Friedrich Engels: Die auswärtige Politik des russischen Zarentums

Wir, die westeuropäische Arbeiterpartei, haben ein doppeltes Interesse am Sieg der russischen revolutionären Partei.

Einmal, weil das russische Zarenreich die große Hauptfestung, Reservestellung und Reservearmee zugleich der europäischen Reaktion bildet, weil seine bloße passive Existenz bereits eine Drohung und Gefahr für uns ist.

Zweitens aber – und dieser Punkt ist von unserer Seite noch immer nicht genug hervorgehoben –, weil es durch seine unaufhörliche Einmischung in die Angelegenheiten des Westens unsere normale Entwicklung hemmt und stört, und zwar mit dem Zweck, sich geographische Positionen zu erobern, die ihm die Herrschaft über Europa sichern und damit den Sieg des europäischen Proletariats unmöglich machen würden.

Es ist das Verdienst von Karl Marx, zuerst und wiederholt seit 1848 betont zu haben, daß die westeuropäische Arbeiterpartei aus diesem letzten Grunde genötigt sei, mit dem russischen Zarentum einen Krieg auf Leben und Tod zu führen. Wenn ich in demselben Sinn auftrete, bin ich auch hier nur der Fortsetzer meines verstorbenen Freundes, hole nach, was ihm zu tun nicht vergönnt war.

Auch unter den russischen Revolutionären herrscht manchmal noch eine relativ große Unbekanntschaft mit dieser Seite der russischen Geschichte. Einerseits, weil in Rußland selbst darüber nur die offizielle Legende geduldet wird; anderseits bei manchen, weil man die Zarenregierung zu sehr verachtet, sie unfähig hält, irgend etwas Rationelles zu tun, unfähig teils aus Beschränktheit, teils aus Korruption. Für die innere Politik ist dies ja auch richtig; hier liegt die Impotenz des Zarentums offen zutage. Man muß aber nicht nur die Schwächen, sondern auch die Stärken des Gegners kennen. Und die auswärtige Politik ist unbedingt die Seite, wo das Zarentum stark, sehr stark ist. Die russische Diplomatie bildet gewissermaßen einen modernen Jesuitenorden, mächtig genug, im Notfall selbst zarische Launen zu überwinden und der Korruption in seinem eigenen Innern Herr zu werden, um sie desto reichlicher nach außen auszustreuen; einen Jesuitenorden, rekrutiert ursprünglich und vorzugsweise aus Fremden, Korsen wie Pozzo di Borgo, Deutschen wie Nesselrode, Ostseedeutschen wie Lieven, wie seine Stifterin Katharina II. eine Fremde war.

Der altrussische hohe Adel hatte noch zu viele weltliche Privat- und Familieninteressen, er besaß nicht die unbedingte Zuverlässigkeit, die der Dienst dieses neuen Ordens beanspruchte. Und da man ihm nicht die persönliche Besitzlosigkeit und das Zölibat der katholischen Jesuitenpriester auflegen konnte, begnügte man sich damit, ihm zunächst nur sekundäre und Repräsentationsposten, Gesandtschaften usw. anzuvertrauen und so allmählich eine Schule einheimischer Diplomaten heranzubilden. Bis jetzt hat nur ein Vollblutrusse, Gortschakow, die höchste Stelle in diesem Orden bekleidet, und sein Nachfolger, von Giers, trägt wieder fremden Namen.

