Geschichte ist, wenn darüber gesprochen wird

Soziale Bewegungen und Archiv

in (05.12.2011)

Das gesellschaftliche Wissen existiert in persönlichen Erinnerungen, aber auch gespeichert in unterschiedlichen Medien, von Texten bis hin zu Filmen und Bildern. Dieses Archiv ist tot, wenn es nicht genutzt, wenn nicht kommuniziert und damit gearbeitet wird. Und es verändert sich durch seine Nutzung. Kann dieses „Archiv“ herrschaftsfrei sein („Anarchiv“)? Das Internet scheint neue Möglichkeiten zu bieten. So viel Information und Kommunikation wie noch nie ist möglich und zugänglich. Aber ungeordnet ist es wertlos und die Ordnung wird nach Interessen geformt. Jedes Archiv ist ein Produkt der herrschenden Gesellschaft, wurde im Sinne der Herrschaft benutzt und ist entsprechend organisiert. Das „Archiv ist ein Hort der Macht, in dem die Spur der Subalternen notwendig entstellt und verzerrt wird.“ (Steyerl 2008, S. 10) Ist es möglich, ein anderes Wissen, ein anderes Archiv zu produzieren? Weil es die neuen Informationsmöglichkeiten des Internet gibt, die in der letzten Zeit als subversiv diskutiert werden. Wikipedia ist wertvoller als traditionelle Wissenssammlung, weil mehr Menschen korrigierend mitarbeiten, ist aber keineswegs hierarchiefrei. Entscheidungen werden von einem ausgewählten Kreis getroffen. Außerdem ist es in seinen Inhalten eine Widerspiegelung der vorherrschenden Verhältnisse. Soziale Bewegungen haben immer auch die Wissensproduktion verändert und das vorherrschende Wissen in Frage gestellt. Jede politisch-oppositionelle Organisation in der Geschichte gruppierte sich um eine regelmäßige Zeitschrift. Nicht umsonst werden „1968“ oder die Zweite Frauenbewegung auch als „Lesebewegung“ gesehen. Die „1970er“ waren mit dem Versuch verbunden, Medien anders zu nutzen, damals entstand ein kurzer Boom von Alternativzeitungen („von Leser_innen für Leser_innen“) und freier Radios, deren Ziel nicht mehr die Verkündung („revolutionärer“) Wahrheiten war, sondern Selbstverständigung von Aktivist_innen, eine Politik der ersten Person. Mit der „Bewegung der Bewegungen“ um das Jahr 2000 wurde Indymedia gegründet. Das Internet bot neuerlich Möglichkeiten, die Hierarchien zwischen Wissensproduzent_innen und -konsument_innen zu unterlaufen. Und die aktuellen Entwicklungen zeigen eine neuerliche Aktivierung vorheriger (nur) Konsument_innen von Information und Wissen durch Handys, Facebook und Twitter. Jeder Bewegungszyklus bringt (kurzfristig) neue Kommunikationsmöglichkeiten hervor. Wie sich an der Nutzung von Zeitschriften zeigte, ist die kurzfristige Kritik der Hierarchien nicht an bestimmte Technologien gebunden, sondern hat mit den Strukturen der Bewegungen zu tun. Eine Vorreiterin für die Kritik am Expert_innenstatus und der Entwicklung oppositionellen Wissens war die „Frauengesundheitsbewegung“. Aus unterschiedlichen Bereichen von Psychiatriebetroffenen und Kranken bis hin zu anderen Ausgegrenzten wurde eigenes Wissen entwickelt, das schließlich zu einem Boom von Selbsthilfegruppen von vorher Marginalisierten führte. Dabei zeigte sich, dass Wissen vorhanden, aber in Archiven vergraben ist. Diese Bewegungen versuchten, alternatives Wissen zu erarbeiten, zu vermitteln und auch weiter zu entwickeln. Dadurch wurde wieder auf den herrschenden Wissenschaftsbetrieb zurückgewirkt, bestimmte Inhalte aufgenommen, aber auch als alternatives Expert_innentum in den herrschenden Kanon integriert, etwa als Frauen- und Genderforschung. Ein Teil des Wissens, das durch Bewegungen verändert wird, ist Geschichtsschreibung. Diese war ursprünglich die Geschichte der herrschenden Eliten. Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wurde, wie Eric Hobsbawm (2004) aufgezeigt hat, die Geschichtsschreibung „national“: Als Ziel wurde vorgegeben, die eigene Nation aus der Geschichte zu begründen, die Fakten wurden dementsprechend ausgewählt und in der Vergangenheit die „Wahrheit“ für die Gegenwart gesucht. Das bedeutet nicht, dass diese Geschichten falsch sind, sondern einfach nur, dass sie national sind. Hobsbawm beendet allerdings sein Buch Nationen und Nationalismus mit der Bemerkung, dass die nationale Geschichtsschreibung an ein Ende gelangt, weil Nationalismus inzwischen von Historiker_innen analysiert wird (vgl. Hobsbawm 2004, S. 221). Die oppositionellen Bewegungen, Sozialdemokratie, Kommunist_innen, Anarchist_innen begannen dagegen, ihre eigene Geschichte zu schreiben, blieben aber häufig beim Nachvollziehen der Entwicklung der (eigenen) Organisationstrukturen stehen, die oft wieder die Geschichte ihrer Vertreter_innen war. Was nicht in den Kanon passt, fiel unter den Tisch, wie z.B. die sich zum hundertsten Mal jährenden Teuerungskrawalle vom 17. September 1911 in Wien, an denen sich Zehntausende beteiligten, die aber von der Sozialdemokratie an den Rand der Erinnerung gedrängt und auch von anderen Organisationen vernachlässigt wurden. In Nachfolge von 1968 entstand eine Geschichtsschreibung einer „anderen Arbeiter_innenbewegung“ – außerhalb der etablierten Organisationen – und schließlich wurde die Geschichte der „kleinen Leute“ „entdeckt“: Oral History. Die Geschichte der Fakten und Daten wurde durch subjektive Sichtweisen der Beteiligten ergänzt. Daneben wurden neue Blickwinkel geöffnet, z.B. die unterdrückte und verschwiegene Geschichte der „Frauen“. Geschichte ist immer die Geschichte aus einem bestimmten Blickwinkel, der Herrschenden oder der Expert_innen für Minoritäre (Oppositionelle). Aber kommen die „Sprachlosen“, die Ausgebeuteten und Unterdrückten wirklich zu Wort? Vergangene soziale Bewegungen gehen in die Geschichte ein, in dem darüber gesprochen und geschrieben wird. Die postkoloniale und feministische Theoretikerin Gayatri Spivak (2008) diskutiert in Can the Subaltern Speak?, dass es nicht nur darum geht, zu handeln, sondern auch darum, dass darüber gesprochen wird und das auch gehört wird. Die Subaltern Studies bemühen sich darum, die Aufstände (der Bäuer_innen) in Indien, die nicht in die nationale antikoloniale Geschichte eingegangen sind, sichtbar zu machen. Dass die „Subalterne nicht sprechen kann“, bezieht sich bei Spivak auf eine 17-jährige Frau, die 1926 Selbstmord beging, weil sie es nicht schaffte, im Rahmen der antikolonialen Bewegung ein Attentat durchzuführen. Ihr Motiv blieb im Dunkeln, weil sich nur die koloniale und die antikoloniale Version durchsetzte: Sie habe sich umgebracht als Zeichen gegen die Kolonialherrschaft, um die traditionellen Gebote zu befolgen. Obwohl sie selbst Spuren in eine andere Richtung legte, da sie sich während der „unreinen Phase“ der Menstruation tötete. „Sie hatte sich zu repräsentieren versucht, und zwar über die Selbstrepräsentation des Körpers, aber das war nicht durchgedrungen.“ (Spivak 2008, S. 145). Texte und Zeichen richten sich immer nach den vorherrschenden Interpretationen. Es ist nicht möglich, außerhalb der vorherrschenden Diskurse zu schreiben, will mensch wahrgenommen werden. Es ist notwendig, sich in Ausdruck und Formulierung anzupassen, und in der Auswahl der Themen. Insofern waren die sozialen Bewegungen immer auch Versuche, die Geschichte und die Geschichtsschreibung zu verändern. Wie können die „Subalternen“ nicht nur sprechen, sondern auch gehört werden? Ist es möglich, die „Sprachlosen“ zum Sprechen zu bringen? Gibt es das Archiv mit der entsprechenden Anordnung, dass es nutzbar ist? Spivak (2008, S. 29f) kritisiert Michel Foucault und Gilles Deleuze, die behaupten, sie brächten die Marginalisierten zum Sprechen (Deleuze/Foucault 1977), indem sie ihnen als Intellektuelle eine Stimme verleihen. Aber auch hier entscheiden diese Expert_innen, wer spricht und wer gehört werden soll. Bewegung ist immer auch sprechen, es verändern sich die „Archive des Wissens“. Ein