Hefteditorial iz3w 359 (März/April 2017)
»Bitte! Tut etwas! Wir haben kein Brot mehr und kein Wasser. Wir sind krank. Es gibt keine Ärzte. Die Menschen sterben.« Mit diesen verzweifelten Worten wandten sich Ende Januar die InsassInnen eines Flüchtlingslagers an die Öffentlichkeit. Interniert waren sie nicht in Libyen, im Tschad oder im Irak, sondern in einem griechischen Camp, genauer gesagt in einem so genannten EU-Hotspot auf der Insel Samos. Der Hilferuf blieb unbeachtet. In den Tagen danach starben allein in Griechenland fünf Menschen in Flüchtlingslagern.
Nicht nur im EU-Mitgliedstaat Griechenland, sondern überall auf dem afrikanischen Kontinent, im Nahen Osten, in der Türkei und in Südosteuropa werden die Zustände in den Flüchtlingslagern immer unerträglicher. Es mangelt an Nahrung, sauberem Wasser und menschenwürdigem Behausungen, zudem an Bildungsangeboten, medizinischer Versorgung sowie Rechtsberatung. Also eigentlich an allem, was ein Mensch zum Leben braucht.
In Libyens von privaten Milizen betriebenen Flüchtlingsgefängnissen sind die Verhältnisse so verheerend, dass selbst das Auswärtige Amt nicht mehr darüber schweigen konnte. Es verbreitete einen Bericht der Deutschen Botschaft im Niger, in dem von »KZ-ähnlichen Verhältnissen« in Libyens Lagern die Rede ist. »Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung«, heißt es.
Das hielt die EU jedoch nicht davon ab, Anfang Februar beim »Flüchtlingsgipfel« in Malta weitere Verhandlungen mit Libyen zu beschließen. 2016 kamen nach EU-Angaben rund 181.000 Menschen in Booten über das zentrale Mittelmeer nach Europa, 4.500 starben bei dem Versuch. 90 Prozent von ihnen legten in Libyen ab, die meisten aus Nigeria und Eritrea. Angestrebt wird nun ein »Flüchtlingspakt« nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals. Er dient nur einem einzigen Zweck: Die Geflüchteten sollen nicht nach Europa übersetzen. »Der schändliche Deal (…) wird zehntausende Menschen in einem von Konflikten zerrissenen Land einsperren, in dem sie ein hohes Risiko von Folter und Ausbeutung haben«, kritisierte die Brüsseler Direktorin von Amnesty International, Iverna McGowan, die EU.
Während also bei der Flüchtlingsabwehr keine Mühen gescheut werden, reichen die von der EU bereitgestellten finanziellen Mittel bei weitem nicht aus, um menschenwürdige Bedingungen in den Lagern zu schaffen. Es sind keinerlei Anstrengungen erkennbar, daran etwas zu verändern. Bestenfalls wird Elendsverwaltung betrieben, und vielerorts nicht einmal diese. Ganz zu schweigen von grundsätzlichen Anstrengungen, die Ursachen von Flucht und Vertreibung anzugehen.
Inzwischen gibt es noch nicht einmal mehr in der Rhetorik der großen weltpolitischen AkteurInnen den Anspruch, die »Flüchtlingskrise« im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent lösen zu wollen. Die UN-Organisationen sind vollkommen überfordert und bekommen nicht genug Unterstützung durch ihre Mitgliedsstaaten. Die USA sind desinteressiert, solange es nicht um direkte Sicherheitsinteressen geht; unter Obama aufgrund von Skepsis gegenüber Interventionismus, unter Trump wegen nationalistischem Isolationismus. Bei der EU beschränken sich alle Aktivitäten auf die Eindämmung der ‚Flüchtlingsströme’ (siehe den Beitrag auf S. 7). Russland führt Krieg in Syrien und der Ukraine und schafft somit Fluchtursachen. Und China? Hält sich aus allem raus und macht gute Geschäfte.
Als im Sommer 2015 hunderttausende Menschen die europäischen Grenzen überwanden, tat die Politik so, als sei sie überrascht von der plötzlichen »Flüchtlingskrise«. Dabei hatten alle Fachleute seit 2012 prognostiziert, dass immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen werden und eine entsprechende humanitäre Politik gefordert. Die EU einschließlich der Bundesregierung verschloss die Augen.
Dieses moralische und politische Totalversagen wird sich schon bald in aller Brutalität wiederholen. Denn viele der Millionen Menschen, die an Europas südlichen Grenzen in Elendslagern ausharren müssen, werden sich bald erneut auf den Weg machen. Mit Repressionen werden all diese Verzweifelten nicht aufzuhalten sein, denn sie haben nichts mehr zu verlieren. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, dass diesmal kein »Sommermärchen« geschehen wird. Rechtspopulistische HetzerInnen treiben die Politik und die liberale Öffentlichkeit längst vor sich her.
Derweil berichten Hilfsorganisationen, dass sich rund um den Tschadsee die schwerste humanitäre Krise in Afrika seit vielen Jahren ereignet. Allein in Nigeria wurden 2,7 Millionen Menschen von den Kämpfen zwischen der dschihadistischen Miliz Boko Haram und Regierungstruppen vertrieben. Die Zahl der Flüchtenden wird also weiter wachsen.
Was tun angesichts dieses Ozeans von Irrsinn? Viel mehr als die Schaffung von Inseln der Vernunft und der Solidarität ist derzeit kaum möglich. Aber gerade deshalb ist diese Aufgabe wichtiger denn je, denkt
die redaktion