An Europas Grenzen:

Syrische Flüchtlinge gestrandet, entrechtet und im Stich gelassen

Über 70.000 Tote, mehr als zwei Millionen Binnenvertriebene, über 1,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien in den Nachbarstaaten Türkei, Jordanien, Libanon und Irak. Aber die Nachbarregion Europa verharrt weitgehend tatenlos.

 

Selbstverständlich wird humanitäre Hilfe vor Ort geleistet. Ansonsten intonieren die EU- Innenminister den Evergreen der europäischen Flüchtlingsabwehr: die heimatnahe Unterbringung der Schutzsuchenden in der Herkunftsregion.

Die deutschen Regierungsmit­glieder, die die jeweiligen Flüchtlingslager in Jordanien, in der Türkei besuchen, appellieren dann an diese Hauptauf­nahmeländer: Haltet Eure Grenze offen.

Aber Europa macht dicht. Ledig­lich 28.265 Schutzsuchende aus dem Bürgerkriegsland schafften es in den letzten beiden Jahren in die Europäische Union zu gelangen. Immer mehr sterben an der EU-Außengren­ze. Erreichen sie europäisches Territorium, werden sie wie alle anderen Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen in Griechenland und Bulgarien inhaftiert. 8.000 syrische Flüchtlinge wurden allein 2012 in Griechenland inhaftiert.

Auf der Insel Lesbos organisieren Flüchtlingsinitiativen Essen, Decken, Kleidung, Schuhe für die dort gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien. Es fehlt an allem. Mit dem bescheidenen Angebot des Bundesin­nenministers vom 20. März 2013, 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, ist wahrlich kein flüchtlingspolitischer Frühling ausgebrochen, aber die deutsche und europäische Debatte  akzentuiert sich neu.

 

Berlin macht Druck - Europa macht dicht:

Griechenlands Grenze sei „offen wie ein Scheunentor“, hatte Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner im Frühjahr 2012 gewettert. Ihr deutscher Amtskollege Hans-Peter Friedrich drohte Griechenland mit der Wiedereinführung in­nereuropäischer Grenzkontrol­len, sollten weiterhin Flüchtlinge über Griechenland in die EU gelangen. Der Druck, den Deutschland, Österreich und andere EU-Staaten auf Griechenland ausüben, zeigte Wirkung:

Die griechische Regierung entsandte 1800 zusätzliche Polizeikräfte an die griechisch-türkische Landgrenze. In Zusammenarbeit mit der europäischen Grenzagentur Frontex, wurde die Grenze abgeriegelt. Neue Haftlager für Flüchtlinge wurden errichtet - alle vollfinanziert von der EU.

Die Haftdauer wurde erhöht. Ein 10,4 Kilometer langer Sperrzaun wurde im Dezember 2012 fertig gestellt. Dies ist übrigens der einzige Beitrag bei der Flüchtlingsabwehr, an dem sich die EU nicht finanziell beteiligte.

Im Landesinnern wurde die Hatz auf Flüchtlinge eröffnet.

Bei der Operation „Xenios Zeus“ wurden allein zwischen Anfang August und Ende 2012 bei landesweiten Polizeirazzien 90.000 Flüchtlinge und Migran­tInnen kurzfristig festgenommen, 4849 landeten in Abschiebehaft. Zeitgleich eskalierte die rassistische Gewalt in Athen und anderen Städten Griechenlands.

Frontex wertet diese massive Aufrüstung an der türkisch-griechischen Landgrenze als Erfolg: Bereits in der ersten Wo­che der sogenannten Operation „Xenios Zeus“ im August 2012 seien die Grenzübertritte dort von 2000 auf 200 pro Woche gesunken.

Kamen in den ersten acht Monaten des Jahres noch knapp 30.000 Flüchtlinge über die Landgrenze, war dieser Grenzabschnitt ab September 2012 nahezu dicht. Das, was Frontex als Erfolg preist, ist in Wahrheit der Ausverkauf von Menschenrechten: Grenze schließen, Inhaftieren, Polizeiwillkür und den Rest erledigen die Schlägertrupps der faschistischen „Goldenen Morgenröte“.

Tod und Zurückweisungen in der Ägäis 

Die Folge der Abschottung der griechisch-türkischen Landgrenze waren absehbar: Flüchtlinge aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Somalia und zunehmend aus Syrien versuchen seitdem über das Meer auf die griechische Inseln zu fliehen.

