Wir sind die Krise des Kapitalismus

DIE Welt steht auf kein Fall mehr lang. (Nestroy)

in (18.04.2009)

Aus der Krise der 1960er und 1970er flüchtete das Kapital in neue Produktionen vor allem im globalen Süden und in eine massive Zunahme von Konsum und Dienstleistungen im Norden. Verbunden wurde dieses Ungleichgewicht durch den sich ausdehnenden Finanzsektor. Aufgebaut als Antwort auf eine Krise, ist diese Konstruktion jetzt zusammengebrochen.

Krise als Fall der Profitrate

Die Profitrate ist das Verhältnis zwischen dem Profit, genauer dem Mehrwert und dem von den Unternehmen eingesetzten Kapital. Der Mehrwert ist jener Wert, der den Arbeiter_innen als Mehrarbeit abgepresst wird: jener Teil des Arbeitstages, der über die Zeit hinausgeht, die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist (und ihren Lohn darstellt). Das eingesetzte Kapital sind die bezahlte Arbeit, die Rohstoffe und die eingesetzten Fabriken, Maschinen etc. Da immer mehr herauskommen muss als hineingesteckt wird, es müssen Gewinne gemacht werden und diese müssen Profit bringend investiert werden, muss sich der Kapitalismus permanent ausdehnen. Stillstand bedeutet Krise – ein gleichbleiben oder sinken der Profitrate

Wodurch werden Krisen (das Sinken der Profitrate) verursacht? Erstens durch Überakkumulation: Es werden zu viele Produkte erzeugt, um am Markt abgesetzt zu werden (Überproduktion)[1]. Eine Antwort des Kapitals darauf ist die Ausschaltung unprofitabel arbeitender Konkurrent_innen und dadurch eine Verringerung der angebotenen Waren. Im 19. Jahrhundert wurden regelmäßig solche Krisen zur Bereinigung produziert, ohne dass der Kapitalismus als Gesamtes je gefährdet gewesen wäre. Diese Krisen waren typischerweise mit Deflation verbunden, dem Sinken der Preise, da die Waren nicht abgesetzt werden konnten.

Längerfristige Antworten waren nationalstaatliche Maßnahmen, um die „eigenen“ Unternehmen und Industrien zu schützen. Einerseits werden Zölle auf ausländische Waren eingehoben, andererseits wird die Nachfrage gestützt, indem den Arbeiter_innen höhere Löhne gezahlt werden oder durch die Schaffung sozialer Absicherungen, um Konsument_innen zu produzieren. Zu einem funktionierenden System entwickelt wurden diese Strategien durch den New Deal in den USA – und nach dem zweiten Weltkrieg in allen Industriestaaten durch verschiedene Formen der staatlichen Interventionen, die unterschiedlichen Formen des Wohlfahrtsstaats (vgl. Griesser 2008). Strategisches Ziel war die Einbeziehung der Arbeiter_innenklasse als konsumierendes Subjekt in das Kapital. Die Produktivität (Produktion in einer bestimmten Arbeitszeit) musste immer weiter steigen und (in einem geringeren Ausmaß) auch die Löhne (und Sozialleistungen). Der Staat funktionierte dabei als Gesamtkapitalist, auch gegen Einzelunternehmen. Unternehmen wurden zu Innovationen gezwungen, damit die Arbeit trotz steigender Löhne profitabel bleibt. Dazu war eine durch linke Parteien und Gewerkschaften disziplinierte Arbeiter_innenklasse notwendig, die die Steigerung der Löhne im „richtigen Maß“ hielt.

Ein positiver Nebeneffekt war damit die Befriedung der Arbeiter_innen. Es war nicht nur die Erkenntnis über die Weltwirtschaftskrise der 1930er, die solchen keynesianischen Modellen zum Durchbruch verhalf, sondern auch die Angst vor revolutionären Bewegungen, vor der „kommunistischen“ Bedrohung durch die Staaten des „realen Sozialismus“.

Damit kommen wir zur zweiten Ursache, die zu einem Fall der Profitrate führt, nämlich die Kämpfe und Forderungen der Arbeiter_innen: Der Mehrwert wird zugunsten des variablen Kapitals in Form von Löhnen oder sonstigen Zuwendungen verringert. Das passiert in Einzelfirmen, in Branchen oder auch in Regionen durch Streiks und Kampfmaßnahmen, unter bestimmten Bedingungen aber auch durch individuellen Widerstand und Verhandlungen. Direkte Antworten darauf sind die Repression, die Disziplinierung durch die Gewerkschaften oder die Veränderung der Klassenzusammensetzung durch die Einbeziehung neuer Arbeiter_innen, oft unter Ausnützung rassistischer oder geschlechtlicher Spaltungen. Innovationen fördern die Umstrukturierung der Arbeit durch neue Maschinen, die den Anteil des variablen Kapitals verringern und die Produktivität der einzelnen Arbeiter_innen steigert. Da es um die Reproduktion durch Löhne und Einkommen (Sozialleistungen und allgemeine Grundversorgung) geht, wird auf nationalstaatlicher Ebene die Inflation eingesetzt: als Preiserhöhungen durch die Unternehmer_innen und / oder durch die Geldpolitik der Staaten.

Längerfristig wird versucht, die Profitrate durch die Flucht des Kapitals aus den betroffenen Betrieben / Regionen wieder herzustellen (Silver 2005). So werden neue Produktionsstandorte gefunden, Silver (2005, S. 69ff) beschreibt so die Verschiebung der Zentren der Autoindustrie von den USA nach Westeuropa, dann nach Brasilien und Südafrika und schließlich nach Ostasien, getrieben von immer neuen Wellen von Arbeiter_innenunruhen. Auch Innovationen und neue Produkte versprechen größere Profite – zumindest so lange, bis die Konkurrenz nachgezogen ist. Und nicht zuletzt ist die Flucht aus der Produktion: in Dienstleistungen, aber auch in den Finanzsektor eine Strategie, die Profitraten wiederherzustellen.[2]

In national abgegrenzten Volkswirtschaften können Veränderungen der Außenbeziehungen, etwa die Förderung von Exporten durch Währungspolitik das Sinken der Profitrate verhindern (zu Lasten anderer Regionen). Eine niedrig bewertete Währung erschwert (dadurch teure) Importe, während billige Waren in Hartwährungsländern abgesetzt werden können. Durch solche direkt politischen Eingriffe wurde das Krisenstakkato seit Ende der 1980er regional begrenzt (auf einzelne Staaten wie Mexiko und die Türkei 1994 oder Ostasien 1997 / 1998). Aufschwünge in anderen Regionen erlaubten dann die Fortsetzung der Expansion und eine neuerliche Erholung.

