Rassismus, Kultur und Rationalität

Drei Rassismustheorien in der kritischen Praxis

Keywords: racism, theory of racism, Immanuel Kant, anti-muslim racism, islamophobia

Schlagwörter: Rassismus, Rassismustheorie, Immanuel Kant, antimuslimischer Rassismus, Islamophobie

In Diskussionen über Rassismus[1] besteht nur in zwei Punkten weitgehende Einigkeit. Erstens stimmen die allermeisten darin überein, dass Rassismus, was auch immer das sein mag, schlecht oder gar böse ist. Zweitens sind sich fast alle sicher, dass sie selbst keine Rassistinnen[2] sind, ihr je eigenes Handeln ganz sicher nicht rassistisch ist – denn Rassismus ist böse und sie selbst haben nur die besten Intentionen.[3] In der Frage aber, was dieses Schlechte, mit dem man selbst ganz sicher nichts zu tun hat, eigentlich ist, woran man es erkennt und was dagegen zu tun wäre, gehen die Antworten weit auseinander. Diskutiert man beispielsweise darüber, ob Kants rassentheoretische Schriften den Aufklärungsphilosophen zu einem Rassisten machen, oder darüber, welches Sprechen über Islam und Musliminnen als rassistisch zu bezeichnen ist, bestehen die Diskussionen zu einem erheblichen Teil aus wechselseitigen Belehrungen darüber, was Rassismus eigentlich ist und warum der Rassismusbegriff der jeweils anderen mindestens falsch, wenn nicht selbst rassistisch ist. Im Folgenden vertrete ich die These, dass die Gründe für diese definitorische Uneinigkeit in einem Zerfall des Gegenstands selbst liegen und sie daher kaum aus der Welt zu schaffen sind.

Obwohl an Rassismusbegriffen wahrlich kein Mangel besteht, schlage ich einen weiteren, kommunikationstheoretisch formulierten Rassismusbegriff vor, um den zerfallenen und transformierten Rassismus zu erfassen. Meine Argumentation für die Einführung eines solchen Begriffs ist in fünf Schritte gegliedert. Zunächst lege ich meine These dar, dass die Vielzahl der existierenden Rassismusbegriffe auf einen geschichtlichen Zerfalls- und Transformationsprozess rassistischer Herrschaft zurückzuführen ist (1), und erläutere anschließend die beiden Beispiele, die ich zur Illustration der theoretischen Überlegungen nutze: Kants Rassenlehre im Kontext seiner Philosophie sowie die Debatten um antimuslimischen Rassismus (2). Daraufhin skizziere ich zwei verschiedene Verständnisse von Rassismus: das ideologiekritische Verständnis von Rassismus als falsches Bewusstsein (3) sowie das machtkritische Verständnis von Rassismus als soziales Dominanzverhältnis oder Diskurs (4). Dabei arbeite ich heraus, dass Rassismuskritik weder auf einen emphatischen Vernunftbegriff noch auf eine Kritik sozialer Machtdifferenziale und Diskursdynamiken verzichten kann, die beiden genannten Rassismusbegriffe jedoch jeweils nur eines von beidem bieten. Um beides zu vereinen plädiere ich im letzten Abschnitt dafür, Rassismus als systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis zu verstehen, weil man damit die Stärken der beiden zuvor diskutierten Rassismuskonzepte vereinen kann (5).

1.      Der Zerfall des Kolonialrassismus

Eine wichtige Ursache für die Uneinigkeit in Bezug auf die Definition von Rassismus ist darin zu suchen, dass sich der Gegenstand im Laufe der letzten 100 Jahre in verschiedene Bestandteile aufgelöst hat, so dass unklar ist, an welches Element der Begriff Rassismus sich haften, was genau er bezeichnen soll. Trotz aller sonstigen Unterschiede gehen fast alle Rassismustheorien davon aus, dass der Begriff des Rassismus sich primär auf eine rassentheoretisch legitimierte Form von Herrschaft bezieht, die zunächst im europäischen Kolonialismus und dann im Nationalsozialismus ihre Höhepunkte erreichte. Im Kolonialrassismus traten diverse Merkmale[4] zusammen, die in ihrem gemeinsamen Auftreten von fast allen Rassismustheorien als rassistisch begriffen werden.

  • Die rassifizierten Gruppen waren Objekt einer extremen Form von Ausbeutung und Herrschaft, die mit einer weitgehenden Entrechtung einherging.
  • Zwischen Europäerinnen und rassifizierten Anderen wurde eine kategorische, grundlegende und wesenhafte Differenz konstruiert.
  • Die rassifizierten Gruppen wurden entweder als minderwertige Menschen betrachtet oder ganz aus der Menschheit ausgeschlossen.
  • Den rassifizierten Anderen wurden Naturnähe, Faulheit, Irrationalität, Triebhaftigkeit sowie die Unfähigkeit zu selbstbestimmtem Leben zugeschrieben.
  • Diese Zuschreibungen wurden biologistisch begründet.
  • In diesem Biologismus wurden die verschiedenen Gruppen als Menschenrassen konstruiert.

Während diese Elemente sowohl im kolonialen als auch im nationalsozialistischen Rassismus gemeinsam auftraten, existieren spätestens seit dem Ende des Apartheid-Regimes keine größeren politischen Formationen mehr, die ein derartig umfassend rassistisches Programm in allen genannten Elementen explizit vertreten und in politische Herrschaft umsetzen. Das heißt jedoch nicht, dass die einzelnen Elemente des kolonialen Rassismus aufgehört hätten zu existieren. Vielmehr sind sie auseinandergetreten und haben sich transformiert.

Die massivsten Formen von Unterdrückung, Ausbeutung und Entrechtung erfahren heute subalterne Bevölkerungsgruppen im Sinne Gayatri Spivaks (1990: 10, 70; 2010; 2012: 429-442). Zu diesen zählen in Europa am ehesten Migrantinnen ohne Aufenthaltsstatus, außerhalb Europas sind es in den Städten Wanderarbeiterinnen und in den ländlichen Regionen tribale Gemeinschaften, wobei in jeder dieser Gruppen insbesondere Frauen extremer Unterdrückung ausgesetzt sind. Bei der Subalternisierung der Subalternen spielen Rassifizierungsprozesse eine wichtige Rolle und nicht zufällig handelt es sich fast durchweg um die Nachfahrinnen von Gruppen, die schon in der Kolonialzeit rassifiziert wurden. Jedoch geschieht Subalternisierung heute gerade nicht im Sinne eines „chromatism“ (Spivak 1999: 291), bei dem eine sich primär an der „Hautfarbe“ orientierende biologistische Differenzkonstruktion über den Status der Personen entscheiden würde. Ein viel wichtigeres Kriterium ist beispielsweise die Staatsbürgerschaft – wer etwa einen EU- oder US-Pass besitzt, ist nicht vor Diskriminierung, Marginalisierung und Armut, wohl aber vor Subalternität geschützt.

Das Regime internationaler Arbeitsteilung, in das diese Formen von Ausbeutung und Herrschaft eingebunden sind, kann man mit Spivak als „displacement“ (1999: 274) der Kolonialherrschaft verstehen, weshalb sich in der post- und dekolonialen Theorie verschiedene Weisen etabliert haben, die gegenwärtige Weltordnung als post-, neo- oder schlicht kolonial zu verstehen. So spricht Walter Mignolo (2011) von Kolonialität als Weltordnungsprinzip und Achille Mbembe (2014: 325, Hervorhebungen im Original) warnt vor der Aussicht auf ein „Schwarzwerden der Welt“ in dem Sinne, dass unter Bedingungen eines sich zuspitzenden autoritären Neoliberalismus bald alle Subjekte von der den Kolonialrassismus auszeichnenden „Möglichkeit einer hemmungslosen Gewalt und einer grenzenlosen Ungewissheit“ betroffen sein könnten. Für die Form und Legitimierung dieser globalen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse spielen explizit rassebiologische Zuschreibungen jedoch keine zentrale Rolle mehr. So betont Mbembe, dass Herrschaft heute nicht mehr auf das biologistische „Instrument der Rasse angewiesen“ sei. In diesem Sinne gehen auch diese Ansätze von einer Transformation und einem Auseinandertreten der Elemente des kolonialen Rassismus aus.

