"Die Welt von den Rändern her denken"

Rückblick und Ausblick auf 100 Peripherien

in (23.12.2005)
Das Editorial der ersten Peripherie vom Juni 1980 birgt im Rückblick aus 25 Jahren Überraschungen. Überraschend ist weniger der gemäßigt orthodoxe, antide-pendenztheoretische Grundton, der zwischen den Zeilen herausklingt und am Ende mit Getöse angestimmt wird. Sinngemäß: Der Kapitalismus ist schuld, nur der an-tiimperialistische Befreiungskampf und der Aufbau des Sozialismus können die Probleme der Peripherie lösen. "Befreiung, Wandel, Transformation sind vor die-sem Hintergrund aufzuarbeiten" (S. 7 ebd.) - so lautete folgerichtig das Pro-gramm der Redaktion. Überraschend ist vielmehr, dass das Editorial mit irritierter Nachdenklich-keit beginnt, wenn das eigene programmatische Selbstverständnis vorab in Frage gestellt wird. Anhand der Beispiele Vietnam, China und Iran werden bereits zent-rale Fragen aufgeworfen. Warum macht die Befreiungsbewegung an der Macht so vie-le Zugeständnisse an den "Imperialismus", ist sie gar dabei, ihren revolutionä-ren Charakter zu verlieren? Ist die "Iranische Revolution" womöglich gar nicht so fortschrittlich, wie die Schah-Kritiker erhofft haben? Warum bröckelt die hiesige Solidaritätsbewegung, wo doch der Befreiungskampf an der Peripherie ü-berall erfolgreich war? Ist der Sieg der Befreiungsbewegung tatsächlich schon die halbe und der Aufbau des Sozialismus die ganze Lösung? Diese Fragen changie-ren im Licht der nachträglichen Lektüre zwischen einer Kritik von links und ei-ner Kritik von rechts an den damaligen Akteuren an der Peripherie. Also - die Saat des Zweifels war schon von Anfang an gelegt, wenn die Redak-tion der Peripherie sich hier mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruhigte, dass die komplexe Widersprüchlichkeit der Peripherie dort sich schon durch die richtige Theorie werde auflösen lassen. Dies schien umso mehr nötig, als ihre Zielgruppe - die gutwilligen, aber naiven Mitmacher in den Dritte-Welt-Gruppen - vor lauter moralischem und karitativem Eifer Gefahr liefen, "das Unerträgliche nur mildern zu wollen - oft genug nur fürs eigene Bewusstsein und Verantwor-tungsgefühl" (3). Dagegen wollte die Peripherie Abhilfe schaffen als theoreti-sches Zentralorgan der Soli-Bewegung und exemplarisch die damals so populäre Jute-statt-Plastik-Kampagne durch den Verweis auf die ausbeuterischen Bedingun-gen dekuvrieren, unter denen Jute-Taschen oder andere Billigprodukte in Indien hergestellt werden. Überraschend ist auch, dass der Begriff der Zeitschrift selbst, weil zu sehr auf André Gunder Frank verweisend, schon vor ihrer ersten Nummer umstritten war und dennoch bis heute beibehalten wurde. Viele Zeitschriften aus dem gleichen Milieu, soweit sie noch existieren wie z.B. "Probleme des Klassenkampfs", die erst in "Prokla" umbenannt wurde und jetzt "Zeitschrift für kritische Sozialwis-senschaft" heißt, haben dem Zeitgeist Tribut gezollt. Die Peripherie nicht, ob-wohl sich hier gleich mehrere Paradoxien auftun. In der Nr. 1 (1977) der kurzle-bigen Vorläuferzeitschrift "IAB" (das Akronym steht für Imperialismus, Abhängig-keit, Befreiung) lieferte Frank noch den Aufmacher, wenn auch durch eine kriti-sche "Diskussion" relativiert. Bei der Namensgebung der neuen Zeitschrift wollte man seinen Begriff eigentlich gar nicht mehr, weil die Besonderheit des "peri-pheren Kapitalismus" theoretisch offenbar nicht geteilt wurde. Zum Titel gewählt hat man den Begriff dennoch, vielleicht weil man populistisch auf seine Zugkraft bei den ansonsten so gescholtenen Soli-Gruppen hoffte. Und dann ist Frank selber von seiner Begrifflichkeit abgerückt und seit "1492" und "ReOrient"(1) zum schärfsten Kritiker von Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi, Samir Amin und sich selber geworden(2), hat Kapitalismus als analytische Kategorie vollends verworfen, nachdem er ihn früher nur "zirkulationistisch" verwenden mochte. Dies leitet über zur Bilanz, zur Bilanz von 25 Jahren Peripherie im doppel-ten Sinne des Wortes. Der im ersten Editorial erhobene Anspruch wurde glatt ein-gelöst. Die inhaltsanalytischen Untersuchungen von Norbert Minhorst über die deutsche Dritte-Welt-Zeitschriftenlandschaft hat hier einen ganz eindeutigen Befund erbracht (Minhorst 1996). Die Peripherie ist unter den entwicklungspoli-tischen Zeitschriften in Deutschland das einzige theoretische Organ, und sie hat auch das Versprechen eingelöst, die Vielfalt der Meinungen und Ansätze zu Wort kommen zu lassen. In späteren Jahren lässt der theoretische bzw. politökonomi-sche Anspruch allerdings zugunsten von reichlich viel Entwicklungssoziologie, Gender und anderen Soft-Themen nach. Dass sie es allerdings vermocht hat, der Soli-Bewegung das (richtige) theoretische Bewusstsein beizubringen oder gar de-ren Auflösung entgegenzuwirken, darf bezweifelt werden. Aber das haben andere Zeitschriften genauso wenig geschafft. Ob jedoch das ursprüngliche Axiom der Redaktion, dass sich die Lage der pe-ripheren Länder "aus der historischen Entwicklung des kapitalistischen Weltsys-tems bestimmt" (6f), so ganz richtig ist, ist heute fraglicher denn je, zumal wenn man die damalige Schlussfolgerung hinzudenkt, dass der Königsweg zur Aufhe-bung des peripheren Zustands der antiimperialistische Kampf, die Befreiung, das Ausscheren aus dem kapitalistischen Weltmarkt und der Aufbau eines nationalis-tisch bzw. asiatisch oder afrikanisch gewendeten Sozialismus sei(3). Dazu lässt sich 25 Jahre später konstatieren: In ihren axiomatischen Folgerungen zumindest hat die Peripherie geirrt - wäre sie doch besser