Der keynesianisch-fordistische Aufschwung

Marx war kein Keynesianer. Er erklärt, dass die Nachfrage der Arbeiter_innen nie eine Lösung für das Problem der Überproduktion sein könne, weil sich dann unweigerlich der Wert der Mehrarbeit verringert (Grundrisse S. 321ff). Wie konnte also das nachfrageorientierte Regime der Nachkriegszeit funktionieren? Immer wieder wurden Arbeiter_innen überausgebeutet und geringer bezahlt, typischerweise Migrant_innen, die dann aber wieder höhere Löhne verlangten. Profitabel war dieses Regime nur durch die Zeitverschiebung zwischen Proletarisierung und der Erhöhung von Lohn- und Sozialleistungen. Ein Teil der Arbeiter_innen muss weniger bekommen, mit der Erhöhung dieser Einkommen muss wieder neues („billigeres“) Proletariat dem Kapitalismus unterworfen werden.

Oberflächlich ist das fordistische Regime auf die Produktion beschränkt, die Reproduktion allein durch die Höhe der Löhne bestimmt. Das macht die entsprechende Alimentierung der Produktion und die Stabilisierung von Leben durch unbezahlte Hausarbeit in der Institution der Familie unsichtbar (der adäquate „Familienlohn“ hat nichts mit der weiblichen Arbeitsleistung zu tun, sondern nur mit der Reproduktion zusätzlicher Personen). Die Organisation des Lebens findet außerhalb der Arbeitszeit statt, die Kosten dafür kann sich die Unternehmer_in sparen. Das änderte sich trotz feministischer Kämpfe nur wenig, auch wenn ein Teil der unbezahlten Arbeit in bezahlte Dienstleistungen umgewandelt wurde[3]. Auch ein Teil der Rohstoffe und Nahrungsmittel („Cash crops“) muss im Trikont billig produziert werden, damit durch billige Reproduktion das expansive System mit steigenden Löhnen funktionieren kann. Die Unterentwicklung des Südens war also notwendig für den Fortschritt der entwickelten Länder.

Die Krise der Produktion

Zur Zeit des Kalten Krieges schien die Bedrohung der westlichen Regime nur von außen zu kommen: durch den „Kommunismus“, vor allem in der „Dritten Welt“. Tatsächlich stieß der Fordismus um und nach 1968 auch an innere Grenzen. Trotz beschleunigter Neuzusammensetzung der Arbeiter_innenklasse durch die Migration, gelang es nicht, die Lohnsteigerungen unter den Produktivitätssteigerungen zu halten. Waren es in Italien oder Frankreich offene Kämpfe, so schafften das die Arbeiter_innen in anderen Ländern zur Zeit der Vollbeschäftigung durch die Drohung des Arbeitsplatzwechsels oder durch den Ausstieg aus der Produktion (etwa durch die Aufnahme eines Studiums). Auch der Einsatz von Maschinen konnte die Produktivität nur begrenzt steigern, nicht zuletzt weil die Arbeiter_innen Widerstand leisteten, sich „Disziplinlosigkeit“ durchsetzte („1968“ stellte die Fabriken genauso in Frage wie Schulen, Gefängnisse und Psychiatrien).

Die „Fabrik“ wurde aber auch von außen angegriffen. Was als Bürger_inneninitiative in vielen lokalen Bereichen als Kampf um „Lebensqualität“ begann, wurde zur „Ökologiebewegung“, die kostenintensive Umweltschutzmaßnahmen durchsetzen konnte und die grenzenlose Ausdehnung des Fabrikregimes (zumindest in den Metropolen) beschränkte. Durch den Feminismus wurde die Geschlechterordnung angegriffen, und damit auch die Gratisarbeit der Frauen und die Institution der Familie[4].

Durch die Kosten des Vietnamkriegs, aber auch durch steigende Sozialleistungen wurden die USA Anfang der 1970er gezwungen, den starken Dollar aufzugeben. Das System von Bretton Woods, die Bindung des Dollar an die Goldreserven, verhinderte bis dahin die Begünstigung der US-Volkswirtschaft durch Währungsmaßnahmen. Der Dollar wurde 1971  abgewertet und dadurch Importe insbesondere aus der BRD und aus Japan erschwert.

Die Antworten des Kapitals

Nach dem politisch ausgelösten Erdölschock 1973 begann eine bisher unbekannte Veränderung des Kapitalismus. Die Arbeitslosigkeit stieg und zugleich auch die Inflation (Stagflation). Das widersprach den meisten Wirtschaftstheorien, die wirtschaftliche Konjunktur mit steigenden Preisen verbinden, während doch in der „Krise“ die Preise fallen sollten. Da diese Krise aber nicht allein eine Überproduktionskrise war – der Zyklus der langlebigen Konsumgüter, besonders des Autos, gelangte an sein Ende, der Markt war gesättigt, nur noch die Erneuerung konnte eine Nachfrage gewährleisten, sondern auch durch die Lohn- und Einkommensforderungen produziert wurde, wurden sowohl Erwerbsarbeitslosigkeit wie auch steigende Preise gegen die Arbeitenden und die Konsument_innen eingesetzt. Ein gleichzeitiger Angriff auf produzierende und Reproduzierende also.