Von August bis Dezember 2012 griff die griechische Küstenwa­che über 1.500 Bootflüchtlinge auf,  doch allein in den letzten Monaten starben über 150 Flüchtlinge beim Versuch, das rettende Ufer zu erreichen.

 

Schlaglichter dieser tödlichen Abschottungspolitik:

Am 13. März überlebte ein syrischer Flüchtling die Überfahrt auf die Insel Chios, neun Menschen starben.

Am 11. März 2013 ging ein Boot mit Flüchtlingen unter - auf Lesbos wurden Leichen von Männern, Frauen und Kindern angespült, 12 Flüchtlinge sind vermisst.

Am 13. Januar 2013 wurden auf Chios die Leichen von drei Flüchtlingen angespült.

Am 15. Dezember 2012 kenterte ein Flüchtlingsboot vor Lesbos - 28 Menschen ertranken.

Am 6. September 2012 starben 63 Menschen vor Izmir beim Versuch, nach Griechenland zu gelangen - mehr als die Hälfte von ihnen waren Kinder. 

Nach Angaben des griechisch - türkischen Netzwerkes Kayiki kommt es immer wieder zu illegalen Push-Back-Operationen auf See, bei denen die meist überfüllten Schlauchboote in türkische Gewässer zurückgetrieben werden. „Diese Operationen werden in Zusammenarbeit mit der Armee, mit Frontex und der Küstenwache durchgeführt,“ so Kayiki am 18.Januar 2013. Das Risiko, dass die kleinen Flüchtlingsboote bei diesen menschenverachtenden Aktionen in Seenot geraten, werde dabei bewusst in Kauf genommen.

 

Die Kommissarin ist betroffen - Frontex hält die Menschenrechte hoch:

Komotini/Oktober 2012: Die zu­ständige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmstroem besucht das griechische Flüchtlingshaftlager Komotini. Betroffen wie alle BesucherInnen in diesen Elendslagern steht sie am Stacheldraht und spricht mit den inhaftierten Flüchtlingen aus Syrien. Sie ist sichtlich bewegt und spricht von dem traurigen Schicksal der aus dem Bürgerkrieg Entflohenen.

Malmstroem sagt dann noch, es sei immer noch schwierig mit dem Flüchtlingsschutz in Griechenland, aber es tue sich etwas. Die europäische Grenzagentur Frontex sei da, Europa liefert Expertise und Technologie. Die Haftbedingungen würden an manchen Stellen besser - mit Hilfe von EU-Geldern. Und dann geht es weiter an die griechisch-türkische Landgrenze zu Frontex.

Dass es menschenrechtlich nicht hinnehmbar ist, dass Schutzsuchende einfach weggesperrt werden, zu diesem fortwährenden Skandal, gab es von EU-Innenkommissarin kein Statement. Für die tausen­den inhaftierten Flüchtlinge in Griechenland, die mittlerweile nach der Einreise bis zu 12 Mo­nate inhaftiert werden können, nützt dieser hochkarätige europäische Betroffenheitstouris­mus nichts. Sie wollen nur frei gelassen werden und weg aus Griechenland - aber das ist nicht im europäischen Angebot.

 

Warschau/Oktober 2012:

Eine deutsch-polnische Delegation besucht das Frontex-Hauptquartier in Warschau.

Die Frontex-Gesprächspartner sind stolz wie Bolle, dass die umstrittene Agentur jetzt eine sogenannte Grundrechtsstra­tegie besitzt. Im Haus gibt es jetzt sogar eine Menschen­rechtsbeauftragte. Außerdem berät nun ein sogenanntes Konsultatives Forum, in dem „die besten Köpfe aus dem Flüchtlings- und Menschen­rechtsbereich“ in Europa sitzen, die Agentur.

Der Delegation wird noch eine Langfassung und ein Quick Guide eines Verhaltenscodex überreicht. Darin wird den Frontex-Beamten noch einmal klar macht, was die Dos und Donts sind im Grenzeinsatz: Respekt, Würde, keine Diskriminierung - und selbstverständlich keine Drogen, keine Bestechung, keine sexuelle Belästigung.

Kurzum: Frontex ist mit sich und den Menschenrechten im Reinen.