Blickt man nicht auf die Ebene der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, sondern auf die Ebene der Differenzkonstruktionen selbst, sind ebenfalls Transformationen festzustellen. Differenzkonstruktionen, die durch die Zuschreibung von Eigenschaften an bestimmte soziale Gruppen zu deren Marginalisierung und Diskriminierung beitragen, bestehen fort und werden teilweise auch weiterhin biologistisch formuliert – dies gilt insbesondere in Bezug auf Geschlecht, aber auch in Bezug auf das, was nunmehr zumeist nicht als „Rasse“, sondern als „ethnische Gruppe“, bezeichnet wird (AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften 2009; Plümecke 2013). Insbesondere die Niederlage des Nationalsozialismus und die allgemeine Verurteilung der massenmörderischen nationalsozialistischen Rassenpolitik haben jedoch zu einer weitgehenden Delegitimierung der Rassentheorien im Sinne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beigetragen (Kerner 2009: 105-113). Die in diesen Theorien verbreitete Konzeptualisierung von Menschenrassen gilt heute nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in der Biologie, die zuvor entscheidenden Beitrag zur Etablierung des Rassendenkens geleistet hatte, weithin als unhaltbar. Mit der Schwächung des biologistischen Rassismus ging jedoch eine Stärkung kulturalistischer Differenzkonstruktionen einher, in der kulturelle, nicht biologische Faktoren als Grundlage von politisch relevanten Differenzen angegeben werden – was paradoxerweise nichts daran ändert, dass die Zuschreibung kultureller Merkmale an bestimmte Personen, sich oft an körperliche Merkmale haftet, die „Biologie“ also nicht verschwindet.[5]

Das Auseinandertreten und die Transformationen der Elemente, die den Kolonialrassismus ausmachten, lassen die Umstrittenheit des Begriffs nachvollziehbar werden. Jeder Begriff von Rassismus setzt sich entweder dem Vorwurf aus, zu eng zu sein, weil er die transformierten Erscheinungsformen von Rassismus nicht mehr als Rassismus erfassen kann, oder aber dem Vorwurf, zu weit zu sein, weil er Phänomene als Rassismus bezeichnet, die sich vom begriffsprägenden Kolonialrassismus stark unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist es einerseits nachvollziehbar, dass einige Autorinnen infrage stellen, ob der Rassismusbegriff für die Analyse der häufig damit bezeichneten Gegenwartsphänomene überhaupt noch angemessen ist (Claussen 1994: 1, 8-10); es ist aber auch nachvollziehbar, dass andere Autorinnen (denen ich mich anschließe) nicht auf diesen Begriff verzichten wollen, um die transformierten Formen des Alten zu kritisieren.[6] Wenn man wie ich im Folgenden den Argumenten der letzteren Gruppe folgend von einer fortgesetzten Relevanz des Rassismusbegriffs ausgeht, muss man einen erweiterten Rassismusbegriff vertreten, dem zufolge der explizit biologistische Rassenrassismus nur eine besondere Ausprägung eines allgemeineren Phänomens ist, das auch ohne Biologismus wirksam sein kann. Vertritt man ein solches erweitertes Begriffsverständnis, stellt sich die Frage, an welche der auseinandergetretenen Elemente sich der Begriff haften soll, welche von ihnen in welcher Weise zusammenkommen müssen, damit man sinnvoll von Rassismus sprechen kann.

2.      Fallbeispiele: kantischer und antimuslimischer Rassismus

Der beste Weg, um die Stärken und Schwächen der verschiedenen Rassismusbegriffe aufzuzeigen, besteht darin, sie in der kritischen Praxis, also in der Anwendung auf spezifische Gegenstände, zu vergleichen. Dies tue ich anhand von zwei Themen, die innerhalb von Debatten um Rassismus kontrovers diskutiert werden.

Das erste Thema ist der Stellenwert, der Immanuel Kants Beiträgen zur Rassentheorie bei der Bewertung seines Gesamtwerks eingeräumt werden sollte. Diese Frage ist besonders relevant, weil sie das Verhältnis von aufklärerischem Denken einerseits und Rassismus andererseits betrifft. Kants theoretische und praktische Philosophie ist bis heute prägend für den philosophischen Diskurs der (nicht nur) westlichen Moderne. In der politischen Philosophie prägen von Kant stark beeinflusste Autorinnen die Debatte – zum Beispiel John Rawls und Jürgen Habermas. Dabei gilt insbesondere Kants praktische Philosophie, wie sie im kategorischen Imperativ sowie seiner Friedensschrift zugespitzt ist, als Inbegriff eines Denkens, das ein kosmopolitisches und gerechtes Zusammenleben aller Menschen in Würde, Gleichheit und Differenz ermöglichen soll (s. z.B. Habermas 1999: 45-50, 192-236; Benhabib 2008: 36-55).

Auf der anderen Seite hat Kant in mehreren Vorträgen und Texten explizit rassentheoretische Überlegungen formuliert. In diesen unterteilt er die Menschheit in vier „Racen“, die zwar alle auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgingen, sich aber so auseinanderentwickelt hätten, dass sie sich sowohl in Bezug auf körperliche als auch in Bezug auf geistig-charakterliche Merkmale voneinander unterscheiden ließen. Dabei schreibt Kant allen nichtweißen und insbesondere der schwarzen „Race“ weniger Rationalität und einen geringeren Entwicklungsgrad zu. Mit dieser Rassentheorie war Kant nicht bloß den „Vorurteilen seiner Zeit“ verfangen. Vielmehr übernahm er eine Vorreiterrolle bei der Etablierung des Rassendenkens in deutschen Universitäten und trug mit seinen Texten entscheidend dazu bei, dass das Rassenkonzept aus der Zoologie in die Anthropologie übertragen wurde. Somit stellt sich die Frage, wie das Verhältnis dieser beiden Seiten in Kants Werk verstanden werden soll: Sollen die beiden Seiten schlicht voneinander getrennt werden, so dass der „gute Kant“ der drei Kritiken erhalten bleibt, während der „schlechte Kant“ der Rassentheorie verdientermaßen vergessen wird? Oder sollen beide Seiten als rassistische Einheit gedacht und schlicht entsorgt werden? Oder – und zu diesem Schluss komme ich – sollten beide als historische Einheit betrachtet werden, von der man frei von jeder Apologie oder Entsorgung im Positiven wie im Negativen lernen muss?[7]

Als zweites Beispiel wähle ich Debatten um die Frage, ob in Bezug auf gegenwärtige Islamdebatten von einem antimuslimischen Rassismus zu sprechen ist. Dieser Gegenstand bietet sich nicht nur deshalb an, weil er zumindest im deutschen Kontext zu den derzeit am hitzigsten diskutierten Fragen im Bereich der Rassismuskritik zählt, sondern auch deshalb, weil dabei die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis von Rassismus und Kultur in den Blick rückt. In Bezug auf antimuslimischen Rassismus fokussiere ich zwei Fragen: zum einen die Frage, ob gegenwärtige Ressentiments und Marginalisierungsprozesse gegenüber Musliminnen als Rassismus zu bezeichnen sind, zum anderen die Frage, ob und wie eine Grenze zwischen einem solchen antimuslimischen Rassismus einerseits und einer in demokratischen Öffentlichkeiten legitimen Kritik andererseits gezogen werden kann.

3.      Ideologiekritik: Rassismus als Bewusstseinsphänomen

Der erste[8] der drei hier diskutierten Rassismusbegriffe wird im Kontext marxistischer und psychoanalytischer Ansätze formuliert und richtet den Fokus auf die ideologische und psychologische Funktion, die Rassismus für die moderne Gesellschaft und ihre Subjekte erfüllt. Im Kern wird Rassismus dabei als eine Weise verstanden, in der die Subjekte die Widersprüche und Anforderungen der Gesellschaft verarbeiten, indem sie bestimmte Eigenschaften auf Andere projizieren.[9]

Weil das moderne Subjekt sein gesellschaftliches Überleben nur sichern könne, wenn es sich instrumentell-rational den Anforderungen des Erwerbslebens füge, müsse es die eigenen Triebregungen stark zügeln. Diese Zumutung könne durch einen Akt pathischer Projektion (Horkheimer & Adorno 1997 [1944]: 211-225) bewältigt werden, in dem diejenigen Triebregungen, die sich das vergesellschaftete Subjekt selbst verbieten muss, auf andere projiziert und an diesen bestraft werden. Indem es bestimmte Menschengruppen als von Natur aus faul und minderwertig imaginiere, verarbeite das Subjekt zugleich die realen ökonomischen Differenzen der Klassengesellschaft sowie die mit ihnen einhergehenden Ängste vor sozialem Abstieg und ökonomischer Überflüssigkeit. Als „Alltagsreligion“[10] gewähre der Rassismus dabei „Prämien auf ein soziologisches Wunder“, sie „gibt dem isoliert agierenden Gesellschaftsmitglied das Gefühl, Mitglied einer Elite und der Mehrheit zugleich zu sein“ (Claussen 1994: 19). Weil rassistische Bewusstseinsformen eine Abfuhr der Zumutungen moderner Vergesellschaftung ermöglichen, konstituieren sie nicht nur ein Herrschaftsverhältnis über die rassifizierten Anderen, sondern stabilisieren zugleich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt.

Diese theoretische Konzeption erlaubt verschiedene terminologische Ausgestaltungen, so dass auf derselben theoretischen Grundlage einander widersprechende Rassismusdefinitionen formuliert werden. Claussen (1994: 1, 22) formuliert einen engen Rassismusbegriff und hält dessen Verwendung nur für angemessen, wenn ein biologistisches Denken vorliegt, das in Kategorien von „Rasse“ arbeitet. Jedoch erlaubt ein Verständnis von Rassismus als pathische Projektion und falsches Bewusstsein auch eine breitere Definition des Begriffs (Grigat 2007: 306-316). Wenn einer gesellschaftlichen Gruppe in kulturalistischer Weise Wesenseigenschaften zugeschrieben werden, die den biologistischen Zuschreibungen des klassischen Rassismus entsprechen, ist zu erwarten, dass diese Zuschreibungen auch sehr ähnliche ideologische und psychologische Funktionen erfüllen. Daher macht es ideologiekritisch Sinn, auch in solchen Fällen von einer (kultur-)rassistischen Projektion zu sprechen.