An den Frontlinien des Kalten Krieges entwickelten sich die Grundstrukturen für neue kapitalistische Entwicklungen. War die „Dritte Welt“ bisher hauptsächlich Rohstoffproduzentin, so wurden jetzt immer mehr Fabriken dorthin verlegt: in Staaten, die „westlich“ orientiert waren und gute Bedingungen für die Unternehmer_innen boten, nämlich kaum Steuern und billige, rechtlose Arbeitskräfte. Begonnen wurde das schon in den 1950ern in den ostasiatischen Frontstaaten zu China (den späteren „Tigern“: Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur), aber wirklich forciert erst ab den 1970ern. In Asien, Afrika und Lateinamerika entstanden „Weltmarktfabriken“ und „freie Produktionszonen“. War das Ziel der Befreiungsbewegungen und des „realen Sozialismus“ eine Industrialisierung zur Importsubstitution, um von den Fertigprodukten der Industriestaaten unabhängig zu werden, so ging es jetzt darum, nicht für einen heimischen Markt zu produzieren, sondern exportorientiert: zu Billiglöhnen für die Metropolen (vgl. Fröbel et. al. 1977).

In den USA wurde die „Stagflation“ Anfang der 1980er durch eine Hochzinspolitik beendet, der Dollar wurde wieder stärker und auch der Zufluss an Kapital nahm zu, Investitionen aber blieben aus. So wurde eine Rezession durch die Geldpolitik bewirkt. Dadurch, aber auch mittels direkter Repression wurden die Gewerkschaften in den USA und Großbritannien maßgeblich geschwächt. Jene Politik, die dann als „Neoliberalismus“ bezeichnet wurde, setzte sich durch. Diese „Krise“ bewirkte zwar keine Erhöhung der Profitrate, aber eine Einschränkung der Einkommen der Bevölkerung. In dieser Zeit wurde die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahrzehnte gelegt: der Erhalt des Konsums und ein Boom an Dienstleistungen, eine sich beschleunigende exportorientierte Industrialisierung des globalen Südens[5] sowie die Vermittlung dieser ungleichen Entwicklung durch eine steigende Finanzialisierung. Ab Mitte der 1980er Jahre setzte der Aktienboom ein, der sich – trotz  einiger Einbrüche – bis 2007 immer weiter steigerte.

Dienstleistungen

Wenn von einem neuen kapitalistischen Regime, dem Postfordismus, die Rede ist, taucht oft der Begriff der Dienstleistungsgesellschaft auf. Diese Dienstleistungen sind keine neuen Arbeiten, aber sie haben in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Wie „produktiv“ sind diese Dienstleistungen? Steigt die Produktivität stark an (was Marx im Kapitel über den „relativen Mehrwert“ beschreibt, MEW 23, S. 331ff), so wird dadurch die massive Zunahme sogenannter „unproduktiver“ Sektoren befördert:

„Endlich erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv verwenden und so namentlich die alten Haussklaven unter dem Namen der ´dienenden Klasse´ wie Bediente, Mägde, Lakaien“ (MEW 23, S. 469)[6].

Das bezieht sich für die damalige Zeit auf den individuellen Konsum der herrschenden Klassen. Die aktuelle Phase des Kapitalismus ist aber auch durch den Konsum der „Massen“ geprägt. Und tatsächlich hat auch die Zunahme der Dienstleistungen mit einer Zunahme des individuellen Konsums zu tun: von Freizeit- und Kulturindustrie bis hin zu Pflege, Kinderbetreuung und Putzen. Tendenziell werden sämtliche sozialen Beziehungen (das ganze Leben) der kapitalistischen Verwertung unterworfen.

Der Kapitalismus stößt dabei allerdings auf Probleme: Persönliche Dienstleistungen sind als individueller Konsum unproduktiv, nur als Konsument_innen sind diese Dienstleister_innen in den Verwertungszyklus eingebunden. Dienstleistungen sind aber auch in einem anderen Sinne „unproduktiv“. Da sie konstitutiv mit persönlichen Beziehungen verbunden sind, mit dem Körper, den Emotionen, den Beziehungen der Arbeitenden, ist eine Rationalisierung nur sehr begrenzt möglich. Ein gequälter und verärgerter Mensch kann Kund_innen schlecht zufrieden stellen. Ein bestimmtes Niveau der Reproduktion, Arbeitsbedingungen und Bezahlung, muss auch ohne Kämpfe und Widerständigkeiten aufrecht erhalten werden.

Pflege und Versorgung von Alten, Kranken und Kindern (den „Unproduktiven“), das Lächeln der Verkäufer_innen, Kellner_innen, andere Formen der „affektiven Arbeit“ wurden als Antwort auf die feministischen Kämpfe (teilweise) kommodifiziert. Viele dieser, auch heute noch weiblichen Arbeiten wurden vorher unbezahlt (nicht nur) in den Familien ausgeführt. Was als Prekarisierung und Flexibilisierung diskutiert wird, bedeutet das flüssig Werden der Grenzen zwischen „Arbeit“ und Nicht-Arbeit“: die Feminisierung oder Hausfrauisierung der Arbeit.

Aber auch am anderen, oberen Ende der Dienstleistungen, in den neuen Technologien, bei der Verwertung von Wissen, Kommunikation und Information, „immaterieller Arbeit“ (vgl. Hardt / Negri 2000, S. 289ff), stößt der Kapitalismus an Grenzen. Da sich Computerprogramme oder zu konsumierende Musikstücke nach der Herstellung fast grenzenlos reproduzieren lassen (im Gegensatz zu Konsumgütern kann ein immaterielles Produkt potentiell zur gleichen Zeit von unbegrenzt vielen Konsument_innen benutzt werden), lässt sich nur durch künstliche Grenzen – etwa durch Copyright-Gesetze – ein „vernünftiger“ Preis erzielen. Neue Profite für weitere Investitionen sind in der Dienstleistungsgesellschaft nur in Nischen oder durch Monopolisierung möglich (ein Beispiel dafür sind Copyright-Gesetze).

In den Metropolen, und besonders stark in den USA bedeutete die Zunahme der Dienstleistungen ein massives Einbeziehen immer größerer Teile der Bevölkerung in bezahlte Jobs, einerseits durch die Reduzierung der Zahl der Nur-Hausfrauen, aber auch durch fortgesetzte Migration. Die Jobs wurden sowohl ethnisiert wie geschlechtlich geteilt, Dienstleistungen zu einem wesentlich größeren Teil von Migrant_innen und Frauen ausgeführt als von weißen Männern.

