieges wissen, ergibt sich der Schluss, dass es eine Gesetzmäßigkeit des Krieges nicht gibt. Was es gibt, sind ökonomisch begründete, in den materiellen und ideologischen gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelnde Triebkräfte für militärische Gewalt und Krieg. Aber Krieg gehört der Politik an, ist Form der Politik und folglich Willensentscheidung von gesellschaftlichen Subjekten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Krieg eine mögliche Form der Politik ist, können mehr oder weniger Triebkräfte des Krieges freisetzen, erzwingen aber den Krieg nicht. Er bleibt ein Akt der politischen Entscheidung zwischen grundsätzlich gegebenen Alternativen, weil in denselben ökonomischen und anderen gesellschaftlichen Verhältnissen stets zugleich auch Triebkräfte für Frieden wurzeln.

Gerade die bürgerliche Produktionsweise braucht friedliche Bedingungen für ihr normales Funktionieren. Frieden ist eine notwendige Geschäftsbedingung für die Kapitalverwertung. Rosa Luxemburg unterschied zwei Seiten der kapitalistischen Akkumulation. Über die eine Seite, die sich in der Produktion und auf dem Warenmarkt vollzieht, schrieb sie: "Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form". Daneben vollzieht sich die Kapitalakkumulation, das ist die andere Seite, auch außerhalb der rein ökonomischen Sphäre auf der Weltbühne. "Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege."12 Im Krieg sieht Rosa Luxemburg also nur eine unter mehreren Methoden, die Kapitalakkumulation mittels imperialistischer Politik zu betreiben, und die erste, die grundlegende Seite der Kapitalakkumulation erfordert geradezu Frieden.

Vom Krieg sagte Marx, dass "er unmittelbar ökonomisch dasselbe ist, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Wasser würfe."13 Mittelbar soll er freilich ökonomisch Gewinn bringen. Krieg soll, allgemein gesprochen, einen anderen Frieden schaffen, Frieden zu den eigenen Bedingungen, einen, der bessere Bedingungen für die Kapitalverwertung bietet. Krieg ist für die bürgerliche Gesellschaft daher nicht der Normalzustand, sondern der Ausnahmezustand. Das kann natürlich nicht beruhigen, denn eben dieser Ausnahmezustand zerstört, wenn er eintritt, beim heutigen Stand der Kriegstechnik die Lebensgrundlagen der betroffenen Gesellschaft. Aber dass Frieden, diese Form der Politik, der Normalzustand der bürgerlichen Gesellschaft ist, das ist der wesentliche objektive Ansatzpunkt für das Ringen um den Frieden. Ohne diese materielle Voraussetzung in den Gesellschaftsverhältnissen selbst könnten wir die Hoffnung, unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen einen sicheren Frieden zu erkämpfen, als aussichtslos fahren lassen.

In der heutigen Weltgesellschaft ist der Gebrauch des Krieges für kapitalistische Akteure eine Kosten-Nutzen-Rechnung, bei der sie sich allerdings oft verrechnen. Die USA haben allein im Irakkrieg schon über 200 Milliarden Dollar ins Wasser geworfen, und es werden noch viel mehr. Eine Weltordnungspolitik mit Militärmacht und Krieg kann den Interessen der Kapitalgewaltigen möglicherweise mehr schaden als nutzen. Wenn dieselben Resultate ohne Krieg erreicht werden können, warum dann den Aufwand für Krieg betreiben und die Kriegsrisiken eingehen? Ich halte es für wahrscheinlich, dass die negativen Folgen der aggressiven Variante globaler Kapitalherrschaft mittel- oder langfristig einen Strategiewechsel erzwingen werden.

Allerdings erzeugen Militarisierung und Krieg auch eine eigene Logik. Einmal gesetzte Ursachen haben fortgesetzte Wirkungen. Ist die Rüstungsspirale einmal im Gang und ist die Kriegführungsfähigkeit geschaffen, dann ist die Verführung groß, sie zu nutzen. Es wächst dann auch der Druck, den die geschaffenen Tatsachen ausüben. Der Geist der Militarisierung, das Geflecht der gesellschaftlichen Strukturen, die die Kriegführungsfähigkeit ausmachen, die Notwendigkeit, ihre Funktionstüchtigkeit aufrechtzuerhalten und die Rüstungslasten zu rechtfertigen, drängen zum Krieg.