Blickt man aus dieser Perspektive auf Kants Werk, liegt es nahe, einen Zusammenhang zwischen seiner praktischen Philosophie und seiner Rassenlehre herzustellen. Kants liberale Philosophie kann dann als Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft gelesen werden: Sie legitimiert Privateigentum und konstruiert somit individuelle, selbstbestimmte Subjekte als warenbesitzende Individuen. Wenn diese praktische Philosophie realisiert wird, entsteht eine kapitalistische Gesellschaftsordnung mit von Kant nicht vorhergesehenen ökonomischen Dynamiken von Herrschaft, Ausbeutung und Krise. Diese Dynamiken führen letztlich nicht nur zu einem Widerspruch zu der von Kant befürworteten Selbstbestimmung in Würde und Gleichheit, sondern auch zu Anforderungen an die Subjekte, die diese mitunter rassistisch verarbeiten. Die rassistische Verarbeitung sozialer Widersprüche führt wiederum regelmäßig zu Handlungen, die der kantischen Ethik widersprechen. Demnach würde eine Realisierung des kantischen Denkens in letzter Konsequenz immer seine De-Realisierung bedeuten – eben dies macht es zu einer Ideologie (Jaeggi 2009: 67-71). Der in der Konstruktion minderwertiger Menschengruppen oder -rassen beschlossene „Widerspruch zum Menschenrecht“ (Bruhn 1994: 80) ist demnach im Menschenrecht selbst angelegt (Schmitt-Egner 1976: 390), die Irrationalität der rassistischen Projektion ist im verkürzten, der inneren und äußeren Natur gegenüber verhärteten Rationalitätsverständnis vorgezeichnet (Horkheimer & Adorno 1997 [1944]: 211-225). Die Konstruktion von unterschiedlich rationalen Menschenrassen, zu der Kant entscheidend beigetragen hat, wäre demnach nicht bloß ein historischer Betriebsunfall, bei dem einem humanistischen Philosophen etwas nicht Humanistisches passiert ist, sondern das systematische Produkt eines ideologisch verkürzten Verständnisses von Rationalität – ein Produkt, das nicht zufällig die für diese Rationalität typischen Formen der Klassifizierung und Kategorisierung annimmt.

Jedoch beziehen sich diese marxistischen und psychoanalytischen Ansätze emphatisch auf Vernunft und Aufklärung: „Den Rassismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung sich zweideutig verhält.“ (Claussen 1994: 17) Ein solcher emphatischer Vernunftbezug liegt in dreifachem Sinne vor. Erstens wird Rassismus als ein Mangel an Rationalität verstanden, oder genauer als eine „systematically distorted rationality“ (Appiah 1992: 15), bei der die Anwendung von Vernunftkriterien selektiv ausgesetzt bleibt. Zweitens impliziert dieser Mangel an Vernunft eine Forderung an die rassistischen Subjekte: Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen keine Entschuldigung für die pathischen Projektionen und die darauf aufbauenden diskriminierenden Handlungsweisen dar. Rassismuskritik besteht demnach unter anderem darin, Subjekte für ihre Irrationalität zu kritisieren und ein rationaleres, nicht rassistisches Verhältnis zu ihrer Umwelt einzufordern. Drittens schließlich impliziert eine solche Ideologiekritik die Forderung nach einer vernünftigen Gesellschaft, die die Subjekte nicht mit Anforderungen konfrontiert, welche massenhaft in Form rassistischer Projektionen verarbeitet werden. Sowohl mit der an die Individuen gerichteten Forderung nach einem vernünftigeren Weltbezug als auch mit der Forderung nach einer vernünftigen Gesellschaft, kann eine als Ideologiekritik verstandene Rassismuskritik an den kantischen Vernunftbegriff anknüpfen. Jedoch muss sie diesen in einer Weise gesellschaftstheoretisch reflektieren und reformulieren, die dazu führt, dass er sich in seiner Realisierung nicht derealisiert, also nicht mehr ideologisch ist.

Blickt man auf gegenwärtige Islamdebatten, spricht aus der Perspektive eines ideologiekritischen Rassismusbegriffs nichts dagegen, auch Ressentiments gegen eine kulturell oder religiös definierte Gruppe als Rassismus zu erfassen.[11] Um zu zeigen, dass antimuslimischer Rassismus vorliegt, müsste dann erstens dargelegt werden, dass es sich bei den jeweiligen Darstellungen von Islam und Musliminnen um pathische Projektionen handelt. Dies ist nur durch einen Abgleich der Darstellungen mit der Realität zu erreichen. In diesem Abgleich ist zu zeigen, dass es sich um systematische Verzerrungen handelt, die islamische Wirklichkeiten in einer durch bloßen Irrtum nicht zu erklärenden Weise grob missrepräsentieren. Weiterhin ist zu zeigen, dass diese Verzerrtheit dem Gehalt nach den biologistischen Zuschreibungen des klassischen Rassismus so weit ähnelt, dass man von einer ähnlichen projektiven Grundlage oder Funktion ausgehen kann. Im Bereich empirischer Forschung kommt einem solchen Programm heute die Vorurteilsforschung der Leipziger Mitte-Studien am nächsten. Auch im Rahmen des Bielefelder Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird „Islamophobie“ – mit deutlich schlankerem sozialpsychologischen Gepäck – als Vorurteil im Sinne ablehnender, homogenisierender und verzerrender Einstellungen gegenüber Islam und Musliminnen gefasst, mit denen unter anderem die Ängste einer von sozialem Abstieg bedrohten Mittelschicht verarbeitet würden.[12]

Die Vorteile eines solchen ideologiekritischen Rassismusbegriffs bestehen darin, dass er nicht verdinglicht auf der Ebene der äußeren Form der Differenzkonstruktion als „Rasse“ verbleiben muss und daher in der Lage ist, auch einen transformierten Rassismus noch als Rassismus zu erfassen. Dabei basiert diese Theorie auf einer differenzierten Vernunftkritik, die bestimmte aufklärerische Verständnisse von Vernunft als ideologisch verkürzt und in ihrer Konsequenz herrschaftlich ausweisen kann. In der Thematisierung von antimuslimischem Rassismus kann die Ideologiekritik Kriterien benennen, um rationale Religionskritik von rassistischer Projektion zu unterscheiden.

Jedoch bringt der Fokus auf die individuellen Bewusstseinsprozesse der vergesellschafteten Subjekte auch Nachteile mit sich. In Bezug auf Kants Rassentheorie bleibt unterbelichtet, wie Kants Schriften entscheidend an einem Diskurs mitwirkten, der gepaart mit kolonialer Macht weite Teile der Menschheit als Nicht-Subjekte oder Subjekte zweiter Klasse setzte. Noch deutlicher wird das Problem in Bezug auf antimuslimischen Rassismus. Betrachtet Rassismuskritik das Sprechen über soziale und kulturelle Gruppen in erster Linie als Ausdruck eines falschen (oder richtigen) Bewusstseins, werden die bei der Produktion von Wahrheiten über soziale Gruppen wirksamen diskursiven Dynamiken und Machtrelationen ausgeblendet, so dass sowohl das Rassismusverständnis als auch das Sprachverständnis verkürzt bleiben. Wenn nämlich eine bestimmte soziale Gruppe in überproportionalem Maße Gegenstand öffentlicher Debatten ist, werden über sie mehr Wahrheiten gesucht und gefunden als über andere, seltener thematisierte oder weitgehend unmarkierte Gruppen. Selbst dann, wenn alle dabei zirkulierenden Darstellungen sachlich korrekt und differenziert wären, könnte ein solches diskursives Ungleichgewicht zu Marginalisierungen und Diskriminierungen beitragen. Selbst wenn alle in den öffentlichen „Islamdebatten“ der letzten Jahre getroffenen Äußerungen inhaltlich korrekt gewesen wären, würde es die „Islamisierung der Debatten“ (Tiesler 2006: 124) wahrscheinlich machen, dass Musliminnen anders angesprochen und behandelt, diskriminiert und marginalisiert werden.[13]