Produktion

Die Flucht des Kapitals vor Unruhen und steigenden Löhnen führte zu einer steigenden Industrialisierung des globalen Südens. Zuerst wurden hauptsächlich arbeitsintensive Bereiche, etwa der Textil- und Spielzeugindustrie verlagert, später auch die modernisierten Fabriken der fordistischen Produktion wie die Autoindustrie (vgl. Silver 2005, S. 69ff). Auch die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien werden, zuerst wieder die arbeitsintensiven Teile, im globalen Süden produziert. Und wie meistens zu Beginn einer Phase der Industrialisierung / Proletarisierung sind die Arbeitenden hauptsächlich weiblich (vgl. Pun 2008). Diese Proletarisierung in großen Teilen der Welt führt dazu, dass Hobsbawm (1994, 290ff) feststellen kann, dass erstmals nach der neolithischen Revolution die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt ist (zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal die massive Zunahme der Produktion in China und in Indien berücksichtigt).

Finanzialisierung

Die Produktion im Süden und der steigende Konsum des Nordens werden durch das „Finanzkapital“ verbunden und gestützt. In der verzweifelten Suche nach Profitmöglichkeiten wird jede Möglichkeit ausgenützt. Dienstleistungen sind „unproduktiv“ für das Kapital, sehr wohl aber bedeutend für die Organisation des Lebens („Gebrauchswerte"). Der Finanzbereich ist dies nicht, aber er ist das notwendige „Schmiermittel“ für den Kapitalismus: Unternehmen müssen flüssiges Kapital (in Form von Geld) haben, um ihre Anlagen und Maschinen sowie die Löhne vorzufinanzieren, um Waren und Dienstleistungen zu erzeugen, durch deren Verkauf Profit realisiert werden kann. Die Finanzierung läuft über den Finanzmarkt, der auf der einen Seite gewonnenes Geld für Investitionen auf der anderen Seite vorstreckt. Der Zeitunterschied zwischen Investitionen und (erhofften) Gewinnen schafft dann die Basis für Spekulation.

Durch die Einschränkungen der Profite in den Bereichen von Produktion und Dienstleistungen entsteht die Verlockung, auf zukünftige Gewinne zu spekulieren. Steigende Erwartungen im Aktienmarkt haben nur noch begrenzt mit Waren und Dienstleistungen zu tun hat. Der Warenkreislauf G – W – G´ (ich kaufe eine Ware, um sie um mehr Geld zu verkaufen) wird zu G – G´. Die jetzt so häufig beschworenen Blasen entstehen in Erwartung von Preissteigerungen von Waren (etwa Aktien oder Immobilien), wobei dann die Nachfrage den Preis hinauf treibt und somit eine „Wertsteigerung“ verursacht – die allerdings nur noch im Abstrakten stattfindet, loslöst von den eigentlich zu Grunde liegenden Waren und Dienstleistungen.

Ab den 1980ern wurden in den USA die Spekulationsgesetze gelockert. Eine erste Blase wurde in der „Sparkassenkrise“ sichtbar: Anfang der 1980er Jahre wurden die Beschränkungen der Aktivitäten von Banken auf Spareinlagen aufgehoben. Es war der Versuch, die Nachfrage nicht durch steigende Löhne zu fördern, sondern durch Verschuldung. Bei hohen Zinsen und steigenden Immobilienpreisen funktionierte das sehr gut, nachdem aber die Immobilienpreise zu sinken begannen, brach 1985 die erste Sparkasse zusammen – und in den nächsten Jahren über 1000 weitere. Der Staat musste 124 Mrd. Dollar aufwenden, um die Gläubiger_innen zu schützen[7].

Schuldenkrisen

Die Industrialisierung des Südens wurde in den 1970ern nicht zuletzt durch die dortigen Militärdiktaturen, besonders in Lateinamerika befördert. Sie importierten nicht nur Kapital und Waffen, sondern auch Arbeiter_innenunruhen (vgl. Silver 2005, S 77ff über Brasilien in den 1970ern), die zu gewerkschaftlicher Organisierung führten. Die 1970er und 1980er Jahre waren im Süden geprägt von Kämpfen im Reproduktionsbereich (Hungerrevolten, Brotrevolten, Anti-IWF-Revolten, mit einem Höhepunkt in der iranischen Revolution 1979). Zur Eingrenzung der Revolten wurden Kriege forciert (so wurde der Irak Saddam Husseins vom Westen ermutigt, den revolutionären Iran anzugreifen und die Kontras wurden durch die USA gegen die nicaraguanische Revolution bewaffnet). Viele Diktaturen waren durch die Unruhen gezwungen, die Lebensbedingungen zu verbessern und eine zaghafte Demokratisierung zuzulassen.

Der Auslöser der lateinamerikanischen Schuldenkrise war die Politik der „Reaganomics“ in den USA. Hohe Zinsen produzierten einerseits die Rezession in den USA, förderten den Kapitalfluss zurück in die USA, von Lateinamerika wurde die Begleichung der Schulden verlangt. Der IWF stellte nur Geld zur Verfügung, wenn nicht mehr die Inflation gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung eingesetzt wird, sondern die sozialen Bedingungen insgesamt verschlechtert werden: Repression gegen die Arbeiter_innen, besonders aber die Einschränkung staatlicher Maßnahmen zur Sicherung des Überlebensniveaus der Armen. Die Schuldenkrise führte in das „verlorene Jahrzehnt“ der 1980er, den Rückfall der sozialen Standards und die Stagnation der industriellen Entwicklung. Teile des Kapitals zogen weiter in andere Regionen, etwa nach Südafrika (Autoindustrie), aber auch nach Ostasien. Arbeiter_innenkämpfe und städtische Revolten wurden jedoch dadurch nicht beendet und gegen Ende des Jahrzehnts konnten sich fast überall Demokratien durchsetzten.