So eng imperialistische Politik aber auch mit Krieg verbunden ist, wäre es doch falsch, sie mit Krieg zu identifizieren. Imperialistische Politik muss nicht unbedingt kriegerisch sein. Auch für sie gilt, dass Krieg und Frieden zwei Formen der Politik sind, zwischen denen ihre Akteure wählen können. Ein und dieselbe Politik kann in der Form des Friedens oder in der Form des Krieges betrieben werden. Diese Unterscheidung ernst zu nehmen ist ganz wichtig für eine Differenz, von der außerordentlich viel abhängt. In Bezug auf das Verhältnis zum Krieg sehe ich eine gravierende Differenz zwischen dem Imperialismus der Weltmacht USA und dem Imperialismus der Europäischen Union.

Die Vereinigten Staaten, die sich als die einzige Weltmacht verstehen und von einer nationalistisch-neuimperialen Machtgruppierung beherrscht werden, sind darauf aus, den globalisierten Kapitalismus durch ein dauerhaftes amerikanisches Imperium zu sichern. Die reale Voraussetzung dafür ist eine neuartige qualitative Machtdifferenz zwischen den USA und dem Rest der Welt.14 Am deutlichsten äußert sich diese Machtdifferenz in den militärischen Fähigkeiten. Wie Zbigniew Brzezinski verriet, beruht "die imperiale Macht Amerikas in hohem Maße auf der überlegenen Organisation und der Fähigkeit, riesige wirtschaftliche und technologische Ressourcen umgehend für militärische Zwecke einzusetzen".15 Infolgedessen verfügen die Vereinigten Staaten "heute über einen in technologischer Hinsicht beispiellosen Militärapparat, den einzigen mit einem weltweiten Aktionsradius."16

Das animiert die US-Politik, beim Verfolgen ihrer imperialistischen Ambitionen auf militärische Gewalt und Krieg zu setzen. Schon vor seiner Wahl zum Präsidenten ließ Bush wissen: "Unsere Armee ist dafür da, Kriege zu führen und zu gewinnen."17 Peacekeeping sei etwas für Europäer. Mit solchen Präferenzen werden in den Vereinigten Staaten Präsidenten gewählt und es wird ihnen gestattet, Kriege zur Neuordnung der Welt zu führen. Die Politik der nationalistischen neokonservativen Machtgruppierung in den USA, mit der, gestützt auf militärische Dominanz, ein globus americanus geschaffen werden soll, ist es, die vor allem die Kriege und Gefährdungen des Weltfriedens erzeugt.

Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika legt fest: "Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option präventiver Handlungen offen gehalten, um einer hinreichend großen Bedrohung der nationalen Sicherheit begegnen zu könnenÂ…selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird."18 Das bedeutet nichts anderes als die Selbstermächtigung zum Aggressionskrieg.

Anders ist das in der Europäischen Union.Die Europäische Union, wage ich zu behaupten, bevorzugt in ihrer imperialistischen Politik nichtkriegerische Formen und setzt militärische Gewalt vorrangig konfliktdämpfend ein. Krieg bleibt eine Option, wird aber als Ultima Ratio der Politik eingestuft und soll durch ein UN-Mandat gedeckt sein. Objektiv hat das wohl seinen wesentlichen Grund darin, dass die Europäische Union schon wegen ihrer schwachen militärischen Potenzen auf die Stärke von Ökonomie und Politik setzen muss, um auf der Weltbühne handlungsfähig zu sein. Es wäre eine politische Dummheit, diese wichtige Differenz in der Haltung zum Krieg zu ignorieren, anstatt sie zu nutzen, um für das Abkoppeln der europäischen Staaten von der kriegerischen Weltordnungspolitik Amerikas zu kämpfen.19