4.      Machtkritik: Rassismus als Diskursphänomen und soziales Verhältnis

In eben den Punkten, in denen sich die Schwächen des ideologiekritischen Rassismusbegriffs zeigen, liegen die Stärken des zweiten, macht- und diskurstheoretischen Begriffs. Hier wird Rassismus nicht als ein Bewusstseinsphänomen, sondern als ein soziales Dominanzverhältnis verstanden, in dem entlang einer diskursiv produzierten Differenzlinie soziale Ressourcen ungleich verteilt werden. Dabei gilt die Differenz zwischen den privilegierten und marginalisierten Gruppen nicht als dem Diskurs vorgängiges Phänomen, sondern als eines, das erst im Diskurs selbst produziert wird. Bevor es einen Diskurs gab, der einen Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen (und anderen) konstruierte, existierten beide nicht als unterscheidbare soziale Gruppen. Dieser als Rassifizierung bezeichnete Prozess der Differenzkonstruktion gilt dann selbst als ein entscheidendes Element des Rassismus. Dieses auf anglo- und frankophoner Literatur[14] basierende Verständnis von Rassismus setzt sich seit den späten 1990er Jahren im deutschsprachigen Diskurs zunehmend durch. Wenngleich die genaue Terminologie variiert, ähneln sich die Konzepte stark.[15]

Geht es darum zu klären, ob bestimmte Aussagen oder Darstellungen als rassistisch zu bezeichnen sind, stellt sich aus dieser Perspektive eine andere Frage als in der Ideologiekritik. Es geht nunmehr weniger darum, ob es sich bei den Darstellungen um die Produkte eines richtigen oder falschen Bewusstseins handelt, die die Realität der Anderen sachlich korrekt oder verzerrt abbilden, sondern vielmehr darum, ob sich die Darstellungen in einen Diskurs einschreiben, der zu einer Differenzkonstruktion mit marginalisierenden Effekten beiträgt. Im Vordergrund steht also nicht der propositionale Wahrheitsgehalt, sondern der soziale und diskursive Effekt der jeweiligen Aussagen. Als Merkmale rassifizierender Darstellungen mit marginalisierendem Effekt gelten dabei Homogenisierung, Essenzialisierung, Polarisierung, Naturalisierung und Hierarchisierung – ganz gleich, ob sich die Differenzkonstruktionen kulturalisierend oder biologisierend formuliert sind (Rommelspacher 2009: 29).

Damit eröffnet dieses Rassismusverständnis den Blick auf Fragen und Gegenstände, die in einem auf das Bewusstsein der rassistischen Subjekte fokussierten ideologiekritischen Rassismusverständnis als marginal erscheinen. Dies ist zunächst das Problem des strukturellen und insbesondere institutionellen Rassismus. Dabei geht es darum, wie bestimmte sozial etablierte Strukturen und Praktiken in (nicht nur staatlichen) Institutionen ganz unabhängig von Bewusstsein und Intention der darin handelnden Akteurinnen zur Reproduktion rassistischer Dominanzverhältnisse beitragen – im Fokus stehen insbesondere Bildungseinrichtungen und Polizei.[16]

Darüber hinaus legt es die machtkritische Perspektive nahe, den Blick weg von den rassistischen Subjekten hin zu den rassifizierten Subjekten und ihrer Subjektivierung unter rassistischen Bedingungen zu wenden. Damit rücken die Rassismuserfahrungen der Rassifizierten und ihre Konsequenzen in den Mittelpunkt. Dies erlaubt es unter anderem, alltägliche Manifestationen von Rassismus zu erkennen, die einem sozialpsychologischen Fokus auf die rassistischen Subjekte verborgen bleiben. Selbiges gilt auch für die widerständigen Praktiken der Rassifizierten. Damit liegt es auch nahe, bei der Suche nach Gegenstrategien nicht in erster Linie auf Bildungsmaßnahmen für rassistische Subjekte zu setzen, sondern auf eine Ermächtigung der rassifizierten.[17]

Während Ideologiekritik Rassismus als einen Verstoß gegen die Maßgaben von Vernunft kritisiert, stellt das diskurs- und machttheoretische Begriffsverständnis gerade die innige Verbundenheit von Rationalität, Wissenschaft und Rassismus heraus (Terkessidis 2004: 109-114). Insbesondere nach Maßgaben instrumentell-partikularer Vernunft kann Rassismus durchaus der rationalen Interessensicherung privilegierter Gruppen dienen. Für eine Sklavenhalterin ist es nicht nur psychodynamisch, sondern auch sozial nützlich, den Sklavinnen eine Natur zuzuschreiben, die ihre Versklavung notwendig und legitim erscheinen lässt. Analoges gilt bei weniger drastischen Formen von Rassismus für diejenigen Gruppen, die sich aufgrund der rassistischen Ungleichverteilung sozialer Ressourcen in einer privilegierten Position befinden – wenn eine Minderheit auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt diskriminiert ist, ist es für die Mehrheit automatisch leichter, Wohnungen und Arbeit zu finden. Entsprechend wird rassistisches Handeln in der rassismuskritischen Literatur immer wieder als ein in diesem Sinne rationales Durchsetzen des eigenen Machtanspruchs und Privilegs gegen andere dargestellt (Kilomba 2013: 28f).

Daher kann das machtkritische Rassismusverständnis auf einen emphatischen Vernunftbezug, wie er für die Ideologiekritik konstitutiv ist, zumindest auf den ersten Blick verzichten. Dann tritt Rassismuskritik in Form einer radikalen Vernunftkritik auf – entsprechend argumentiert im deutschen Kontext beispielsweise Grada Kilomba (ebd.: 24-36). Der Versuch, eine politische und soziale Ordnung als allgemeinen Vernunftprinzipien entsprechend darzustellen, kann dann in Anlehnung an Derrida in doppeltem Wortsinne als Weiße Mythologie verstanden werden (Young 2004; Spivak 2008: 22). Einerseits als eine Weißwaschung, mit der eine bestimmte Form von Herrschaft als aufgeklärt und vernünftig gerechtfertigt wird, andererseits als eine Mythologie weißer Herrscherinnen. In dieser Perspektive wird nicht mehr eine ideologisch verzerrte oder verkürzte Form von Vernunft im Namen einer emphatisch vernünftigen kritisiert; kritisiert wird vielmehr die Berufung auf Vernunft per se.

Eine solche Vernunftkritik eröffnet eine entsprechend radikale Perspektive auf das Werk Kants, aus der Rassentheorie und praktische Philosophie als Einheit erscheinen – die These einer solchen Werkeinheit formulieren mit unterschiedlicher theoretischer Rahmung[18] Emmanuel Eze (1997) und Charles W. Mills (2005). Die Formulierung einer Vernunftethik, die das Verhältnis vernünftiger Subjekte untereinander zum Gegenstand hat, auf der einen Seite und die rassifizierenden Darstellungen von Nichteuropäerinnen auf der anderen stünden demnach in keinem Widerspruch. Vielmehr bildeten letztere den Interpretationsschlüssel für erstere: Kants politische Philosophie der Gleichheit und Freiheit vernunftbegabter Subjekte sei in Wirklichkeit nur für das Binnenverhältnis weißer Subjekte formuliert, die Herrschaft über alle anderen Menschen sei impliziert. Auch wenn man von dieser Maximalposition abrückt, die auch Mills (2005: 29-32) angesichts von Kants insbesondere in seinen späteren Texten formulierter Verurteilung der europäischen Kolonialherrschaft (Muthu 2000) nur mit einigen Zweifeln formuliert[19], kann man aus einer vernunftkritischen Perspektive Kants Philosophie und Rassenlehre immer noch als zwei einander ergänzende Beiträge zu ein und demselben europäischen Diskurs weißer Mythologie verstehen: So betrachtet legitimiert Kants philosophischer Diskurs liberale und „aufgeklärte“ Formen der Selbstherrschaft innerhalb europäischer Staaten als vernünftig, während seine Anthropologie zugleich alle Nichteuropäerinnen aus der zur vernünftigen Selbstherrschaft fähigen Menschheit ausschließt, so dass sich auch die europäische Herrschaft über Nichteuropa rechtfertigen lässt. Somit fügen sich beide Aspekte von Kants Werk in europäische Herrschaftsdiskurse ein.

Jedoch hätte ein radikal vernunftkritischer Antirassismus wie jede radikale Vernunftkritik mit emanzipatorischen Ansprüchen ein Problem, die Grundlagen und Ziele des eigenen Strebens nach Emanzipation überhaupt auszuweisen. Das Problem besteht dabei weniger darin, dass es einer Vernunftphilosophie bedürfte, um Gründe gegen Sklaverei, Entrechtung, Diskriminierung und Marginalisierung zu haben. Das Engagement gegen Herrschaft und Ausbeutung bedarf keiner Vernunft zu ihrer Rechtfertigung. Es kann sich auch aus einem anderen ethischen Impuls speisen, wie etwa aus dem Gesicht der Anderen in der Levinas’schen Ethik.[20] Allerdings entkommt man den kantischen Fragen damit nicht. Wenn Rassismuskritik wie jede Herrschaftskritik von dem Impuls zu mehr Selbstbestimmung getrieben ist, stellt sich die Frage, wie Menschen in einer Gesellschaft selbstbestimmt miteinander leben können. Eine Beantwortung dieser Frage unter Rückgriff auf ein metaphysisches System wäre zwar denkbar, jedoch könnte dies unter modernen Bedingungen kaum überzeugen. Zudem wäre – wenn nicht ein metaphysisches System imperialistisch auf der ganzen Welt durchgesetzt würde – zu fragen, wie verschiedene metaphysische Systeme und ihre Ethiken gerecht koexistieren können.[21] Sowohl die Frage nach dem Zusammenleben von Menschen in Autonomie und Gleichheit als auch die Frage nach der Koexistenz verschiedener Vorstellungen des Guten, lassen sich somit kaum anders als durch vernunftethische Überlegungen beantworten (Habermas 1999: 11-50).[22]