Der Zusammenbruch der „realsozialistischen“ Staaten zeigt Ähnlichkeiten mit der Schuldenkrise in Lateinamerika. Polen nach den Arbeiter_innenkämpfen 1980 / 1981 und Ungarn (der „Gulaschkommunismus“) waren von allen realsozialistischen Staaten am höchsten im Westen verschuldet und so als erste gezwungen, zaghafte Demokratisierungsversuche („runde Tische“ und schließlich die Grenzöffnung) durchzuführen. Das ganze System der staatlichen Planwirtschaft stagnierte ökonomisch, es gab geringere Produktivitätssteigerungen: auf der einen Seite, weil kein Druck zu Profitabilität bestand, andererseits weil die Arbeiter_innen nicht „effizient“ arbeiteten. Ab 1989 brachte dann der Exodus in den Westen den kleinen Stoß, der die Regime zum implodieren brachte.

Die Integration der ehemals „realsozialistischen“ Staaten in den westlichen Kapitalismus führte zur Zerstörung der veralteten Industrien, die auf dem kapitalistischen Markt nicht konkurrenzfähig waren[8]. Es entwickelte sich nur eine kleine Schicht zu Konsument_innen und erst mit einiger Verzögerung wurden – ähnlich wie im globalen Süden – exportorientierte Strukturen aufgebaut (wie etwa die Autoindustrie in der Slowakei).

Nach den vier ostasiatischen Tigern suchte das Kapital nach neuen Investitionsmöglichkeiten und Staaten wie Thailand, Malaysia und Indonesien wurden Ziel einer forcierten Proletarisierung. Schon in den 1980er Jahren brachten soziale Bewegungen in Verbindung mit Streiks in den großen Betrieben die Diktatur in Südkorea zu Fall. Mitte der 1990er spitzten sich die Auseinandersetzungen um die gewerkschaftliche Organisierung dort neuerlich zu. Aber auch in Thailand stellten die Arbeiter_innen Forderungen nach höheren Löhnen: Da der Bath, die thailändische Währung, an den Dollar gebunden war, konnte seitens des Kapitals die Inflation nicht gegen die Arbeiter_innen eingesetzt werden. Die Unternehmen mussten um ihre Profite fürchten (vgl. Wildcat 1998). Als im Sommer 1997 die Währung abgewertet wurde, löste das eine Kettenreaktion in der Region aus. Kapital wurde abgezogen, Währungen und Aktien verloren an Wert, viele Fabriken wurden geschlossen[9]. Den ostasiatischen Staaten wurden in der Folge Maßnahmen vom IWF aufgedrängt (Abbau von Staatsschulden und Inflationsbekämpfung), Löhne und Sozialleistungen wurden gekürzt.

Nachdem durch den Aufschwung in den USA die Produktion wieder zu laufen begann, änderten die ostasiatischen Staaten ihre Politik: jede neuerliche Staatsverschuldung wurde vermieden; im Gegenteil, es wurden US-Staatsanleihen und Dollar gekauft, obwohl die Gewinne wegen der sinkenden Zinsen während der dotcom-Krise nicht sehr hoch waren. Jetzt waren es nicht nur Japan und die Ölstaaten, die Devisen horteten, sondern auch die kleineren Tiger wie Thailand und Südkorea sammelten Kapital. Diese finanzierten dann die steigende Verschuldung der USA und einiger anderer Metropolen.

Diese Krise beschleunigte noch einmal die Suche nach neuen Regionen für Investitionen, besonders China, wo schon Anfang der 1990er eine massive Industrialisierung und Proletarisierung begonnen hatte, aber auch Indien, bekamen einen neuen Anschub. In jeder Krise werden neue Regionen zum Aufbau von Fabriken gesucht, die bestehenden aber nicht zerstört, sondern nur produktiver gemacht. Die Masse der abzusetzenden Waren stieg weiter an.

Die Krise eines neuen Produktzyklus

Wenngleich oft aus spekulativem Wert entstanden, wurde das Kapital auch produktiv investiert. Auch die neuen Technologien, insbesondere das Internet, zogen Investitionen an. Die Weltwirtschaft baute die zwei Säulen aus, den Konsum in den USA und die Produktion in Ostasien. Verbunden war das durch einen finanziellen Überbau: Kapital, abstrakter Wert, das nach Anlagemöglichkeiten suchte, in den Dienstleistungen in den USA, in den aus den Boden schießenden Fabriken, aber auch in der spekulativen Selbstvermehrung.

Gegen Ende des Jahrhunderts trafen mehrere Entwicklungen zusammen: Einige Rohstoffproduzent_innen, insbesondere die OPEC-Staaten, aber auch Venezuela konnten ihre Finanzen als Machtfaktor einsetzen. Soziale Unruhen und die Linksentwicklung in Lateinamerika setzten sich fort, auch in Ost- und Südostasien nahm die Unrast kein Ende. Die globale Protestbewegung, in der sich Demonstrationen in den Metropolen mit Unruhen im globalen Süden verbanden, fiel zusammen mit Konflikten zwischen den Industriestaaten, die für sich protektionistische Privilegien beanspruchten und den Staaten des Südens, denen der Freihandel aufgezwungen werden sollte. Ein Teil der internationalen Konferenzen, besonders die WTO-Konferenz in Seattle im November 1999 scheiterten (nicht nur an den massiven Protesten, sondern auch an internen Widersprüchen). In den USA organisierten sich die niedrig bezahlten Dienstleister_innen mit gewissen Erfolgen, etwa die Reinigunsarbeiter_innen in der Kampagne „Justice for Janitors“, denn die Dienstleistungen konnten schlecht in Billigregionen verlegt werden, was die Arbeiter_innen stark gegenüber den Unternehmen machte.

Dauerte es im Fordismus noch zwei bis drei Jahrzehnte, bis alle Konsument_innen (die es sich leisten konnten) langlebige Konsumgüter wie Autos oder Waschmaschinen erstehen konnten, so brauchte es  für Handys, Computer und das Internet nur einige Jahre. Dann aber wurden die hohen Gewinne, die in einer beginnenden Phase auch an die Arbeiter_innen weitergegeben wurden, zu einer Belastung für die Profite. Im Überschwang waren auch völlig wertlose Firmen durch Aktien finanziert worden. Ab März 2000 begann dies sichtbar zu werden und die Luft entwich der nächsten Blase. 