Die maßgeblichen Staaten in der Europäischen Union wollen zwar ebenfalls die dauerhafte Sicherung eines globalisierten Kapitalismus. Das bindet sie an die einzige Weltmacht und macht sie in deren Kriegen leicht zu Spießgesellen. Aber sie wollen nicht machtlose Vasallen in einem American Empire sein. In diesem Interessenkonflikt liegen zwei unterschiedliche Strategien miteinander im Streit. Die eine setzt vorrangig auf den Nutzen, den die Sicherung der kapitalistischen Weltordnung durch ein amerikanisches Imperium für die eigenen Interessen haben kann, und will mit eigenen militärischen Fähigkeiten ein Mitspracherecht und die Teilhabe an der Beute sichern. Die andere setzt mehr darauf, dass die Europäische Union ein größeres Gewicht in der Konkurrenz um weltpolitischen Einfluss erlangt und auf dieser Basis ihre geopolitischen Interessen auch in Entgegensetzung zu den amerikanischen verfolgen kann. Dazu hält man militärische Kräfte für erforderlich, die man unabhängig von den USA einsetzen kann.

Aber die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht die einzige Weltmacht und die Europäische Union ist nicht die einzige aufstrebende Großmacht mit weltpolitischen Ambitionen. Auch von einigen anderen Großmächten wird die derzeitige, weitgehend monopolare Weltordnung in Frage gestellt, und im Werden begriffen ist wohl schon eine oligopolare Weltordnung, also eine, die von mehreren Weltmächten getragen wird. Wir sollten daher, wenn wir die Kriegs- und Friedensfähigkeit der Weltgesellschaft in den Blick nehmen, ihn nicht auf die Vereinigten Staaten und die Europäische Union verengen. Auch andere große Mächte, regionale und solche, die die Potenz zu Weltmächten haben, werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten über Krieg und Frieden mitbestimmen.20 Eine oligopolare Welt- und Sicherheitsordnung kann ambivalente Wirkungen für den Frieden haben. Sie kann die Risiken vergrößern, vielleicht auch verringern, indem sie an die Stelle einer einzigen militärischen Hypermacht eine neue Kräftebalance setzt. Auf jeden Fall wird sie verhindern, dass die Welt ein Jahrhundert amerikanischer Kriege erwartet.

Dass auch andere Mächte künftig über Krieg und Frieden mitbestimmen, gilt vor allem für den ostpazifischen Raum. Bei Roland Benedikter, einem Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaftler vom Institut für Ideengeschichte und Demokratieforschung in Innsbruck, kann man dazu lesen: "Der Raum zwischen China, Japan und Taiwan entwickelt sich derzeit, auch wenn dies das ganz mit sich selbst beschäftigte Europa noch weitgehend unterschätzt, zu einer entscheidenden Schnittstelle der weiteren weltpolitischen, aber auch kulturellen und ideengeschichtlichen Entwicklung. Â… China, Russland, die beiden Koreas, Japan und auch Taiwan: Das ist der Raum, um den es geht, und aus dem in den kommenden Jahren ohne Zweifel grundlegende Entwicklungen kommen werden."21 An anderer Stelle klingt es bei ihm wie eine Warnung: "Japans schleichender Wiederaufstieg zur militärischen und politischen Regionalmacht erfolgt in der Dialektik gegen China."22 Ich halte das für zutreffende Aussagen über zukünftige Gewichtungen in der Machtverteilung auf der Weltbühne. Sie sprechen dafür, dass eine von einigen wenigen Weltmächten getragene Ordnung wesentliche Bedingungen setzen wird für das Zustandekommen von Krieg oder Frieden. Und diese werden, wenn ich mich nicht gründlich irre, denen des zurückliegenden Kalten Krieges nicht unähnlich sein.

Wie zur Zeit des Kalten Krieges gibt es aber in den Führungs- und Funktionseliten der Weltmächte auch weitsichtige und rational denkende Fraktionen. Derzeit haben in der westlichen Führungsmacht die "Falken" das Sagen. Wenn aber die kriegerische Außenpolitik im Desaster endet, können die "Tauben" wieder in Vorhand kommen und die Politik wird aufhören, in den Kategorien des Krieges zu denken. Dafür jedenfalls sehe ich im kapitalistischen Europa immer noch bessere Voraussetzungen gegeben als im militärisch übermächtigen Amerika. Im Bewusstsein der Völker Europas hat sich aufgrund schrecklicher Kriegserfahrungen zweifellos ein Wandel in der Haltung zum Krieg vollzogen. Hierin sehe ich die Basis, auf der Kriegsverhütung aufbauen kann, hier auf dem politischen Wirkungsfeld, das uns offen steht. Kriege der USA können wir von hier aus nicht verhindern, wir können nur dafür wirken, dass die europäischen Staaten sich ihnen verweigern.23