Wenn Rassismuskritik ein herrschaftskritisches Projekt ist, kann sie es sich also kaum erlauben, auf vernunftbasierte praktische Philosophie zu verzichten. Daher liegt es auch nahe, dass sie nicht darauf verzichten sollte, von Kant zu lernen. Es ist keinesfalls so, dass es keine Alternativen zu Kant gäbe – sowohl innerhalb als auch außerhalb der westlichen Tradition finden sich nichtkantianische Philosophien, an die sich stattdessen anknüpfen ließe. Jedoch wird die Frage, wie Autonomie von Menschen in der Gesellschaft möglich ist, in der kantischen Tradition in einer Systematik entfaltet, die es schwer macht, auf sie zu verzichten. Demnach sollte sich Rassismuskritik in Bezug auf Kants Philosophie lernbereit zeigen, ohne deren Verbundenheit mit Kants Rassentheorie als Beitrag zum legitimierenden Diskurs rassistischer Herrschaft auszublenden. Die Spuren der letzteren sind in ersterer zu suchen – eine solche Lektüre Kants findet sich beispielsweise bei Spivak (1999: 9-37; 2012: 1-34).

In Bezug auf antimuslimischen Rassismus zeigen sich zunächst die Stärken des machtkritischen Rassismusbegriffs. Autorinnen, die die gegenwärtigen Islamdebatten aus dieser Perspektive thematisieren, rücken die sozialen Effekte des Sprechens über den Islam, den Konstruktionscharakter der entsprechenden Islambilder, die Prozesse der Rassifizierung und Muslimisierung, die dabei wirkenden Machtdynamiken sowie das durch all dies konstituierte soziale Dominanzverhältnis in den Fokus. Insbesondere machen sie deutlich, dass der Problemkomplex antimuslimischer Rassismus nicht erst da beginnt, wo explizit verzerrende, feindliche und ablehnende Einstellungen gegenüber Musliminnen auftreten, sondern schon da, wo verschiedene Themen zunehmend als „islamische“ Themen diskutiert werden, wo die Unterscheidung muslimisch-nichtmuslimisch immer mehr soziale Relevanz erhält, wo Muslim-Sein zu einem entscheidenden Differenzmarker wird und wo (vermeintliche) Musliminnen immer wieder in erster Linie als Musliminnen angesprochen werden (Attia 2009: 68-79; Shooman 2014: 45-53, 63-74; Müller-Uri 2014: 13-37).

Jedoch wird auch in Bezug auf antimuslimischen Rassismus deutlich, dass Rassismuskritik nicht auf einen Vernunftbezug verzichten kann. Der Grund hierfür liegt darin, dass es bei kulturalistischem Rassismus anders als bei biologistischem Rassismus eine korrespondierende Form von Herrschaftskritik gibt, von der der Rassismus begrifflich unterschieden werden muss. Während es keine legitime Kritik geben kann, die sich auf die Biologie anderer Menschen bezieht, gilt für Kultur das Gegenteil. Herrschaft ist gerade dann besonders stabil, wenn sie kulturell legitimiert und normalisiert ist, sodass sich Herrschaftskritik immer auch auf die kulturelle Legitimation von Herrschaft beziehen muss. Auch Rassismuskritik selbst ist in diesem Sinne Kulturkritik, denn die rassistischen Weltdeutungen und Differenzkonstruktionen sind ein entscheidender Bestandteil dominanter Kultur und werden in der Rassismuskritik entsprechend benannt.[23] Demnach kann Kultur sowohl Objekt von Rassismus als auch Gegenstand von Herrschaftskritik sein. Weiter verkompliziert wird dieses Problem dadurch, dass es immer wieder Versuche gibt, antimuslimischen Rassismus als Herrschaftskritik zu legitimieren – als Kritik an islamisch legitimierten Geschlechterhierarchien, Sexualpolitiken und so weiter (Shooman 2014: 83-99; Müller-Uri 2014: 110-123).

Daher bedarf es hier einer Abgrenzung oder zumindest Abwägung zwischen einem Sprechen über den Islam, das als antimuslimischer Rassismus zu kritisieren ist, und einem Sprechen über den Islam, das als wünschenswerte Herrschaftskritik gilt. Welche Thematisierung patriarchalischer Geschlechternormen in muslimischen Kontexten beispielsweise als Beitrag zu antisexistischer Politik gelten kann und welche als Beitrag zu antimuslimischem Rassismus, ist keineswegs selbstverständlich. Auch wenn in der allgemeineren rassismustheoretischen Literatur ausführliche Reflexionen des schwierigen Wechsel- und Überlagerungsverhältnisses von Rassismus und Sexismus formuliert werden (Kerner 2009: 360-371), wird das Problem in der spezifischen Literatur zur antimuslimischem Rassismus nur am Rande thematisiert und nicht systematisch reflektiert (z.B. Shooman 2014: 76-79). Vielmehr werden ähnliche Spannungen zumeist einseitig antirassistisch aufgelöst, was zu einer Verdachtshermeneutik führt, bei der jede Aussage, die sich negativ auf irgendein mit dem Islam verbundenes Phänomen bezieht, auf ihre mutmaßlichen rassistischen Effekte reduziert wird, ohne dass reflektiert würde, inwieweit sie auch befreiende Effekte haben könnte (Biskamp 2016: 80-94).

Um das Spannungsfeld von der Kritik islamischer Autoritarismen und der Kritik antimuslimischen Rassismus zu vermessen, bedarf es eben dessen, was die diskurstheoretische Rassismuskritik nicht formuliert: eines ausformulierten Begriffes von Vernunft und Emanzipation in der Gesellschaft. Dann könnte man reflektieren, welches öffentliche Sprechen über Kultur unter den jeweils gegebenen Umständen als wünschenswert gelten kann. Am Rande diskurstheoretischer Rassismusdefinitionen finden sich Hinweise, die man dahingehend expandieren könnte. So macht es Birgit Rommelspacher (2009: 25) zum definitorischen Kriterium von Rassismus, dass dabei „Gruppen aufgrund willkürlich gewählter Kriterien“ konstruiert werden. Das Kriterium der Willkür impliziert im Umkehrschluss, dass eine nicht willkürliche, sondern begründete Darstellung von Differenz nicht rassistisch wäre. Dies könnte als Verweis auf ein an Begründungspflichten gegenüber den Anderen gebundenes Sprechen gelesen werden und somit auf Vernunft in der Interaktion – was jedoch auch Rommelspacher nicht ausführt.

5.      Rassismus als systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis

Die Schwächen des ideologiekritischen Rassismusbegriffs bestehen also in seiner subjektivistischen Verkürzung auf Bewusstseinsprozesse, aufgrund derer Macht- und Diskursdynamiken unsichtbar bleiben; die Schwächen des machtkritischen Begriffs bestehen dagegen darin, dass er implizit auf einen Vernunftbezug angewiesen ist, diesen aber weder explizit ausweist noch konsequent zu Ende denkt – und wie insbesondere das Problem des antimuslimischen Rassismus verdeutlicht, führen diese Schwächen zu Problemen in der kritischen Praxis. Um die Stärken beider Begriffe zu vereinen und die Schwächen in beiden Fällen zu minimieren, liegt es daher nahe, einen theoretischen Rahmen zu wählen, der einen nicht-subjektivistischen Begriff von Vernunft bietet und zugleich in der Lage ist, soziale Machtdifferenziale und Festschreibungen zu erfassen. Einen solchen theoretischen Rahmen finde ich in einer in einigen Punkten revidierten Lesart von Jürgen Habermas’ Gesellschaftstheorie und politischer Philosophie. Weil Habermas sich kaum je zu Rassismus geäußert hat, ist dies eine überraschende Referenz, wie ich im Folgenden darlege, jedoch auch eine produktive.

Habermas’ Theorie kommunikativer Rationalität bietet einen Vernunftbegriff, der nicht auf der Ebene individuellen Bewusstseins, sondern auf der Ebene intersubjektiver Interaktionen angesiedelt ist. Vernunft drückt sich demnach nicht durch das Verhältnis aus, in das sich ein Subjekt zu seiner Umwelt setzt, sondern in der Offenheit der Kommunikation in einer Gesellschaft, also in der Frage, wie frei Geltungsansprüche von allen Seiten formuliert und in Frage gestellt werden können und wie sehr dabei der „eigentümlich zwanglose[…] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1995a: 47) wirkt (1995a: 25-45, 115-151, 397-427).