ihren anfänglichen Zweifeln gefolgt. Aus heutiger Sicht war es eher umgekehrt. Nicht die Befreiung, nicht das Ausscheren aus dem Weltmarkt, nicht der Aufbau des Sozialismus hat die strukturellen Probleme der Peripherie gelöst, sondern eher das Gegenteil. Über-all dort, wo der Kapitalismus wirklich eingeführt und die Logik der Rentenökono-mie überwunden werden konnte, wo der postkoloniale Staat in einen Entwicklungs-staat überführt wurde und nicht bloß Quasi-Staat (Jackson 1990) blieb, wo man die Chancen des Weltmarkts genutzt hat und seine Fallen durch eine kluge Staats-intervention á la Japan und Co. vermieden hat, da stellte sich auch der Erfolg ein. Die letzten Beispiele erfolgreicher Schwellenländer sind ausgerechnet China und Vietnam, die als Paradigmen für das Gegenteil standen. Auch wenn in beiden Fällen noch vieles zu wünschen übrig lässt (Menschenrechte, Demokratie, Sozial-staat), so geben doch die frühen Schwellenländer wie Taiwan und Südkorea Anlass zur Hoffnung, da deren Bilanz mittlerweile auch auf diesen Feldern positiv ist. Friedrich List hatte ganz sicher recht. Haben auch David Ricardo und Walt W. Rostow nicht so ganz unrecht behalten? Sicher ist jedenfalls, dass der andere Weg á la Pol Pot oder Kim Il-Sung nur in die Katastrophe geführt hat. Damit stellen sich die kardinale Fragen: Gibt es sie überhaupt noch, die Pe-ripherie á la Frank auch ohne Frank? Wird es sie nach weiteren 100 Peripherien noch geben? Auch das sind Fragen des Verständnisses der Begriffe. Die alte Be-grifflichkeit der drei Welten macht keinen Sinn mehr. Sinn macht die neue Drei-Welten-Theorie á la Robert Cooper (2003), die sich allerdings eher am Souveräni-tätsbegriff festmacht. Die neue Erste Welt ist die postmoderne Welt der EU, die den Multilateralismus praktiziert; die neue Zweite Welt ist die moderne Welt der klassischen Nationalstaaten á la USA, China, Russland, Indien, Israel, Brasilien usw., die unbedingt auf ihrer Souveränität nach innen und außen bestehen und sich jede Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbitten; die neue Dritte Welt ist die prämoderne Welt des neuen Mittelalters, der schwachen, zerfallenden und bereits zerfallenen in Afrika südlich der Sahara, in Zentralasien oder im Andenbereich Lateinamerikas. Die klassische Peripherie des frühen Frank hat sich theoretisch und prak-tisch aufgelöst. Nicht durch Herauslösung, sondern durch vertiefte Integration in den Weltmarkt hat sie bei gleichzeitiger protektionistischer Absicherung eine Aufwärtsmobiliät in Gang gesetzt. Der größere und immer noch wachsende Teil der klassischen Peripherie droht zu versinken ins Reich der Schattenwirtschaft, weil es nicht gelungen ist, die Rentenlogik zu überwinden und den Kapitalismus zu etablieren. Auch und gerade der Kapitalismus verlangt stabile Institutionen - Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums und funktionierende Märkte. Wenn der Staat versagt, versagt auch der Kapitalismus. Renten hingegen lassen sich immer erzielen, auch in zerfallenden Staaten. Allerdings - so ganz von der Hand zu weisen ist die Nullsummen-Argumentation von Wallerstein und doch wieder Frank nicht. Der Aufstieg eines Teils der klassischen Peripherie in Ost- und Südost-asien und der Peripherie in Osteuropa wird erkauft durch die Ausbreitung der neuen Peripherie im alten Zentrum. Lohnunterschiede von 1:30 (gegenüber China) oder 1:8 (gegenüber Polen) sind durch noch so viel Senkung der "Lohnnebenkosten" nicht auszugleichen. Wenig qualifizierte Arbeitskräfte werden hierzulande keine Chance mehr haben und können auch nicht zu Computerspezialisten und Entwick-lungsingenieuren umgeschult werden - zumal die auch schon aus Indien und China kommen. Was Not täte, um dem hiesigen Peripherisierungsdruck entgegenzuwirken, wäre ein Stück Dissoziation vom Weltmarkt hierzulande. Die EU nicht als Be-schleuniger der Globalisierung, sondern als Bremser - das würde auch der wach-senden Euroskepsis entgegenwirken. Was bedeutet das für die Peripherie, dafür, die Welt von den Rändern zu den-ken, will sie ihrer Programmatik aus der Nr. 1 treu bleiben? Erstens wieder mehr "harte" Themen (d.h. historisch vermittelte Entwicklungstheorie) und weniger "weiche" Themen (Ethno, Kultur, Gender, usw.). Zweitens - mehr Analyse der Er-folgsgeschichten aus der alten Peripherie, zwar kritisch aber doch unter der Frage, warum Südkorea, Malaysia, Vietnam oder Chile Erfolge aufzuweisen haben und warum die neue Peripherie im alten Zentrum wächst. Also weniger Beiträge über Streiks und Protestbewegungen in Südkorea (wenn schon dann eher aus Deutschland und Frankreich) und mehr über die Frage, warum Ost- und Südostasien zur großen Wachstumsregion der Welt aufgestiegen sind. Genau das ist es, was Frank in seinem letzten Buch umgetrieben hat. Umgekehrt müssen drittens die The-men Staatszerfall und humanitäre Intervention, Warlords und Private Military Companies, Gewaltökonomie und globale Schattenwirtschaft, organisiertes Verbre-chen und globaler Terrorismus und die neue Politisierung der Entwicklungspolitik (Menzel 2005) - also die Wirklichkeit der neuen Peripherie aus dem Schatten ans Licht geholt werden. Dazu gehört auch die Frage, warum der Kapitalismus dort gerade sich nicht hat durchsetzen können, warum eher sozialistische Experimente den Staatszerfall und der neuen Schatten-Peripherie Vorschub geleistet haben, warum das Zentrum durchaus bestehen kann ohne die klassische Peripherie. Wenn man also den Begriff so definiert, dann wird es leider weiter noch 100 Periphe-rien geben, denen dann auch 100 Peripherien gewidmet sein können.