Ob die großen westlichen Demokratien gehindert werden können, in den Krieg zu ziehen, wird vor allem davon abhängen, ob es gelingt, in der Mehrheit der Bevölkerung Krieg als Mittel der Politik zu delegitimieren. Für nach wie vor gültig halte ich, was Rosa Luxemburg am Vorabend des Ersten Weltkrieges aussprach, nämlich, "dass Kriege nur dann und nur so lange geführt werden können, als die arbeitende Volksmasse sie entweder begeistert mitmacht, weil sie sie für eine gerechte und notwendige Sache hält, oder wenigstens duldend erträgt. Wenn dagegen die große Mehrheit des werktätigen Volkes zu der Überzeugung gelangt - und in ihr diese Überzeugung, dieses Bewusstsein zu wecken, ist gerade die Aufgabe, die wir Sozialdemokraten uns stellen - , wenn, sage ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, dass Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind Kriege unmöglich geworden".24

Für eine gerechte und notwendige Sache halten die Neocons in der Führungs- und Funktionselite der USA die amerikanischen Kriege. Dagegen muss die Position unmissverständlich lauten: Der Angriffskrieg ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit. Zum Krieg als Mittel der Politik zu greifen, dafür gibt es keinen gerechten Grund und keine moralische Legitimation. In dem Maße, wie dieses Urteil über den Krieg in den westlichen Demokratien zur herrschenden öffentlichen Meinung erhoben werden kann, entzieht es der Politik den Krieg als eines ihrer Instrumente. Dies zu erreichen ist schwierig, aber wir sollten es für möglich halten. Wir wissen aus Erfahrung, Entmilitarisierung der Politik beginnt immer mit der Entmilitarisierung des politischen Denkens, und Lernfähigkeit ist eine Bedingung für Friedensfähigkeit. Wenn wir erreichen, fest im gesellschaftlichen Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit die Abscheu vor Krieg zu verankern und Frieden als lebensnotwendigen Wert zu setzen, dann werden die westlichen Demokratien trotz ihrer militärischen Strategien und Potenzen nicht imstande sein, in den Krieg zu ziehen.

Die Friedensfähigkeit des Kapitalismus ist von Marxisten und Sozialdemokraten schon einmal anerkannt worden.25 Die auf der Grundlage seiner Interessenstrukturen gegebene Fähigkeit des Kapitalismus zum Frieden, die ja seine Fähigkeit zum Krieg nicht verneint, ist eine Voraussetzung für die reale Möglichkeit, Kriege bei bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen zu verhindern. Diese Möglichkeit dauerhaft zu verwirklichen macht es notwendig, wie schon damals erkannt, von konfrontativer militärischer Sicherheit abzugehen und ein System gemeinsamer Sicherheit aufzubauen.

Hierfür gilt es Prioritäten zu setzen, eingedenk der Erkenntnis, dass es verschiedene Formen des Friedens gibt. Wenn in der heutigen Weltgesellschaft infolge imperialistischer Politik der eigenen Regierungen neue, möglicherweise sogar zivilisationszerstörende Kriege drohen, dann erfordert das, zuerst jenen Frieden zu verteidigen, den wir jetzt haben, den Weltfrieden, aber auch einen solchen regionalen Frieden wie den der Europäischen Union. Man kann die Tatsache gar nicht hoch genug schätzen, dass mächtige Staaten, die im blutigen 20. Jahrhundert Erzfeinde waren und die furchtbarsten Kriege der bisherigen Geschichte gegeneinander geführt haben, nun endlich und endgültig Frieden miteinander geschlossen haben. Der Frieden in der Europäischen Union beruht nicht mehr auf gegenseitiger militärischer Abschreckung, sondern auf eigener Grundlage, nämlich auf gemeinsamen Interessen und auf der friedlichen Regelung divergierender Interessen. Dieser Frieden ist politisch, wirtschaftlich und rechtlich institutionalisiert und besitzt bereits Qualitäten eines positiven Friedens, obwohl die Staaten, zwischen denen er besteht, kapitalistische sind.

