Mehr als Opium

in (25.09.2008)

Sozialisten haben Religion immer als widersprüchliches Phänomen begriffen und entsprechend gehandelt. Ein historischer Abriss von Volkhard Mosler.

Karl Marx war Atheist und Kritiker jeglicher Religion. Einer seiner meistzitierten Aussprüche lautet: „Religion ist das Opium des Volks". Doch er meinte damit nicht nur, dass Religion von oben verordnete „Volksverdummung" sei. Das volle Zitat lautet vielmehr: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks."

Religion kann also das Leid der Menschen ausdrücken. Der bekannte Revolutionär Lenin drückte es ganz ähnlich aus: „Die soziale Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr der entsetzlichsten Leiden und unmenschlichsten Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. - darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion."

Als „Opium des Volks" kann Religion den Massen helfen, dass Leid zu dulden, weil sie auf Besserung im Jenseitigen hoffen. Gleichzeitig kann der Glauben die Menschen im Widerstand gegen Ungerechtigkeit lähmen, indem sie sie veranlasst, den Trost in einer anderen Welt zu suchen und nicht das Hier und Jetzt zu ändern.

Die vielen Gesichter der Religion

Unter bestimmten Umständen aber kann sich in Religion auch das Streben nach radikaler Veränderung ausdrücken. Zudem sind religiöse Ideen höchst anpassungsfähig an gesellschaftliche Entwicklungen. Marx formulierte es so: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen". So war die christliche Religion in ihren ersten drei Jahrhunderten eine revolutionäre Kraft zur Befreiung von Sklaverei, dann war sie als katholische Staatskirche bis ins späte Mittelalter eine reaktionäre Ideologie der besitzenden Feudalklasse, um dann als Protestantismus und Calvinismus als Ausdruck der frühbürgerlichen Befreiungsbewegung erneut revolutionäre Sprengkraft zu entfalten.

Gerade weil Religion ebenso oft Motor des gesellschaftlichen Fortschritts war wie Hemmschuh im Sinne der jeweils herrschenden Klassen, ist es erforderlich nicht von „der Kirche" oder „der Religion" zu sprechen, sondern jeweils genau zu analysieren, welche gesellschaftlichen Kräfte sich dahinter verbergen. Der Katholizismus der IRA in Irland erfüllt eine andere gesellschaftliche Funktion als der Katholizismus im faschistischen Spanien unter General Franco. Einmal ist er begrenzt antiimperialistisch und fortschrittlich, das andere Mal ist er Ausdruck faschistischer und imperialistischer Herrschaft. Auch heute gibt es neben einer konservativen christlichen Partei wie der CDU einen Hugo Chavez, der sich auf die südamerikanische Befreiungstheologie beruft und zugleich den Papst verehrt.

Bebel und Bismarcks Kulturkampf

Ein Beispiel, was diese Analyse der Religion als widersprüchliches Phänomen für die praktische Politik bedeuten kann, stellt die Haltung des Sozialdemokraten August Bebel zu Bismarcks „Kulturkampf" gegen den Katholizismus dar.

Der Begriff Kulturkampf kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Er wurde für den weltanschaulichen und politischen Konflikt zwischen der Katholischen Kirche und dem antiklerikalen Liberalismus, der für die Trennung von Staat und Kirche in der Tradition der Aufklärung stritt, verwendet.

Der konservative Reichskanzler Otto von Bismarck sah durch den Katholizismus die Vormachtstellung des protestantischen Preußens im neu gegründeten Deutschen Reich gefährdet. Er verdächtigte die katholische Kirche und die katholische Zentrumspartei sogar staatsgefährdender Umtriebe: „Das Zentrum steigert die vom Kommunismus der Gesellschaft drohenden Gefahren", schrieb er 1871.

Die stärkste politische Kraft im neuen Reich war damals die Liberale Partei, die noch zehn Jahre zuvor fast eine demokratische Revolution gegen die preußische Monarchie unter Bismarcks Führung gewagt hatten. Bismarck nutzte den Konflikt zwischen Liberalismus und Katholizismus für seine politischen Zwecke, die Stärkung einer autoritären preußischen Monarchie mit halbfeudalen, vorbürgerlichen Zügen.

Den Auslöser des Kampfes bildeten das 1870 erlassene Unfehlbarkeitsdogma des Papstes und die Gründung der katholischen Zentrumspartei in Preußen. Der Papst versuche - so die liberalen Kritiker - mit diesem Dogma auch in Deutschland seinen politischen Einfluss mittels der Kirche durchsetzen. Bismarck erließ daraufhin den so genannten Kanzelparagraphen, der es katholischen Priestern verbot, sich von der Kanzel zu politisch-gesellschaftlichen Themen zu äußern. 1872 erfolgte das Verbot des Jesuitenordens, der als Speerspitze der Gegenaufklärung in Europa galt. Hunderte von Priestern und Bischöfen verloren ihre Stellen. Sehr viele Priester wurden von ihrem Wohnort verbannt.