Anmerkungen

1 Vgl. dazu Frank 1998, Blaut 1992, Menzel 2004: Kapitel 4, "Eurozentrismus versus ReOrientierung". 2 1982 noch unisono in Amin u.a. 1982. 3 So wie noch die klassische Argumentation bei Amin 1990.

Literatur

Amin, Samir; Arrighi, Giovanni; Frank, Andre Gunder; Wallerstein, Immanuel (1982): Dynamics of Global Crisis. New York. Amin, Samir (1990): Delinking: Towards a Polycentric World. London (franz. 1985). Blaut, J.M. (Hg.) (1992): 1492: The Debate on Colonialism, Eurocentrism and History. Trenton, N.J. Cooper, Robert (2003): The Breaking of Nations: Order and Chaos in the Twen-ty-first Century. London. Frank, Andre Gunder (1998): ReOrient: Global Economy in the Asian Age. Ber-keley. Jackson, Robert H. (1990): Quasi-States: Souvereignty, International Relati-ons and the Third World. Cambridge. Menzel, Ulrich (2004): Paradoxien der neuen Weltordnung. Frankfurt a.M. Menzel, Ulrich (2005): "Die neue Politisierung der Entwicklungspolitik". In: Hirsch Klaus; Seitz, Klaus (Hg.): Zwischen Sicherheitskalkül, Interesse und Mo-ral. Beiträge zur Ethik der Entwicklungspolitik. Frankfurt a.M., S. 43-60. Minhorst, Norbert (1996): Das "Dritte-Welt"-Bild in den bundesdeutschen Fachperiodika im Zeitraum von 1960-1992. Hamburg. Anschrift des Autors: Ulrich Menzel ulrich.menzel@tu-bs.de

Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her den-ken", Münster 2005, S. 439-443

Bestellung an: info@zeitschrift-peripherie.de