Es ist diese ursprünglich aus fremden Abenteurern rekrutierte geheime Gesellschaft, die das Russische Reich auf seine gegenwärtige Machtfülle gehoben hat. Mit eiserner Ausdauer, unverrückt den Blick aufs Ziel geheftet, vor keinem Treubruch, keinem Verrat, keinem Meuchelmord, keiner Kriecherei zurückschreckend, Bestechungsgelder mit vollen Händen austeilend, durch keinen Sieg übermütig, durch keine Niederlage verzagt gemacht, über die Leichen von Millionen Soldaten und wenigstens eines Zaren hinweg, hat diese ebenso gewissenlose wie talentvolle Bande mehr als alle russischen Armeen dazu beigetragen, die Grenzen Rußlands vom Dnepr und der Dwina bis über die Weichsel, bis an den Pruth, die Donau und das Schwarze Meer, vom Don und der Wolga bis über den Kaukasus und zu den Quellgebieten des Oxus und Jaxartes vorzuschieben, Rußland groß, gewaltig, gefürchtet zu machen und ihm den Weg zur Weltherrschaft zu eröffnen. Dadurch aber hat sie auch die Zarenmacht nach innen gestärkt. Für das vulgär-patriotische Publikum wiegt der Siegesruhm, die einander folgenden Eroberungen, die Macht und der Glanz des Zarentums alle seine Sünden, allen Despotismus, alle Ungerechtigkeit und Willkür reichlich auf; die Großprahlerei des Chauvinismus entschädigt reichlich für alle Fußtritte. Und zwar um so mehr, je weniger in Rußland die wirklichen Ursachen und Einzelheiten dieser Erfolge bekannt und durch eine offizielle Legende ersetzt sind, wie wohlwollende Regierungen solche überall (z.B. in Frankreich und Preußen) zum Besten der Untertanen und zur Beförderung des Patriotismus erfinden. Welcher Russe also Chauvinist ist, der wird auch früher oder später auf die Knie fallen vor dem Zarentum, wie wir das erlebt haben bei Tichomirow.

Wie aber konnte eine solche Abenteurerbande dahin kommen, einen so gewaltigen Einfluß auf die europäische Geschichte zu erobern? Sehr einfach. Sie haben nicht etwas Neues aus Nichts geschaffen, sie haben nur eine vorhandene tatsächliche Situation richtig ausgebeutet. Die russische Diplomatie hat für alle ihre Erfolge eine sehr handgreifliche materielle Unterlage.

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Der Text ist ein Auszug aus dem 1. Teil des gleichnamigen Aufsatzes von Friedrich Engels. Engels qualifiziert am Schluss dieses Abschnittes „die russische Diplomatie“ noch einmal als modernes Jesuitentum, das wie sein historisches Vorbild „die unaufhörlich wechselnden Ziele der konkurrierenden Großmächte als Mittel benutzt zur Erreichung seines einen, nie wechselnden, nie aus den Augen verlorenen Ziels: der Weltherrschaft Rußlands“. Der Aufsatz erschien erstmals im Mai 1890 in Die Neue Zeit. Angesichts der gegenwärtigen russischen Politik, die sich in Gestalt Präsident Putins und seiner Kamarilla auf die historischen Traditionen der Politik der Zaren des 19. Jahrhunderts beruft und auf die Praktiken Peters I. und Katharinas II. zurückgreift, scheint es mir nützlich, etwas genauer auf die „langen Wellen“ dieser Politik und deren Analyse durch die zeitgenössische Linke zu sehen. Dass Wladimir Putin immer wieder das Phantom der „russkij mir“ beschwört – seine Verteidiger interpretieren das gelegentlich als „russische Sicherheitsinteressen“ – ändert an seiner tatsächlich globalen Politiksicht ebensowenig wie die permanenten Beschwörungen der „Heiligen Rus“ durch den Moskauer Patriarchen Kyrill I. Ein Priester mit geschätzten vier Milliarden US-$ Privatvermögen wie das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche gehört analytisch betrachtet auch eher in die Riege der Oligarchen denn in die der Heiligen. Angesichts der handfesten – nicht zuletzt materiellen – gemeinsamen Interessenlagen scheint es zudem müßig zu philosophieren, ob denn nun die Kirche ein Instrument des Präsidenten oder der ein Handlanger der Orthodoxie sei. Das von fast allen mit Bildern arbeitenden westlichen Medien verbreitete Foto des einsamen Präsidenten vor der Ikonostase der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Moskauer Kreml – des seit Iwan Grosny als „Hauskirche“ der russischen Zaren genutzten Gotteshauses – arbeitet schon sehr bewusst mit Anspielungen an die im europäischen Bewusstsein verankerten Bilder Zar Iwans. Putins Propagandadramaturgen spielen damit wahrscheinlich sowohl auf den rabiaten Expansionsdrang des ersten russischen Zaren als auch auf dessen brutalen Umgang mit der inneren Opposition an. Gern übersehen wird, dass der Rurikide ein zwar vergrößertes, aber extrem geschwächtes Reich hinterließ, das von schweren inneren Krisen geschüttelt war. Den 1558 eroberten Ostsee-Zugang hatte Iwan Grosny 1583 wieder verloren.