Im gleichen Jahr wurde ein Schulaufsichtsgesetz erlassen, das alle Schulen, auch die konfessionellen, unter Staatsaufsicht stellte. 1874/75 setzte Bismarck die Zivilehe durch, was eine standesamtliche Funktion des Staates zur Folge hatte. So erschien Bismarck im Lichte eines Vorkämpfers von Freiheit und Aufklärung gegen eine Rückkehr ins katholische Mittelalter. Unter dem Mantel des Aufklärers gelang es ihm so, seine polizeistaatliche Macht zu etablieren und dafür die Zustimmung der Liberalen zu erhalten.

August Bebel war der einzige Abgeordnete des linken, demokratischen Flügels, der dieses Spiel durchschaute und im Reichstag dagegen seine Stimme erhob: „Meine Herren, dem Staat ist es vollkommen gleichgültig, ob der Papst unfehlbar ist oder nicht, ihm ist es auch vollkommen gleichgültig, ob die Jesuiten gegen die Moral verstoßen (...), der Staat hat allezeit verflucht wenig nach der Moral gefragt (...). Was den Herrn Reichkanzler reizt, ist, dass er von der katholischen Seite in politischen Dingen nicht für unfehlbar angesehen wird (...)."
Bebel stimme deshalb gegen das Verbot des Jesuitenordens. Den liberalen Aufklärern rief er zu, sich mit der Zustimmung zu solchen Maulkorbgesetzen gegen die Kirche zum „Polizeibüttel" zu machen.
Friedrich Engels warnte damals ebenfalls wiederholt vor einem falschen, bürgerlichen Atheismus und Antiklerikalismus und sprach sich dagegen aus, diesen ins Parteiprogramm der Sozialisten zu schreiben. Und so standen im Erfurter Programm der SPD von 1891 ganz im Sinne dieser Erfahrungen nur drei dürre Worte über den Glauben: „Religion ist Privatsache".

Die Bolschewiki und die Religion

Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit Religion lieferten die russischen Bolschewiki. Schon vor der Oktoberrevolution 1917 war ihr Parteiprogramm zwar klar atheistisch ausgerichtet, Atheismus galt aber niemals als Voraussetzung für die Parteimitgliedschaft. Vielmehr war für sie Religion Privatsache eines jeden Bürgers. Im Jahr 1905 hielt Lenin eine Schmährede gegen diejenigen, die den Atheismus in das Parteiprogramm aufnehmen wollten. Dort betonte er: „Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird."

Lenin war sich darüber im Klaren, dass es politischem Selbstmord gleichkommen würde, darauf zu pochen, dass Arbeiter vor dem Eintritt in eine revolutionäre Partei ihre religiösen Ideen aufgeben. Im Gegenteil forderte er, Gläubige „zielstrebig" für die Partei zu gewinnen: „(...) wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Überzeugungen", schrieb er 1909.

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 zur Macht kamen, erklärten sie den Sowjetstaat für nichtreligiös, aber nicht für antireligiös. Im Dezember wurde die russisch-orthodoxe Kirche entmachtet und verlor ihre Eigentumsrechte. Geburtsregister, Heirat, Scheidung und Bildung wurden zu nichtreligiösen Aufgaben des Staats erklärt. Kirchen wurden umgewandelt in Schulen, Wohngebäude, Klubs und so weiter.

Gleichzeitig hatten religiöse Gruppierungen das Recht, bei den zentralen und örtlichen Beamten Eingaben für die Nutzung eines beliebigen Gebäudes als Gebetshaus zu machen. Auch die Schulen waren säkular, aber nicht antireligiös.

Islam und die russische Revolution

Muslime hatten unter dem russischen Imperialismus schwer gelitten. Die Wut darüber entbrannte im Ersten Weltkrieg. Im Sommer 1916 kam es zu einem Massenaufstand gegen die Einführung der Wehrpflicht in Mittelasien, bei dem 2500 russische Kolonialisten ihr Leben verloren. Dem Aufstand folgte die blutige Unterdrückung: Die Russen metzelten rund 83.000 Menschen nieder. Die Krise des Zarismus radikalisierte deshalb im Jahr 1917 Millionen Muslime, die Religionsfreiheit und Nationalrechte einforderten - die ihnen von der neuen revolutionären Regierung der Bolschewiki auch gewährt wurden.