Dabei ist Habermas’ Theorie nicht idealistisch in dem Sinne, dass er die gesellschaftliche und materielle Bedingtheit der Kommunikationsprozesse ignorieren würde. Diese reflektiert er in zweifacher Weise. Zunächst betont er aus einer Teilnehmerinnenperspektive, dass kommunikatives Handeln immer nur im Kontext einer Lebenswelt möglich sei. Neben einer gemeinsamen Sprache, in der die Kommunikation stattfinde, gewährleiste die Lebenswelt die Existenz gemeinsamer kultureller Weltdeutungen, sozialer Normen und etablierter Persönlichkeitsstrukturen. Die handelnden Subjekte müssten diese Lebenswelt einerseits immer als gegeben voraussetzen, zugleich könnten sie in der Kommunikation aber auch einzelne Elemente des kulturell etablierten Wissens oder der sozial etablierten Normen in Frage stellen und auf ihre Gültigkeit überprüfen. Dies wiederum ermögliche Rationalisierungsprozesse, in denen Lebenswelten nach und nach freier und zwangloser würden. Überkommene Formen der Diskriminierung und Marginalisierung könnten sich in einer solchen Rationalisierung nach und nach auflösen – wenn die Marginalisierten dies in Anerkennungskämpfen erwirken (Habermas 1995b: 164-221; 1999: 243-257).

Allerdings hat Kommunikation und haben Lebenswelten noch eine weitere Voraussetzung, nämlich die fortwährende Reproduktion ihrer materiellen Existenzgrundlagen. Um diese materielle Bedingtheit zu reflektieren, sei es notwendig, Gesellschaft aus einer Beobachterinnenperspektive als ein sich selbst reproduzierendes System zu betrachten. Diese ökonomische und politische Bestandssicherung der materiellen Reproduktion könne auf die Lebenswelt zurückschlagen und dort eine Einschränkung lebensweltlicher Rationalisierungspotenziale verursachen – etwa indem bestimmte gesellschaftliche Bereiche der kommunikativen Infragestellung entzogen sind oder indem die Wirksamkeit der Infragestellung eingeschränkt bleibt. Die verschiedenen Weisen des Zurückschlagens der systemischen Notwendigkeiten auf die lebensweltliche Kommunikation bezeichnet Habermas (1995b: 168-181, 217-250, 287-289) als die Verständigungsformen der jeweiligen Gesellschaft.[24]

Mit überzeugenden Argumenten wurde Habermas’ Theorie sowohl von feministischer (Meehan 1995) als auch von rassismuskritischer (The Black Public Sphere Collective 1995) Seite dafür kritisiert, zu sozialen Machtasymmetrien ebenso wenig zu sagen zu haben wie zur realen Pluralität von Öffentlichkeiten und Lebenswelten. Jedoch bietet seine Theorie mit den Begriffen der Verständigungsform, der sozialen Macht und der systematisch verzerrten Kommunikation Instrumentarien, um dieses Problem zu überwinden. Der Begriff der Verständigungsform bezeichnet, wie erläutert, das Zurückschlagen der Systemreproduktion auf die lebensweltliche Kommunikation. Mit dem an Max Webers Machtbegriff angelehnten Begriff sozialer Macht, erfasst Habermas lebensweltliche Machtasymmetrien. Mit dem Begriff der systematisch verzerrten Kommunikation analysiert er Kommunikationsprozesse, in denen bestimmte Geltungsansprüche für die Subjekte unauffällig gegen die Infragestellung abgeschirmt sind, so dass sich das bessere Argument nicht durchsetzt, das der Sprache innewohnende rationalisierende Potenzial blockiert bleibt und sich Verhältnisse stabilisieren, die sich in einer offenen Kommunikation als nicht rechtfertigbar erweisen müssten. In Anlehnung an David Strecker (2012: 242-304) schlage ich vor, die drei Begriffe zu einer Theorie systematisch verzerrter Kommunikationsverhältnisse zusammenzuführen. Mit diesem Begriff können soziale Verhältnisse analysiert werden, in denen Kommunikationsprozesse unter dem Einfluss der Notwendigkeiten systemischer Reproduktionsprozesse sowie sozialer Machtasymmetrien systematisch verzerrt sind und damit gerade nicht zu einer Rationalisierung der Lebenswelt, sondern zur Festschreibung von Herrschaft beitragen (Biskamp 2016: 327-350).

Fasst man Rassismus als systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis, wird es möglich, die Stärken des ideologiekritischen und des diskurstheoretischen Rassismusbegriffs zu verbinden und die jeweiligen Schwächen zu vermeiden. Dafür gilt es, die Theoreme und Erkenntnisse dieser beiden Ansätze in ein kommunikationstheoretisches Framework zu übersetzen. Die ideologiekritischen Thesen darüber, wie die Anforderungen kapitalistischer Gesellschaften zu einer Verzerrung individuellen Bewusstseins beitragen, werden dabei so interpretiert, dass ein weitverbreitetes Vorhandensein solcher zu pathischer Projektion neigenden Persönlichkeitsmuster in der Lebenswelt auch die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse jenseits der einzelnen Subjekte affiziert. Die massenhafte Präsenz projektiver Bedürfnisse sorgt nicht nur dafür, dass projektiv aufgeladene Stereotype über rassifizierte Gruppen immer wieder formuliert werden. Sie sorgt auch dafür, dass diese in der Öffentlichkeit bestehen können, obwohl sie sich argumentativ als unhaltbar erweisen müssten. Dabei ist insbesondere eine weite Verbreitung essenzialisierender und homogenisierender Darstellungen rassifizierter Gruppen als irrational usw. wahrscheinlich, weil diese besonders gut geeignet sind, die projektiven Bedürfnisse der Subjekte zu befriedigen. Diese Annahmen über das Bewusstsein der vergesellschafteten Subjekte stehen nun aber nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern bilden eine Randbedingung, die die im Fokus stehende Verzerrung der Kommunikationsprozesse und -verhältnisse (mit-)erklärt (Biskamp 2016: 322-347).

Ebenfalls zur Erklärung tragen die machtkritischen Überlegungen über die Wechselwirkungen von Machtasymmetrien, diskursiven Dynamiken und rassifizierenden Darstellungen bei. In eine kommunikationstheoretische Sprache übertragen ist festzuhalten, dass soziale Machtasymmetrien eine Bedingung dafür sind, dass rassistische Projektionen zu einer effektiven Verzerrung der Kommunikationsverhältnisse führen können. Wenn die Objekte pathischer Projektionen so positioniert sind, dass sie den entsprechenden Fremddarstellungen effektiv widersprechen können, könnten sich diese Darstellungen nicht weithin als gültige Weltdeutung etablieren. Wenn die Kommunikationsverhältnisse aber machtverzerrt sind, können sich die nicht durch Vernunftgründe gedeckten, aber durch Projektionen aufgeladenen Geltungsansprüche privilegiert positionierter Subjekte in der Öffentlichkeit als kaum effektiv hinterfragbare Wahrheit etablieren. Die Durchsetzung entsprechender projektiv aufgeladener, essenzialisierender und homogenisierender Darstellungen bestimmter Personengruppen, ihrer Biologie und ihrer Kultur wiederum stabilisiert und verstärkt die bestehenden Machtasymmetrien. Personen, die systematisch als Teile einer wesensmäßig irrationalen und gefährlichen anderen Gruppe dargestellt werden, haben umso schlechtere Chancen, diese Darstellungen effektiv in Frage zu stellen, so dass sich die rassistische Kommunikationsverzerrung selbst stabilisiert (Biskamp 2016: 347-351).

Unter dergestalt systematisch verzerrten Kommunikationsbedingungen ist es wahrscheinlich, dass das öffentliche Sprechen über Kultur gerade nicht zu einer Rationalisierung der Lebenswelt, sondern zu einer Festschreibung von Machtasymmetrien, Privilegien und Marginalisierungen beiträgt. Es ist wahrscheinlich, dass die Verhältnisse aus einer majoritären und nicht rassismuskritischen Perspektive als relativ frei und gleich gelten, bei den Rassifizierten aber genau die Subjektivierungsprozesse zeitigen, die der machtkritische Ansatz beschreibt. Auf institutioneller Ebene – in der Sprache der Habermas’schen Soziologie in den Subsystemen – ist es wahrscheinlich, dass diese zwar in ihren rechtlichen und formalen Grundlagen arassistisch erscheinen, aber in ihrer Praxis unter systematisch verzerrten Bedingungen zur Reproduktion der Verzerrung beitragen, wie es die Kritik des institutionellen Rassismus beschreibt. Auch auf eine globale Dimension übertragen lassen sich rassifizierende Herrschafts- und Ausbeutungsbedingungen als systematische Kommunikationsverzerrung fassen.[25]

Rassismus als ein systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis zu definieren, stellt keine Verharmlosung des Problems dar. Rassismus wird ebenso wie in der machtkritischen Perspektive als mithin gewaltsames und mörderisches soziales Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis verstanden. Ebenso wie in der ideologiekritischen Perspektive wird der innige Zusammenhang mit der materiellen Reproduktion in zweifacher Weise betont: Zum einen sind es die Anforderungen der Systemreproduktion, die die verzerrenden Projektionen hervorbringen; zum anderen produziert die Ökonomie systematisch Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die effektive Kommunikationsverzerrungen wahrscheinlicher machen. Weil systematisch verzerrte Kommunikationsverhältnisse zudem gerade dadurch bestimmt sind, dass eine effektive kommunikative Thematisierung des Problems mindestens erschwert ist, handelt es sich um ein gegen Infragestellung und kommunikative Rationalisierung abgeschirmtes Herrschaftsverhältnis, was es als besonders stabil und verhängnisvoll erscheinen lässt.

