Geburtstagsgruß an einen Dichter

Ja doch, wir kannten Biermann und hingen mit glühenden Ohren am Kassettenrecorder, um den Mitschnitt seines Kölner Konzertes vom 13. November 1976 abzutippen. „Die Drahtharfe“ und anderes waren zwar im Bestand der germanistischen Fachbibliothek unserer Hochschule, aber Biermann stand im „Giftschrank“. Und so wichtig war er uns nun auch wieder nicht.
Wichtiger war uns neben Volker Braun ein anderer, von dem alljährlich ein meist nicht viel mehr als einhundert Seiten umfassendes Bändchen erschien: Günter Kunert. Da der in schönem Wechsel mal im Berliner Aufbau-Verlag, mal in München bei Hanser publizierte, gewann der „Giftschrank“ doch noch eine gewisse Bedeutung für uns. Biermann ließen wir stehen… Kunert hingegen – da war Poesie, da begegneten wir einem wirklichen Dichter, einem Sprachkünstler und Philosophen. Letzterer zumal jenseits dieser billigen Chausseestraßen-Klampfen-Dialektik, die uns schon in den Marxismus-Seminaren ohne Vertonung zum Hals heraus hing.
Günter Kunert lehrte uns, das „kleine Aber“ zu denken und zu sagen: „Sich stemmen gegen den öligen Sog / der Allgemeinheit / die ihr Präfix tarnt …“ – „Jedesmal schlägt das Herz / viel zu schnell. Nur Pflichten / machen nicht glücklich. Der Abend ist leer / und die Gespräche wie er.“ Das brachte uns Probleme. Wir wurden zu einem zusätzlichen Marxismus-Seminar verdonnert.
In Kunerts Versen brachen sich auch unsere Alltagserfahrungen: „Alle zehn Jahre ein Blick / in die Zeitung reicht aus / Schleichendes Verhängnis: Schon / reden sie wieder von ihren Idealen“ („Regloser Augenblick“ – das war nur bei Hanser zu lesen). In den Prosastücken der „Geheimen Bibliothek“ fanden wir heraus, dass auch dieser Dichter dieselben Wege gegangen sein musste, die wir tagtäglich liefen: „Herder emigriert aus dem Land, das die Musen meiden, als herrsche darinnen die Pestilenz, und das trifft ja auch zu: nämlich die des selbstherrlichen deutschen Wesens, an dem keine Welt genesen, sondern bloß krepieren konnte, weil sein innigster Inhalt übermenschliche Angst vor allem Wandel gewesen ist.“ („Spaziergang durch Sanssouci“)
Die Sehnsucht nach Wandel, nach Anderssein, dem großen Anderswerden: Uns trieb das merkwürdigerweise  zu Johannes R. Becher. Dumm kann das nur Leuten erscheinen, die den Roman „Abschied“ nicht kennen und den großen poetologischen Wurf der „Bemühungen“. Im „Tagebuch 1950“ stießen wir dann wieder auf – Günter Kunert! Auch der ging am Anfang seines Dichtens und Denkens zum Becher, um prompt von diesem an Brecht weitergereicht zu werden… Vielleicht kommt daher der blöde Spruch von dem, der „zum Becher geht, bis dass er brecht“. Kunert nahm den Becher ernst. Ob er ihn mochte, weiß ich nicht. Für Egon Günther schrieb er 1968 das Drehbuch zur Verfilmung von „Abschied“ (großartig besetzt mit Jan Spitzer, Rolf Ludwig und Heidemarie Wenzel). Walter Ulbricht sorgte dafür, dass auch dieser Film in der Versenkung verschwand. Ulbricht muss begriffen haben, dass der Streifen uns anzugehen schien.
Dasselbe gilt für die großartige Schlußsequenz von „Beethoven – Tage aus seinem Leben“ (1976), den Günter Kunert für Horst Seemann schrieb: Beethoven (Donatas Banionis), der ja häufig umzog, zerrt seinen mit Möbelkram bepackten Handwagen vor dem Kino „International“ in Richtung Westen. Die Windrichtung mag Zufall sein, wir sahen das so.