typisches Beispiel für eine zumindest kurzfristige Veränderung war das Auftreten der Bewegung der Studierenden im Herbst 2009 (unibrennt). Selbst die Journalist_innen mussten sich daran gewöhnen, dass es nicht immer die gleichen Sprecher_innen gibt, dass die Struktur der Entscheidungsfindung nicht den Gesetzen der normalen Repräsentation gehorcht. Im Ereignis, in Bewegungen, in Revolten scheinen weniger hierarchische Möglichkeiten der Ordnung des Wissens und Sprechens durchzudringen. Solche Veränderungen ereignen sich in dynamischen Situationen. Ist die Herrschaft in Frage gestellt, gibt es kurze Momente der Selbstorganisation („Anarchie“), die auf die Archive des Wissens zurückwirken. Aber wurden nicht viele aktiv, weil sie nichts wussten von den vorherigen Niederlagen? Die Selbstorganisationsstrukturen entstanden wie von selbst, ohne Reflexion über entsprechende Theorien. Trotzdem wirkten linke Aktivist_innen auf die Bewegung ein. Am Auffälligsten (weil umstritten) waren dabei (queer)-feministische Interventionen, die auf bestehenden Bewegungen, eben den Feminismus und die Diskussion um geschlechtliche Ungleichheiten aufbauten. Wie sollte eine alternative Geschichte organisiert sein, um sie zu einem Werkzeug für die Bewegungen zu machen, um ein „anderes“ Wissen für zukünftige Entwicklungen nutzbar zu machen? Warum schreibe ich über die Geschichte der sozialen Bewegungen? Ich arbeite wie die „traditionelle“ Geschichtsschreibung, nur mein Ziel ist ein anderes. Obwohl ich versuche, den Blickwinkel der emanzipatorischen Bewegungen einzunehmen, gerate ich in die Rolle einer „Expert_in“. Ich versuche eine Geschichte (und Geschichten) zu schreiben, die eine Tradition der emanzipatorischen Revolten und Entwicklungen schaffen sollen, an die zukünftige Bewegungen anknüpfen können. Ob das gelingt, ist offen. Es ist sinnvoll, minoritäres (oppositionelles) Wissen in Archiven zu sammeln, auch mit dem Bewusstsein, dass es vorerst „tot“ ist und erst von zukünftigen Bewegungen gehoben wird. Neu aufbrechende Bewegungen sind häufig vorerst „geschichtslos“, sie wissen nichts von Ähnlichem in der Vergangenheit. Aber nachträglich kommt das Interesse zu einer Aufarbeitung auch der eigenen Geschichte. Darum konnte 1968 auch eine Lesebewegung werden und die Frauenbewegung veränderte die Geschichtsschreibung. Es wurden die dissidenten linken Texte entdeckt, es wurde die Grundlage gelegt, um Geschichte und Geschichten neu zu lesen. Immer wieder wurde versucht, auch die Hierarchien zwischen Expert_innen, Wissenden und Intellektuellen zu unterlaufen oder auch die zwischen Wissensproduzent_innen und Konsument_innen. Bewegungen sind auch Bewegungen der Reflexion, und dadurch kann es zu Veränderungen der Archive des Wissens in Richtung weniger Hierarchie geben. Darin läge die Aufgabe der (autonomen, oppositionellen, minoritären) Geschichtsschreibung, aber auch der Kultur- und Kunstproduktion, die in manchem Zukünftiges vorweg nimmt, mit Vergangenem arbeitet, in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist und gegen diese wirken kann.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2011, „anarchivieren“.

Literatur: Deleuze, Gilles / Foucault, Michel (1977): „Die Intellektuellen und die Macht.“ In: Deleuze, Gilles / Foucault, Michel: Der Faden ist gerissen. Berlin: Merve, S. 86-99.
Hobsbawm, Eric (2004): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt / New York: Campus.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia+Kant.
Steyerl, Hito (2008): „Die Gegenwart der Subalternen.“ In: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Wien: Turia+Kant, S. 5-16.

Robert Foltin schreibt über soziale Bewegungen. Sein Buch Und wir bewegen uns doch zu sozialen Bewegungen in Österreich zwischen 1968 und 2000 erschien 2004, dessen Fortsetzung Und wir bewegen uns noch erscheint demnächst beim Wiener Mandelbaumverlag.