Der bestehende Weltfrieden, ein so schlechter und gewaltförmiger er auch sein mag, ist überlebenswichtig und daher von hohem Wert. Politisch notwendig und auch möglich sind dazu Koalitionen mit gesellschaftlichen Kräften, die weit entfernt davon sind, grundsätzlich Friedensanhänger zu sein. Dazu zähle ich auch Fraktionen der Herrschenden, die zwar nicht generell auf die Fähigkeit zum Krieg verzichten wollen, die aber Frieden bevorzugen und vor allem den Weltfrieden nicht brechen wollen, weil sie wissen, dass es aus einem neuen Weltkrieg keine Rückkehr zum Frieden gibt.

Soll der jetzt bestehende Weltfrieden, der im Wesentlichen ein bloß negativer Frieden und daher ständig gefährdet ist, zu einem sicheren, ungefährdeten werden, dann muss er zu einem positiven Frieden entwickelt werden. Es wäre allerdings blauäugig und wenig realistisch zu glauben, die Weltgesellschaft könne in einem einmaligen Akt vom negativen, gewaltbewehrten zum positiven, gewaltlosen Frieden gelangen. Der positive Frieden muss als Prozess verstanden werden, in dem es positiven Frieden unterschiedlichen Grades gibt.

Als nächstliegende Form positiven Friedens erscheint jene realistisch, die mit dem Namen globale gemeinsame Sicherheit benannt wird. In der heutigen Weltgesellschaft ist die einzig mögliche Alternative zum bloß negativen Frieden, zu militärischer Konfrontation und weiteren Kriegen ein grundlegender Wechsel zu einem ganz anderen Prinzip internationaler Sicherheit. Das andere, das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit, ist meines Erachtens die konstruktive Grundidee für eine zukunftsfähige globale Friedensordnung. Der Übergang zur globalen gemeinsamen Sicherheit böte die Grundlage dafür, dass militärische Macht sukzessive ihren Gebrauchswert verliert und die Politik die militärische Denkweise und Kriegsinstrumente mehr und mehr ablegen kann.

Als die Kraft, die einen Umschwung zur globalen gemeinsamen Sicherheit herbeiführen kann, sehe ich ein vielschichtiges Parallelogramm teils entgegengesetzter, teils gleichgerichteter Wirkungen von gesellschaftlichen Bewegungen und von realistischen Fraktionen der herrschenden Klasse, die aus Gründen weitsichtig kalkulierter Interessen, Wettrüsten, militärische Konfrontation und Kriege eindämmen und das Überlebensrisiko ausschalten wollen. Gesellschaftliche Bewegungen, die jede auf ihre Weise auf das strategische Ziel eines sicheren Friedens hinwirken, sind die Friedensbewegung, die Bewegung der Globalisierungskritiker - vor allem in Gestalt der Sozialforen -, die Menschenrechtsbewegung und die Arbeiterbewegung. Obgleich von interessierter Seite totgesagt, ist es vor allem die Arbeiterbewegung, die immer noch direkt und wirkungsvoll in das Getriebe der Kapitalreproduktion eingreifen kann. Im Widerstand gegen das in neuen Formen agierende Kapital und seine Wildheit ersteht auch sie in neuen Formen. Eine globale Renaissance der Arbeiterbewegung macht sich bemerkbar, die nicht einfach die Fortsetzung der alten europäischen Arbeiterbewegung des vergangenen Jahrhunderts ist.26

Das auf Frieden gerichtete und möglichst koordinierte Wirken all dieser und noch weiterer gesellschaftlicher Bewegungen bildet die Basis dafür, dass die bestehenden Differenzen in der herrschenden Klasse über die Bevorzugung einer kriegerischen oder nichtkriegerischen Globalstrategie sich vertiefen, die kriegerische Kapitalfraktion zurückgedrängt wird und die friedwilligere Kapitalfraktion in Vorhand gelangen kann. Wenn die Kräfte nicht ausreichen, in der herrschenden bürgerlichen Klasse die Differenzen zwischen "Falken" und "Tauben" so zu vertiefen und den Friedensgedanken so ins öffentliche Bewusstsein zu heben, dass die "Falken" die Meinungsführerschaft an die "Tauben" verlieren, dann kann es bei gegebenen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen keinen Fortschritt zu einem sicheren, zu einem positiven Frieden geben.