Drei Jahre später zog Kunert in dieselbe Richtung: mit Frau Marianne, sieben Katzen („Ein Leben ohne Katze ist eigentlich kein Leben.“) und einem Langzeitvisum wie sein Beethoven Heimat suchend „Unter dem blanken Grün / des Katzenblickes / … / ein Land aus Güte und Geduld“ – ausgerechnet nach Kaisbostel in ein altes Dorfschulhaus.
Der Mann, der uns mit wunderbaren Reisetagebüchern („Der andere Planet. Ansichten von Amerika“, „Ein englisches Tagebuch“) die Neugier auf andere Länder lehrte, auf die wir gar nicht neugierig sein sollten, in einem solchen Kaff, für dessen Finden man schon eine sehr genaue Karte (die nun wiederum nur in den „Giftschränken“ lag) brauchte? „Wie keine mein ist diese: / Stadt“ – das meint doch nicht Itzehoe, das meint doch Berlin! Und immer wieder Berlin: „Erinnern und Schreiben, das ist identisch.“
Michael Krüger, sein Münchener Verleger, hat eine Erklärung: „Die Stadt ist natürlich das beste Überwachungssystem. Auf diesem Land, da wo er jetzt wohnt, muss der Feind schon unterirdisch angreifen, denn wenn er übers Feld kommt – ganz egal ob von Norden, Süden, Westen oder Osten – wird er schon von weitem gesehen und Kunert kann sein Luftgewehr in Anschlag bringen und die Warnschüsse abgeben. Der Feind hat’s bei ihm jetzt schwerer.”
Kunerts Umzug in den Norden bedeutete mitnichten dichterischen Stillstand. „Es sind ein paar Federn geblieben / nach seinem tiefen Sturz. / Höhenflüge dauern eben kurz / und werden zur Warnung beschrieben / gegen Übermütigkeiten.“ („Ikarus“) – Weit über einhundert Bücher entstanden seitdem, dazu Hörspiele, Features und Skripte für den Film. Und ein beeindruckendes bildkünstlerisches Werk, das Kunert vor einiger Zeit dem Wilhelm-Busch-Museum in Hannover übergab.
Schreiben als Manie? Nein: „Schreiben: weil Schreiben nichts Endgültiges konstituiert, sondern nur Impulse gibt; weil es ein unaufhörlicher Anfang ist, ein immer neues erstes Mal, wie Beischlaf oder Schmerz. Solange man schreibt, ist der Untergang gebannt, findet Vergänglichkeit nicht statt, darum schreibe ich: um die Welt, die pausenlos in Nichts zerfällt, zu ertragen.“ Das macht man nicht nur Freunde. In seinem jüngsten Buch, einer Sammlung von Texten aus den Jahren 1999 bis 2011, die unter dem Titel „Tröstliche Katastrophen“ 2013 bei Hanser erschienen, nehme „die sorgsame Auffädelung einer realgeschichtlichen Scheußlichkeit an der anderen einen zeitweilig nachgerade triumphalen Charakter an. Verbunden mit der unübersehbaren Eitelkeit des Schreibenden ergibt sich daraus eine auf die Dauer schwer bekömmliche Mischung.“ Das hätten wir auch in den 1970er Jahren in einer Potsdamer Tages-Postille über Kunert lesen können. 2013 urteilte aber die Süddeutschen Zeitung so in des verwendeten Verbums bösester Bedeutung. Christoph Klimke hingegen blieb es in der Welt vorbehalten festzustellen, dass die „Tröstlichen Katastrophen“ das Zuhausesein des Dichters in Vernunft und Erkenntnis belegten und dieser sich per Literatur den Katastrophen widersetze. „In ihr finden Dichter und Leser Trost.“ Und Ermutigung zum „kleinen Aber“, das große Welten umstürzen kann, möchte ich hinzufügen.
Und Berlin? Was ist mit Berlin? „Na, ich werde nicht in Berlin enden, ich werde in Berlin meine letzte verdiente Ruhe finden. Ich habe das alles schon bezahlt: mein Grab, mein Grabstein, alles sehr teuer!“ Diese Mitteilung ließ Kunert im November 2012 im neuen deutschland abdrucken.
Am 6. März wird der Dichter 85. Wir gratulieren von Herzen und meinen, der Jüdische Friedhof in Weißensee – eben da will er bestattet werden; Günter Kunert ist das Kind einer jüdischen Mutter und die Nazis wollten ihm durchaus ans Leben, auch das sollte man wissen – kann getrost noch ein paar Jahre warten.