Auf Fragen aus der Runde, was passieren wird, wenn Frontex im Einsatz in der griechischen Ägäis  feststellt, dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommt, wird geantwortet, dass die neue Frontex-Verordnung vorsieht, dass der Chef der Agentur den Einsatz beenden kann. Verwiesen wurden von der Besucherdelegation auf die nicht vorhandenen Aufnahmezentren, beispielsweise auf der Insel Lesbos. Der zuständige Mann bei Frontex für diese Operationen, bekannte, dass ihm diese Problematik bewusst sei. Ihm sei aber von den griechischen Behörden versichert worden, dass eine neue Unterkunft bereits in Betrieb sei.

 

Chios/Lesbos im Februar und März 2013:

Bis heute gibt es kein Aufnah­mezentrum auf Lesbos. Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan und Somalia werden in den verschieden Polizeistationen auf der Insel inhaftiert - unter absolut unmenschlichen Bedingungen. Flüchtlinge leben ansonsten mittel- und obdachlos in den öffentlichen Parks.

Flüchtlingsinitiativen in Mitilini versuchen sie mit dem nötigsten zu versorgen: Essen, warme Decken, basismedizinische Versorgung. Alles wird benötigt. Die meisten Bootflücht­linge haben nicht mal Schuhe.

Am 24. Februar 2013 kamen auf Chios, einer der Nachbarinseln, 51 Flüchtlinge aus Syrien an. Lathra, die lokale Flüchtlingsinitiative berichtet, dass die Gruppe, darunter zehn Kinder, über Tage in einer 35 qm großen Holzbaracke im Hafen festgehalten wurde. Am 6. März wa­ren mehr als 60 Flüchtlinge - in der Mehrheit aus Syrien - in dieser Baracke zusammen gepfercht.

 

Wo ist Europa?

Europa rüstet auf, investiert gigantische Summen in die Abwehr und in neue Haftanstalten. Zeitgleich laufen Schutzsuchende, die auf der Flucht alles verloren haben, barfuß durch Mitilini. Sie hungern und frieren. Dies ist Ausdruck einer heuchlerischen, desaströsen Flüchtlingspolitik. Flüchtlingsfamilien bitten dort um ihre Inhaftierung, um sich und ihre Kinder einen Moment vor der kalten Witterung zu schützen.

Verlassen sie irgendwann die Insel, sind sie Freiwild für den rassistischen Mob in Athen und der Gefahr der erneuten Inhaftierung ausgesetzt. Legale Weiterreisemöglichkeiten zu ihren Verwandten in Europa gibt es nicht.

Die immer wiederkehrenden Bekenntnisse aus Berlin und Brüssel, die syrischen Flüchtlinge nicht im Stich zu lassen, klingen dabei wie Hohn.

 

Und Frontex?

Im Situationroom des Hauptquartiers in Warschau ist es warm. Die Einheiten vor Ort ma­chen ihren Job, überwachen die Seegrenze, helfen die Flücht­lingsboote „abzuschrecken“, erfassen die lebend ankommenden Flüchtlinge und überlassen sie dann dem Elend, der Obdachlosigkeit und der unmenschlichen Inhaftierung.

Ist das eine Menschenrechtsverletzung, die den Abbruch rechtfertigt? Frontex-Chef Lai­tinen schweigt, Brüssel schweigt und bis jetzt auch das Konsulativforum.

Momentan gibt es nur einen Hoffnungsschimmer und dass sind die Flüchtlingsinitiativen vor Ort. Sie zeigen Menschlichkeit, Solidarität und kämpfen beispielsweise in Mitilini mit einer selbstorganisierten Unterkunft, um eine menschenwürdige Aufnahme statt Haft.

Ihr Engagement steht für ein anderes Europa. Dieses entsteht nicht, indem wir viele Schnittchen in europäischen Gremien essen, sondern im täglichen Kampf gegen das Sterben an den Grenzen und gegen das Wegsperren von Flüchtlingen. Dazu gehört auch die zentrale Mitverantwortung der Festungsbauer in Berlin und anderswo an diesem fortwährenden Menschenrechtsskan­dal zu benennen - vernehmbar und nachhaltig. Dies sind wir den gestrandeten, den entrechten Flüchtlingen und uns schuldig.

 

Karl Kopp

 

Anmerkung d. GWR-Red.: Karl Kopp ist Sozialwissenschaftler und Europareferent im Frankfurter Zentralbüro von Pro Asyl e.V.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 378, April 2013, www.graswurzel.net