Wiederholen wir nicht, was sich in der sozialistischen Bewegung als Fehler erwiesen hat und worin auch Rosa Luxemburg irrte, als sie glaubte: "Nicht auf die Friedensinteressen irgendeiner Kapitalistenclique, sondern lediglich auf den Widerstand der aufgeklärten Volksmassen als Friedensfaktor geziemt es uns zu rechnen."27 Kriege jetzt verhindern und Frieden sicherer und besser machen - das verträgt keine politische Enge. Es erfordert die größtmögliche politische Koalition. Erforderlich in der heutigen kapitalistisch dominierten Weltgesellschaft ist eine neue Koalition der Vernunft und des Realismus für den Frieden.

Wolfgang Scheler - Jg. 1935, Prof. Dr. sc. phil., in der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik e. V. und in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. wissenschaftlich und publizistisch tätig; bis 1990 Offizier der NVA und Philosophieprofessor an der Militärakademie der DDR; Veröffentlichungen zu philosophischen Fragen von Krieg und Frieden; zuletzt in UTOPIE kreativ: Welt ohne Krieg? Vom Gewaltfrieden zum gerechten Frieden, Heft 167 (September 2004).

1 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, Wien 1995, S. 323.

2 Ebenda, S. 20.

3 Siehe Ernst Woit, Wolfgang Scheler (Hg.): Kriege zur Neuordnung der Welt. Imperialismus und Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges, Berlin 2004.

4 Diese Produktivkraftrevolution hat noch eine andere Daseinsweise, die Revolutionierung der Destruktivkräfte in Gestalt neuer Kriegsmittel und Kriegführungsfähigkeit - Revolution in Military Affair].

5 "Doch Marx und die anderen Propheten der Zerstörung aller alten Werte und sozialen Beziehungen hatten recht. Der Kapitalismus war die Kraft der permanenten, ununterbrochenen Revolution." Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, a. a. O., S. 32.

6 Siehe Frank Deppe u. a.: Der neue Imperialismus, Heilbronn 2004.

7 Siehe Horst Heininger: Zur Geschichte der Imperialismustheorie, Krieg, neue Weltordnung und sozialistische Programmatik. 100 Jahre John A. Hobson: Der Imperialismus, Marxistisches Forum, Heft 40/41.

8 Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin 1975, S. 432.

9 Rosa Luxemburg: Imperialismus. Rede am 19. Mai 1914 in einer Versammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins Charlottenburg, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973, S. 451.

10 Siehe Hans Werner Deim: Kriegstheoriekrise, verstärkte Kriegspraxis und Blitzkriegsstrategien der USA für das 21. Jahrhundert, in: Ernst Woit, Wolfgang Scheler (Hg.): Kriege zur Neuordnung der Welt. Imperialismus und Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges, a. a. O., S. 123 f.

11 Siehe Hermann Hagena: Kriege im 21. Jahrhundert - an der Schwelle zum "Space War"?, in: Ebenda, S. 155 ff.

12 Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, a. a. O., S. 397.

13 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 47.

14 Siehe Rainer Rilling: Über starke Ökonomie und starke Politik, in: UTOPIE kreativ, Heft 169 (November 2004).

15 Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 26.

16 Ebenda, S. 43.

17 Zitiert in: Markus Günther: "Peacekeeping" ist etwas für Europäer. Die außenpolitischen Vorstellungen der beiden Präsidentschaftskandidaten gehen vor allem bei Friedenseinsätzen der Armee auseinander, in: Sächsische Zeitung vom 27. Oktober 2000, S. 5.

18 Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Friedenspolitischer Ratschlag, http://www.usinfo.state.gov/

19 "Krieg ist der Feind Europas. Amerika kann auf Kriegsgewinn setzen, Europa muss die Rolle des Militärischen verringern wollen." Egon Bahr: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003, S. 131.

20 Auf dem Ostasiengipfel 2005 haben die wirtschaftlich und politisch wichtigsten Länder, China, Indien und Japan sowie Australien und weitere 12 Staaten der Region die Bildung einer "Ostasiatischen Gemeinschaft " in Angriff genommen, nach Einwohnerzahl sechsmal größer als die EU.