Die Krisen in den 1980er und 90er Jahren ließen sich noch auf periphere Regionen beschränken. Aber die dotcom-Krise war in den Metropolen angekommen: es war eine Krise verursacht durch die Lohnforderungen in den Produzentenländern des Süden, die Begrenzung der Lohnkürzungen und Einschränkungen der Sozialleistungen in den USA (aber auch in Westeuropa). Aber auch die spekulative Geldvermehrung, die Kapital für Konsum und Investitionen zur Verfügung stellte, geriet in die Krise. Aktien stürzen ab, einige Firmenriesen (Enron, Worldcom) gingen unter, der Kapitalismus schien am Boden zu liegen.

Die Finanzierung der Reproduktion

Wieso wurde noch einmal ein Aufschwung möglich? Der Anschlag auf das World Trade Center am 11.9.2001 erlaubte die Zustimmung der Bevölkerung für den „Krieg gegen den Terror“ (vgl. Arrighi 2007, S. 224). Die Bush-Regierung konnte durch ihre Militäreinsätze in Afghanistan und Irak eine neuerliche Verschuldung des Staates in Gang zu setzen (vgl. Brenner 2004, S. 72ff). Weil der Dollar (trotz Euro-Einführung) noch immer als Weltgeld fungierte und durch ein niedriges Zinsniveau konnte sich der US-amerikanische Staat zu geringen Zinsen verschulden. Der Bevölkerung wurde die gleiche Möglichkeit geboten: die Ersetzung von Lohnerhöhungen und Sozialleistungen durch Hypotheken. Noch einmal konnte der spekulative Reigen der Geldvermehrung in Gang gesetzt werden, verbunden mit einer beschleunigten exportorientierten Produktionsausweitung in China und in anderen Staaten im Süden und Osten (seit einigen Jahren wird von den aufstrebenden BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China – gesprochen).

Durch die Steigerung der Produktion in den Fabriken der Welt und durch die Steigerung der Produktivität gibt es zu viele Produkte, die immer schwerer verkauft werden können (Überproduktion). Dazu gibt es einen Überschuss an Kapital, der investiert werden will und zwar gewinnbringend. Durch die „Überhitzung“ in China mangelte es trotz der massiven Mobilisierung der Wanderarbeiter_innen an Arbeitskraft: die Menschen konnten sich Arbeitsplätze mit höheren Löhnen und besseren Bedingungen aussuchen (oder mussten gezwungen werden zu bleiben). Auch die Dienstleistungssektoren ließen sich nicht mehr stärker ausbeuten. Blieb nur der Finanzbereich selbst, das Wetten auf die in Zukunft zu erwartenden Gewinne, die vermeintlich ins Grenzenlose steigenden Aktienkurse und alle möglichen „innovativen Finanzprodukte“. Die Massen wurden (zumindest im Norden) in das Risikogeschäft der Finanzialisierung einbezogen (durch Verschuldung, aber auch durch private Pensionsvorsorgen), das Risiko der zukünftigen Wertsteigerungen an die „kleinen Männer und Frauen“ ausgelagert. Dieser „Markt- oder Börsen-Keynesiansimus“ („Stock-market Keynesianism“ Brenner 2004, S. 60) rettete gemeinsam mit dem „Kriegskeynesianismus“ von Bush die Wirtschaft der USA für die nächsten Jahre. Noch einmal wurden Produktion und Konsum / Dienstleistung vermehrt.

Die Krise ist da

In den letzten Jahren wurde oft davon gesprochen, dass der Konsum in den USA die Wirtschaftslokomotive ist, und es war bekannt, dass diese auf Verschuldung beruhte. Aber kaum jemand wollte sich vorstellen, dass diese Blase einmal platzen könnte. Über den Verlauf der Krise, dass ein verhältnismäßig kleiner Sektor (Sub-prime) die größte Krise seit 1929 auslöste, ist schon genug geschrieben worden (vgl. Stockhammer 2008a, 2008b), hier sollen nur die grundsätzlichen Ursachen erläutert werden.

Um 1970 ruhte der Kapitalismus auf mehreren Säulen: dem Konsum und der Produktion in den Metropolen und der günstigen Alimentierung durch die Gratisarbeit der Hausfrauen und dem ungleichen Tausch mit den Regionen des Trikont. Die Krise entstand durch die Forderungen der Arbeiter_innen in der Produktion und der Kritik des Konsums, aber auch durch die Grenzen des Imperialismus, durch die Befreiungsbewegungen und die Kämpfe der neuen Frauenbewegung. Die Produktion wurde in den globalen Süden verschoben, die Steigerung des Konsums in den Industrieländern fortgesetzt. Immer wieder neue Kämpfe beschleunigten die Zunahme der Fabriken im Süden, wie oft bei beginnender Kapitalisierung hauptsächlich durch weibliche Arbeit.

Anfang der 1970er schien eine revolutionäre Umwälzung vor der Tür zu stehen, manche Umstände sind heute ähnlich, andere sind unterschiedlich: Stieß damals der Kapitalismus durch Klassenkämpfe und soziale Bewegungen ökonomisch an Grenzen, im Süden (Vietnam) aber auch politisch und militärisch, so gilt das auch für das unilaterale militärische Vorgehen der USA in den Kriegen gegen den Irak und in Afghanistan. Gab es damals eine starke Linke, reformistisch wie revolutionär, aber häufig staatsorientiert, so beschränkt sich diese heute auf Lateinamerika und einige Regionen der Welt wie etwa Nepal.