Das Ziel der bolschewistischen Politik bestand darin, so weit wie möglich Wiedergutmachung für die Verbrechen des Zarismus an nationalen Minderheiten und ihren Religionen zu leisten. Dabei ging es nicht nur um eine Frage einfacher Gerechtigkeit und grundlegender Demokratie, sondern auch darum, dass auf diese Weise die Klassenunterschiede innerhalb religiöser und nationaler Gruppen in den Vordergrund rücken konnten. Nationale Autonomie und Unabhängigkeit von Russland wurden so zu einem entscheidenden Bestandteil sowjetischer Politik. In einer Erklärung der jungen Sowjetregierung „an alle werktätigen Mohammedaner Russlands und des Ostens" vom 24. November 1917 hieß es: „Muslime Russlands (...) ihr, deren Moscheen und Gebetshäuser von den Zaren und Unterdrückern Russlands verwüstet wurden, deren Überzeugungen und Sitten mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Sitten, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und unantastbar. Wisset, dass eure Rechte wie die aller Völker Russlands unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen."

Ein umfangreiches Programm mit dem Titel „korenisatsia" oder „Indigenisierung" wurde aufgelegt, das heute als „positive Diskriminierung" bezeichnet würde. Als Erstes wurden die russischen und kosakischen Kolonisten und ihre Ideologen in der russisch-orthodoxen Kirche kaltgestellt. Die Vorrangstellung der russischen Sprache wurde aufgehoben, und in den Schulen, Verlagen und staatlichen Einrichtungen durften wieder Regionalsprachen gesprochen und geschrieben werden. Einheimische nahmen führende Positionen im Staat und den kommunistischen Parteien ein und wurden bei Stellenbesetzungen vor Russen bevorzugt. Universitäten wurden eingerichtet, um eine neue Generation nichtrussischer Akademiker auszubilden. Viele muslimischen Führer unterstützten bedingt den Arbeiterstaat - vor allem weil sie davon überzeugt waren, dass ihnen die Sowjetmacht am ehesten Religionsfreiheit gewähren würde.

Stalins Angriff auf den Islam

Wie andere Errungenschaften der russischen Revolution auch wurde die Religionsfreiheit mit dem Aufstieg des Stalinismus ab Mitte der 1920er Jahre zurückgedrängt. In dem Bemühen, Macht zu bündeln und die staatliche Kontrolle zu stärken, entdeckte die wachsende stalinistische Bürokratie, dass der russische Nationalismus bei Betonung der Kontinuität zwischen Stalinismus und den Zaren ein mächtiges Werkzeug sein konnte, die Arbeiter der größten nationalen Gruppierung - sprich: der russischen - an das Regime zu binden. Deshalb griff Stalin immer häufiger „nationalistische Abweichungen" in den nichtrussischen Republiken an und förderte die Wiedergeburt des russischen Chauvinismus.

In diesem Kontext griffen die Stalinisten den Islam frontal an. Unter dem Vorwand des Kampfs gegen „Kriminalität auf Grund überkommener Sitten" stellten sie „Frauenrechte" in den Mittelpunkt ihrer Kampagne, und in Usbekistan und Aserbaidschan vor allem das Schleiergebot. Die Parole lautete „Hudschum", was in den Sprachen Mittelasiens so viel wie „Angriff" oder „Sturm" hieß. Nach zwei Jahren weitgehend unwirksamer Propaganda trat der „Hudschum" am 8. März 1927, dem Internationalen Frauentag, in seine Massenaktionsphase. Auf Großveranstaltungen wurden Frauen aufgefordert, den Schleier abzulegen: Kleine Gruppen einheimischer Frauen sollten zur Bühne gehen und ihre Schleier in die Freudenfeuer werfen. Der Autor einer neu erschienenen Geschichte des Hudschums weist darauf hin, dass in den Anfangsjahren der Sowjetmacht den Bolschewiki nicht im Traum der Gedanke gekommen wäre, Muslimfrauen zur Ablegung ihres Schleiers zu ermutigen - geschweige denn, sie zu zwingen.

A-, nicht anti-religiös
Ein Kommentar von Volkhard Mosler

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass es die Aufgabe von Linken sei, einen besonderen Kampf gegen die Religion zu führen. Marx und Engels waren Gegner eines militanten Antiklerikalismus.

Sie lehnten es ab, der Religion einen besonderen Kampf anzusagen, sie zu verbannen oder gar zu unterdrücken. Vielmehr ging es ihnen darum, die zerrissene Welt zu heilen, die Ursache des Schmerzes zu beseitigen, um so die Einnahme von „Schmerzmitteln" überflüssig zu machen.

Daraus folgt: Sozialisten kämpfen für die vollständige Trennung von Staat und Kirche. Aber nicht die Verfolgung und Unterdrückung von Religion, sondern ihre vollständige Befreiung von jeglicher staatlicher Bevormundung ist das „linke Prinzip" gegenüber der Religion.

Die heutige Linke sollte nicht hinter diese Position zurückfallen - nur so werden wir Muslime für den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus gewinnen.