21 Roland Benedikter: Drache gegen Sonne. China, Japan und der pazifische Raum, in: Berliner Debatte Initial, Heft 4, 2005, S. 91. "Warum rüstet Japan wirklich auf? Seine Aufrüstung und Handlungserweiterung erfolgt im Schatten des Kampfes gegen das Böse von George Bush. Doch letztlich erfolgt sie gegen China, das in absehbarer Zukunft die gesamte Region, einschließlich Japans, in seinen Gravitationsbereich ziehen wird." Ebenda, S. 90.

22 Ebenda.

23 "Es gibt europäische "Traditionen, die dadurch begründet sind, dass sich tief ins kollektive Bewusstsein der europäischen Völker die Erfahrung von Krieg eingegraben hat. Mit Krieg als Mittel der Politik geht man inzwischen Gott sei dank sehr, sehr zurückhaltend um, ja, man begreift Krieg wirklich als Ultima Ratio. Völker, die Krieg im eigenen Land so nie kennen gelernt haben, haben einen anderen Zugang zum und einen anderen Begriff vom Krieg." Gerhard Schröder: Die Krise, die Europa eint, in: DIE ZEIT vom 27. März 2003, S. 14.

24 Rosa Luxemburg: Verteidigungsrede am 20. Februar 1914 vor der Frankfurter Strafkammer, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 400.

25 "Das im Osten vertretene Konzept der Friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und das im Westen, vor allem von Sozialdemokraten entworfene Konzept einer Gemeinsamen Sicherheit setzen, soweit sie ernst gemeint und konsequent sind, beide die prinzipielle Friedensfähigkeit der anderen Seite voraus", bekräftigte ein wichtiges Dokument. Und um unmissverständlich zu sein, heißt es weiter: "Beide Konzepte wären theoretisch sinnlos und auf die Dauer auch nicht praktikabel, wenn sie die Annahme der prinzipiellen Unfriedlichkeit der anderen Seite aufgrund von deren Ideologien oder Interessenstrukturen einschlössen." Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED/ Grundwertekommission der SPD: Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, in: Neues Deutschland, vom 28. August 1987 und in: Politik. Informationsdienst der SPD, Nr. 3 vom 3. August 1987.

26 Siehe Frank Deppe: Die globale Renaissance, in: Neues Deutschland (Berlin) vom 5./6. November 2005, S. 19.

27 Rosa Luxemburg: Um Marokko, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973, S. 10.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 188 (Juni 2006), S. 492-503

aus dem Inhalt:

 

VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: 1956 oder: Die Reformfähigkeit des Stalinismus; Krieg & Frieden WOLFGANG SCHELER: Kriegsfähigkeit und Friedensfähigkeit der Weltgesellschaft nach der Zeitenwende, Gesellschaft - Analyse & Alternativen JÜRGEN LEIBIGER: Demografische Wende und Finanzierung des Wohlfahrtsstaats; ILJA SEIFERT: Behindertenpolitik: Großes Ziel und kleine Schritte, Debatte Grundsicherung NINO DAVID JORDAN: Schlaraffenland oder Hungersnot? Wider die gefällige Kontrastierung; KARL REITTER: Grundeinkommen statt Schlaraffenland. Eine Antwort auf Ulrich Busch, Standorte BERND HÜTTNER: Anerkennung, Umverteilung, Gerechtigkeit. Probleme einer postfordistischen Linken; Wieder gelesen WILLI BEITZ: Michail Scholochow - eine terra incognita?; Konferenzen & Veranstaltungen LUTZ BRANGSCH: Armut und die Diskussionen zu einem Sozialstaat in Russland; Juri Hälker: MdBs auf die Straße. Bericht über "100 Tage Schwarz-Rot"; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik (ARNDT HOPFMANN); Holger Schatz: Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion (SANDRA MARTENS); Marvin Chlada: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault (ANDREAS HEYER); Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus (HEIKO FELDMANN); Wolfgang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins "Kapital" (ULRICH BUSCH); Sike Satjukow, Rainer Gries (Hrsg): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus (HELMUT METZLER); Summaries