Damals entstanden die ölfördernden Länder als ökonomische Macht innerhalb des Kapitalismus, die durch ihre Politik des „Boykotts“ dem Westen die Einsetzung der Inflation gegen die Arbeiter_innen in den Metropolen „erlaubten“. Heute haben die Öl und Rohstoffe produzierenden Länder eine stärkere Machtposition als je zuvor (zumindest bis Mitte 2008, weil bis dahin die Rohstoffpreise massiv anstiegen). Damals war die USA stark verschuldet, allerdings hauptsächlich bei Westdeutschland und Japan (und einigen OPEC-Staaten), die heutigen Gläubiger sind die gleichen, ergänzt durch neue Aufsteiger, besondere China (aber auch Südkorea). Damals war es nur der Staat, der verschuldet war, heute sind es auch die Privaten – und zwar nicht nur Firmen, sondern auch die vielen Konsument_innen, die den Wirtschaftskreislauf der letzten Jahre am Leben hielten.

War in den 1970er der Zyklus der langlebigen Konsumgüter, besonders des Autos, zu Ende, so endete bereits um 2000 der Zyklus der „neuen Technologien“. Die Märkte, die große Teile der Bevölkerung in den Metropolen erfassten und eine zunehmende Mittelschicht im globalen Süden, waren gesättigt, die großen Profite durch neue Produkte konnten nicht mehr eingefahren werden, es ging nur noch um die möglichst schnelle Ersetzung der (gar nicht so) alten Produkte.

Es gibt aber einen großen Unterschied: konnten ab den 1970ern die internationalen Organisationen, die vom Norden dominiert wurden, etwa der IWF, relativ frei agieren und Forderungen an die Länder und Regionen des globalen Südens stellen, so sind heute Teile des globalen Südens in  einer Gläubigerposition. Andere Staaten, etwa in Lateinamerika, haben sich von den Krediten des IWF unabhängig gemacht, so dass dieser auf Grund mangelnder Zinszahlungen nicht mehr so liquid ist wie früher. Bezeichnenderweise sind nach dem Ausbruch der Krise nicht nur Staaten des Südens (und des europäischen Ostens) vom Bankrott bedroht, sondern erstmals auch reiche Staaten des Nordens wie Island (Österreich?).

Die Krise der 1970er wurde durch das Ungleichgewicht zwischen Produktion und Konsum aufgelöst, zusammengehalten durch fiktives und spekulatives KapitalWurde 1968 die Revolution vertagt und ein unsicherer Aufschwung eingeleitet, so stehen wir jetzt wieder vor einer revolutionären Chance – oder aber dem Absturz in Krieg und Barbarei.

Die Krise als revolutionäre Chance

„Wir bewegen uns in eine weltgeschichtliche Situation hinein, in der alle Weichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens neu gestellt werden. Für meine Generation wird es nach den Jahren 1967 bis 1973 der zweite Epochenumbruch sein.“ (Karl Heinz Roth 2008)

Kapitalistische Krisen entstehen im Gegensatz zu Krisen anderer Produktionsverhältnisse nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss: Die Produkte und Dienstleistungen lassen sich nicht mehr gewinnbringend absetzen. So waren die bisherigen großen Krisen auch mit Deflation verbunden. Um die überschüssigen Produkte abzusetzen, wurden immer wieder die Preise gesenkt. Nach den 1960ern waren im globalen Süden und auch in den Metropolen die Krisen mit Stagflation verbunden: die Produktion stagnierte, trotzdem stiegen die Preise. Das zeigt, dass die Arbeiter_innen, die Bevölkerungen, die Multitude als Subjekte zu stark waren, massive Lohnsenkungen waren nicht möglich (wenn, dann ging es um wenige Prozente und nicht um den Verlust der ganzen Existenz, wie in früheren Krisen). Diese Stärke kann eine Grundlage sein für zukünftige Kämpfe. In den Metropolen wird es kaum möglich sein, größere Teile der Bevölkerung „auszusteuern“ – außer in einer Diktatur.

Das kapitalistische Regime steht vor dem Problem, dass es auf der einen Seite zu wenig Waren (und Dienstleistungen) absetzen kann, auf der anderen Seite Löhne und Sozialleistungen die Möglichkeiten für die Profite einschränken. Die Produktivitätsentwicklung durch neue Technologien steigert zwar den Output, kann aber die Löhne nicht genug senken, um die Profitrate aufrecht zu erhalten. Der Kapitalismus steht vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder die Nachfrage einschränken oder die Mehrwertrate. Es gibt genug für alle (wenngleich auch viele sinnlose Waren), nur nicht Profit bringend verwertbar. Wieso den Reichtum nicht für die Bevölkerungen fordern, für uns, anstatt dem Kapital zu neuer Verwertung und Ausbeutung zu verhelfen. Auch anderes provoziert geradezu nicht-kapitalistische Aneignung: Steigt etwa die Wohnungsnot zugleich mit einem steigenden Leerstand von Wohnungen, so ist das geradezu eine Aufforderung, diese zu besetzen. Es wird notwendig sein, unsere Reproduktion, unser Leben selbst zu organisieren, und zwar gerade jene „unproduktiven“ Sektoren, die vom Kapital als unverwertbar gesehen werden.

Unzweifelhaft werden Kämpfe ausbrechen, die darauf beharren, die eigenen Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten und sie werden nicht nur emanzipatorisch sein. Die Teilung entlang rassistischer und sexistischer Grenzen war immer ein wichtiger Faktor zur (Re)Stabilisierung des Kapitalismus. Eine revolutionäre Umwälzung hingegen muss den Kriegen zuvor kommen, die sich schon in protektionistischen Maßnahmen und antisemitischen und rassistischen (anti-islamischen) Feindbildern abzeichnen.

Auch historische Vergleiche lassen nicht nur pessimistische Schlüsse zu. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 gab es nicht nur Faschismus, Nationalsozialismus und Krieg, sondern auch Massenstreiks und die Volksfront in Frankreich, die spanische Revolution, aber auch erfolgreichen Kämpfe der Arbeiter_innen in den USA und den New Deal als Antwort auf die Forderungen der Bevölkerung.