Um auf diesem Weg zu einer brauchbaren Definition von Rassismus zu gelangen, bedarf es noch einer weiteren Eingrenzung. Genau wie nicht jede Form von pathischer Projektion bzw. falschem Bewusstsein und nicht jede Form von sozialem Dominanzverhältnis als Rassismus zu bezeichnen ist, ist dies auch nicht für jedes systematisch verzerrte Kommunikationsverhältnis der Fall. Zwar bestimmen einige Autorinnen den Rassismusbegriff rein strukturell und machen ihn so zu einem allgemeinen Begriff der Analyse von Herrschaftsverhältnissen ohne jede inhaltliche, historische oder geografische Eingrenzung – Hund (2007) spricht zum Beispiel neben „Rassenrassismus“ (9) und „Kulturrassismus“ (125) auch von einem Rassismus der Kasten (43) sowie von „Klassenrassismus, Geschlechterrassismus und Nationalrassismus“ (18). Eine solche Ausweitung des Begriffs führt jedoch zu einem großen Verlust an Bestimmtheit, so dass das Wort Rassismus zu einer relativ beliebigen Sammelkategorie für die verschiedensten Formen von Herrschaft wird (Miles 1991: 88). Um derartige Unschärfen zu vermeiden, scheint es sinnvoll, eine historische Eingrenzung vorzunehmen. Demnach ist als Rassismus zunächst das systematisch verzerrte Kommunikationsverhältnis zu bestimmen, das sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert formierte und im Folgenden zum Kolonialrassismus entwickelte. In einer notwendigen Erweiterung des Begriffes sind auch diejenigen systematischen Verzerrungen als Rassismus zu bezeichnen, die als transformierte displacements dieses klassischen Rassismus verstanden werden können, also all diejenigen systematischen Verzerrungen, bei denen biologistisch oder kulturalistisch definierten Anderen Eigenschaften zugeschrieben werden, die an die Zuschreibungen des Kolonialrassismus anknüpfen oder diesen stark ähneln.

Blickt man aus dieser theoretischen Perspektive auf Kants Werk, ist die positive Bezugnahme auf dessen Philosophie nicht mehr nur naheliegend, sondern bereits erfolgt – tatsächlich sind weite Teile der Habermas’schen Theorie Übertragungen kantischer Philosophie in einen kommunikationstheoretischen Rahmen. Dies heißt allerdings nicht, dass diese Bezugnahme unkritisch ausfallen müsste. Vielmehr kann man Kants Rassentheorie in mehrfacher Hinsicht als Symptom einer systematischen Kommunikationsverzerrung deuten. Zunächst verfasst Kant sein Werk in einem philosophischen Diskurs, der fast ausschließlich durch westliche Autoren geprägt ist, was es den in seiner Rassentheorie beschriebenen Anderen verunmöglicht, ihm effektiv zu widersprechen. Vor dem Hintergrund dieses massiven Ungleichheitsverhältnisses, ist seine Verstrickung in kolonialrassistische Rechtfertigungsdiskurse (trotz seiner an anderen Stellen geäußerten Kritik am Kolonialismus) nur bedingt überraschend. Dass Kant selbst für diese Verzerrungen blind ist, steht wiederum in Zusammenhang mit seinem eigenen subjektivistischen Verständnis von Vernunft und Ethik. Die Prüfung der Verallgemeinerbarkeit von Normen muss das kantische Subjekt in Einsamkeit vornehmen, so dass es eingeladen ist, die eigenen Erfahrungen, Wünsche und Projektionen als allgemein zu setzen. In einer kommunikativen Ethik dagegen bedarf es der realen Einbeziehung der Anderen als Kommunikationspartnerinnen (Habermas 1999: 46-64) – freilich ist in Frage zu stellen, inwieweit Habermas’ eigenes Theoretisieren diesen Ansprüchen genügt (Biskamp 2016: 293-326)

Die entscheidenden Stärken des kommunikationstheoretischen Rassismusbegriffes zeigen sich schließlich in Bezug auf die Frage von antimuslimischem Rassismus. Hier ist zunächst davon auszugehen, dass der öffentliche Streit über Kultur und kulturelle Differenz abstrakt betrachtet wünschenswert ist – diese These vertritt neben Habermas (1999: 252-271, 283-305, 312-333) insbesondere Seyla Benhabib (2002: 105-146). Die kulturell tradierten Weltdeutungen und Normen sowohl von Mehrheits- als auch von Minderheitskulturen sind Bestandteil der Lebenswelt. Nur durch ihre kommunikative Infragestellung im öffentlichen Streit kann darüber entschieden werden, ob bestimmte kulturell legitimierte Normen oder Praktiken eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung individueller Autonomie darstellen, so dass diesem Streit ein erhebliches befreiendes Potenzial innewohnt. Dies gilt umso mehr, weil in solchen öffentlichen Aushandlungen ebenso darüber entschieden werden kann, ob eine gegebene Rechtsordnung unrechtfertigbare Diskriminierungen gegenüber Minderheitenkulturen beinhaltet.

Während Habermas und Benhabib selbst in Bezug auf Aushandlungen kultureller Differenz eine fast ungebrochen diskursoptimistische Position vertreten, rücken durch die von mir vorgeschlagene rassismuskritische Revision ihrer Theorien die Gefahren solcher Aushandlungen in den Blick. Insbesondere bei öffentlichen Diskussionen über Minderheitskulturen ist aus dieser Perspektive zu erwarten, dass es zu Prozessen der Rassifizierung, Marginalisierung und Festschreibung kommt. Mit einem Begriff von Rassismus als systematisch verzerrtem Kommunikationsverhältnis wird es möglich, in öffentlichen Aushandlungen über Kultur beide Potenziale zu sehen: sowohl das von Habermas und Benhabib betonte, aber in der diskurstheoretisch-rassismuskritischen Literatur weitgehend ignorierte emanzipatorische Potenzial, das sich aus der Problematisierung autoritärer Normen ergibt, als auch das von der Rassismuskritik betonte, aber von Habermas und Benhabib unterschätzte herrschaftliche Potenzial einer zunehmenden Rassifizierung, Fixierung und Marginalisierung von Minderheiten.

Die einzelnen Äußerungen und Darstellungen wären dann jeweils daraufhin zu befragen, welche Effekte sie in der jeweiligen Situation im jeweiligen Kontext aus der jeweiligen Sprechposition wahrscheinlich und überwiegend haben. In Islamdebatten ist zum einen zu fragen, ob und in welchem Maße die einzelne Aussage in ihrem Kontext zur Stigmatisierung und Marginalisierung von Islam und Musliminnen beiträgt. Zum anderen ist zu fragen, ob und in welchem Maße sie zur Sichtbarmachung und Überwindung religiös begründeter Autoritarismen und Herrschaftsverhältnisse beiträgt. Dazu bedarf es einer Symptomatik systematischer Verzerrungen, wie ich sie an anderer Stelle entwickelt habe (Biskamp 2016: 355-378). Dabei schließt ein Ja auf die eine Frage ein Ja auf die andere nicht logisch aus. Jedoch müsste aus dieser rassismuskritischen Perspektive nach einem Sprechen gesucht werden, bei dem ein Nein auf die erste und ein Ja auf die zweite Frage möglichst wahrscheinlich wäre – sollte sich ein solches Sprechen in der jeweiligen Situation nicht finden lassen, wäre Schweigen mitunter die bessere Wahl.

Aus dieser Perspektive ist Rassismuskritik zunächst als ein Reflexivwerden der Kommunikationsprozesse zu verstehen, in dem Kommunikationsteilnehmerinnen die systematische Verzerrtheit der Kommunikationsverhältnisse thematisieren. Diese Reflexion kann zunächst kaum mehr leisten, als die Effekte der Verzerrung zu minimieren sowie den Marginalisierten mehr Gehör zu schenken und zu verschaffen. Die rassistischen Verzerrungen selbst lassen sich durch reflektierende Kommunikation aber allenfalls abmildern. Letztlich bestehen sie so lange fort, wie die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Bedingungen und Machtasymmetrien bestehen. Daher muss sich Rassismuskritik in Solidarität mit den Rassifizierten auch auf diese Verhältnisse selbst beziehen.

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Anschrift des Autors:
Floris Biskamp
floris.biskamp@uni-kassel.de

Peripherie, Nr. 146/147, 37. Jg., 2/2017, Verlag Barbara Budrich, Leverkusen.

 

[1]       Im vorliegenden Beitrag reformuliere und erweitere ich einige Kernthesen meiner Dissertation Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit (Biskamp 2016), der kürzere Passagen entnommen sind.

[2]       Der Einfachheit halber verwende ich das generische Femininum. Wenn es der Kontext nicht anders impliziert, schließen weibliche Formen alle ein, unabhängig davon, ob sie sich als weiblich identifizieren. Männer sind mitgemeint.

[3]       Die wenigen Ausnahmen bilden im ersten Fall selbstbewusste Rassistinnen, im zweiten Fall weiße Critical-Whiteness-Aktivistinnen.

[4]       S. z.B. Geiss 1988: 111-202; Hund 1999: 15-22, 32-38; 2007: 10-15.

[5]       Darauf zielen die insbesondere seit den frühen 1990ern stark rezipierten Rassismustheorien, die von einem nicht biologistischen, sondern kulturalistischen, differentialistischen Rassismus, Neorassismus, Kulturrassismus oder Rassismus ohne Rassen sprechen (Hall 1989; Balibar 1992; Taguieff 1992). Auf diese Differenz zwischen einem allzu engen und einem erweiterten Rassismusbegriff zielt aus umgekehrter Richtung Goldbergs (2009: 10-17) These, dass ein bloß gegen biologistische Differenzkonstruktion zielender „antiracialism“ noch kein hinreichender „antiracism“ sei. Wie verschiedene Autorinnen betonen, war die Rede von der Kultur der Anderen schon immer ein Bestandteil rassistischer Diskurse. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das weitgehende Verschwinden der Rede von biologisch definierten Menschenrassen eine bedeutende Transformation darstellt (Hund 2007: 10-15; Müller-Uri 2014: 69-70).

[6]       Terkessidis 2004; Rommelspacher 2009; Kerner 2009; Müller-Uri 2014.

[7]       Zur Debatte um die Einordnung der Kant’schen Rassentheorie s. Kerner 2009: 65-70; Mills 2005; Eze 2001; Bernasconi 2001; 2002; Muthu 2000; Hund 1999: 120-126; Türcke 1993.

[8]       Die Unterscheidung der verschiedenen Rassismusbegriffe ist heuristisch und analytisch und dient der Kontrastierung möglicher Wege der Definition. Man wird bei den meisten der Ideologiekritik zugeordneten Autorinnen auch macht- oder sprachkritische Argumente finden und andersherum. Zudem können sich beide in gewissem Maße auf dieselben Autorinnen berufen – so hat Frantz Fanon (2013 [1952]) einerseits entscheidend zum psychoanalytischen Verständnis rassistischer Subjekte beigetragen, wie es im Mittelpunkt des sozialpsychologisch-ideologiekritischen Interesses steht, andererseits aber auch zum Verständnis von Subjektivierungseffekten rassistischer Kultur und Sprache auf die Rassifizierten, wie es im Zentrum des machtkritischen Rassismusbegriffes steht. Auch wenn sich Ideologiekritik und Diskurskritik somit nicht strikt trennen lassen, handelt es sich doch um zwei unterscheidbare rassismustheoretische Projekte, deren Definition von Rassismus jeweils auf eine andere Ebene zielt, auf Bewusstsein einerseits, auf Macht und Diskurs andererseits.

[9]       Dabei lassen sich heuristisch zwei Versionen unterscheiden: Die einen beziehen sich primär auf die Widersprüche und Anforderungen kapitalistischer Vergesellschaftung im nationalen Rahmen (z.B. Claussen 1994), die anderen auf die Anforderungen, die von der kolonialen und postkolonialen Differenz globaler Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse hervorgebracht werden (z.B. Fanon 2013 [1952]). Weil ich in Abschnitt 4 verstärkt auf Kolonialismus und Postkolonialismus eingehe, beschränke ich mich in diesem Abschnitt weitgehend auf die Argumente der ersten Version.

[10]      Claussen lehnt die Begriffe der Ideologie und des notwendig falschen Bewusstseins in Bezug auf Rassismus ab, und spricht sich stattdessen für den Terminus „Alltagsreligion“ (Claussen 1994: 18) aus. Auf diese terminologischen Feinheiten kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, jedoch verzichte auch ich auf das Attribut „notwendig“.

[11]      Grigat (2007: 312, Fn. 21) grenzt sich explizit gegen die Islamophobieforschung ab, seine Theorie schließt die Existenz eines antimuslimischen Rassismus jedoch nicht aus, weil sie die Möglichkeit eines nicht-biologistischen Rassismus benennt.

[12]      Ähnlichkeiten bestehen in Bezug auf das vorurteilstheoretische, sozialpsychologische Forschungsdesign, terminologisch entscheiden sich jedoch sowohl die Bielefelder als auch die Leipziger Forschungsgruppe gegen den Begriff „antimuslimischer Rassismus“ und für die Begriffe „Islamphobie“ (Leibold & Kühnel 2003; 2006; 2008) oder „Islamfeindlichkeit“ (Decker u.a. 2012: 86-101). In Bezug auf Rassismus folgt das Bielefelder Projekt einem engeren Begriff von Rassismus als biologistische Gruppenkonstruktion.

[13]      Ähnliche Argumente finden sich in der rassismuskritischen Abgrenzung gegen die Vorurteilsforschung (Terkessidis 2004: 13-90; Müller-Uri 2014: 57-61, 99-110; Attia 2009: 8-9, 48-51, 95-96).

[14]      Balibar 1992; Taguieff 1992; Essed 1991; Hall 1980; 1986; 1989.

[15]      S. z.B. Terkessidis 2004: 98-100; Rommelspacher 2009; Kerner 2009; Kilomba 2013: 40-41.

[16]      Terkessidis 2004: 100-109; Gomolla & Radtke 2002; kritisch zum erweiterten Verständnis von institutionellem Rassismus: Miles 1991: 71-83, 113-116.

[17]      Fanon 2013 [1952]; Essed 1991; Terkessidis 2004: 115-208; Kilomba 2013.

[18]      Mills selbst argumentiert durchaus rationalistisch in der Tradition der analytischen Philosophie. Seine Argumente gegen Kant und die westliche politische Philosophie sind für eine radikale Vernunftkritik dennoch anknüpfungsfähig.

[19]      „Man kann es nicht vor einem Gerichtshof für philosophisches Recht ‘beweisen’“, schreibt Spivak (1999: 33; eigene Übersetzung).

[20]      Andersherum liegt in der Frage der Motivation zu ethischem Handeln gerade ein grundlegendes Probleme kantianischer Vernunftethiken. Mit Kant kann man begründen, dass sich ein vernünftiges Subjekt unvernünftigerweise in einen Selbstwiderspruch begibt, wenn es nicht entsprechend dem kategorischen Imperativ handelt. Ein zynisches Subjekt, das angesichts dieses Selbstwiderspruchs mit den Schultern zuckt, wird damit jedoch nicht zu ethischem, widerspruchsfreiem Handeln zu bewegen sein. Derartige Schwächen der Vernunftethiken zu überwinden, ist eines der Ziele Levinas’scher Responsibilitätsethiken (Spivak 2008: 21-22; Bernasconi 2010).

[21]      Zu eben solchen Fragen schweigt beispielsweise die dekoloniale Theorie Walter Mignolos (2011). Nähme er diese Fragen ernst, wäre zu bezweifeln, ob er an seiner schlichten Zurückweisung westlicher Vernunftphilosophien festhalten könnte.

[22]      Gerade, weil Vernunftethik in der Moderne unentrinnbar ist, hat Levinas seine nicht-rationalistische Ethik explizit nicht als Alternative zur kantischen Vernunftethik, sondern als Ergänzung oder Supplementierung derselben formuliert. Die Ethik der Responsibilität kann die der Vernunft nur ergänzen, nicht aber ersetzen (Bernasconi 2010; Spivak 2008: 14-96).

[23]      Dies gilt insbesondere für die Kritik des antimuslimischen Rassismus, die in Anschluss an Edward Said (2003 [1978]: 7) immer wieder betont, dass die in gegenwärtigen Islamdiskursen wirksamen Islambilder zum Traditionsbestand europäischer Kultur zählen (Attia 2009: 10-11, 56-61; Müller-Uri 2014: 38-55; Shooman 2014: 45-53).

[24]      Habermas’ Theorie der modernen Gesellschaft zielt letztlich auf die Verständigungsform eines fragmentierten Bewusstseins und auf die Zeitdiagnose einer Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas 1995b: 290-293, 516-522).

[25]      So handelt es sich bei internationaler Arbeitsteilung und Grenzregimes um entscheidende Elemente des gegenwärtigen Regimes der Systemreproduktion. Die damit einhergehenden massiven Ungleichheiten bedürfen einer Rechtfertigung, die die Privilegierten zu rechtfertigenden Projektionen anregt. Andererseits gehen mit diesem Regime erhebliche Machtasymmetrien und kommunikative Entkopplungen einher, die eine effektive kommunikative Infragestellungen der entsprechenden propositionalen und normativen Geltungsansprüche von unten faktisch verunmöglichen. Eben dies ist Spivaks (2010; 2012: 429-442) Argument subalterner Sprachlosigkeit, das in ein kommunikationstheoretisches Modell übertragen als Kommunikationsblockade zu erfassen ist.