Ein Zusammenbruch durch den Abfluss von Kapital, wie er uns in vielen Regionen erwartet, ereignete sich bereits 2001/2 in Argentinien. Der Zusammenbruch des wirtschaftlichen Lebens führte nicht nur zu Verzweiflung, sondern auch zu mannigfaltigen Versuchen der nicht-kapitalistischen Organisation des Lebens (von besetzten Fabriken über die Selbstorganisation der Arbeitslosen bis hin zu Nachbarschaftskomitees, in denen sich die Menschen ihr Leben selbst organisierten). Auch wenn die Integration in den Kapitalismus wieder gelang, diese Erfahrungen können sie uns nicht mehr nehmen (vgl. Colectivo Situaciones 2003).

Die aktuellen Auseinandersetzungen haben bereits vor der Krise begonnen: (wilde) Streiks um Lohnforderungen in Deutschland, im Frühjahr und Sommer 2008 provozierten Preissteigerungen Hungerrevolten in über 60 Regionen und Ländern. Diese fanden im Herbst ihre Fortsetzung in Revolten der Schüler_innen und Studierenden in Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland. Anfang Dezember 2008 provozierte der Todesschuss eines Polizisten Aufstände in Griechenland, die sich nicht nur in Krawallen ausdrückten, sondern auch durch Selbstorganisationsstrukturen in besetzten Schulen, Universitäten und Gemeindehäusern. Überall, wo die kapitalistische Krise Institutionen in Frage stellt, wie in Island oder Lettland, geht es schnell ums ganze System.

Wenn die Kämpfe um die Wiederaneignung der Reproduktion, jene der Arbeiter_innen in Produktion und Dienstleistung, aber auch die weltweiten revoltierende Massenarmut miteinander kommunizieren, sich von unten koordinieren und Selbstverwaltungsstrukturen außerhalb und gegen die kapitalistische Verwertung organisieren (auch als Projekte der „Solidarischen Ökonomie“ bezeichnet), dann kann sich die Krise zu eine Chance für eine revolutionäre Umwälzung entwickeln[10].

Mit anderen Worten: Es geht um die Verbindung von Anarchismus, Kommunismus und Sozialismus. Massimo de Angelis (2007, S. 245, Übersetzung von mir): „Anarchistische Praxen ohne kommunistische sind individualistisch oder gettoisiert. Kommunismus ohne Anarchismus ist hierarchisch und repressiv.“[11] Der Anarchismus bietet die lebendige Perspektive der Selbstorganisation, der Kommunismus die Fähigkeit zur Organisation.

Danke an Martin Birkner für Anmerkungen und Ergänzungen.

E-mail: r /punkt/ foltin /at/ aon /punkt/ at

 

Literatur:

Arrighi, Giovanni (2007): Adam Smith in Bejing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. Hamburg: VSA-Verlag.

Brenner, Robert (2002): Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft. Hamburg: VSA-Verlag.

Brenner, Robert (2004): New Boom or New Bubble. The Trajectory of the US Economy. In: New Left Review 25, S. 57-100.

Colectivo Situaciones (2003): Que se vayan todos. Berlin, Hamburg : Assoziation A

De Angelis, Massimo (2007): The Beginning of History. Value Struggles and Global Capital. London, Ann Arbor, Mi: Pluto Press.

Fröbel, Folker / Heinrichs, Jürgen / Keye, Otto (1983): Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer. Reinbek: Rowohlt.

Griesser, Markus (2008): Farewell to the welfare state? Staatstheoretische Konzepte zu Genese und Wandel des Sozialstaats. In: grundrisse Nr. 25, S. 39-52.

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge (Mass): Harvard University Press.

Hobsbawm, Eric (1994): Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991. London: Abacus.

Madörin, Mascha (1999): Robinson Crusoe und der Rest der Welt. In: Boudry, Pauline / Kuster, Brigitte / Lorenz, Renate: Reproduktionskosten fälschen! Berlin: b_books S. 132-155.

Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Frankfurt am Main: Eichborn.

Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl (1976): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter. (MEW 23)

Marx, Karl (1972): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter. (MEW 25)

Pun, Ngai (2008): Interview mit Pun Ngai: „Deshalb spreche ich immer von Arbeit und Körper, denn mit dem Körper kommt mehr Subjektivität ins Spiel…“. In: grundrisse Nr. 28, S. 4-12.

Roth, Karl Heinz (2008): Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven. http://www.wildcat-www.de/aktuell/a068_khroth_krise.htm

Sablowski, Thomas (2008): Kapital, Kredit, Krise. Zur Kritik der finanzdominierten Akkumulation und Regulation. In: analyse & kritik Nr. 533.

Silver, Beverly (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin, Hamburg: Assoziation A.

Stockhammer, Engelbert (2008a): Anatomie und Auswirkungen der US-Immobilienkrise. Von der sub-prime Krise zur Wirtschaftskrise? In: grundrisse Nr. 25, S. 21-24.

Stockhammer, Engelbert (2008b): Finanzkrise: Chronologie, Ursachen und wirtschaftspolitische Reaktionen. Kasinokapitalismus mit staatlichen Fremdheilungskräften. In: grundrisse Nr. 28, S. 13-22.

Wildcat (1998): Das Kapital schlägt zurück, oder: „Beten und hoffen“. In: Wildcat-Zirkular Nr. 44, S. 21-38.

 


Anmerkungen:

[1] Zugleich Unterkonsumtion: Es gibt zu viel Kapital, weil es sich nicht gewinnbringend anlegen lässt.

[2] Bei Marx (MEW 25, S. 221ff) wird außerdem der „tendenzielle Fall der Profitrate“ auf Grund der steigenden „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ (immer mehr Maschinen ersetzen die Arbeitskraft) diskutiert.

                                       m                                                                   m

                Profitrate:r = -----                 Ausbeutungsrate: r = -----

                                    v + K                                                                  v

(m = Mehrwert, v = variables Kapital / Arbeitskraft, K = konstantes Kapital / Fabriken, Maschinen, Rohstoffe)

Steigt das konstante Kapital an, muss auch die Ausbeutungsrate um ein ähnliches Maß ansteigen, damit es zu keinem Fall der Profitrate kommt.

[3] Madörin 1999, S. 135, weist für die Schweiz 1997 eine Wertschöpfung von fast 200 Mrd. Franken für Haus- und Familienarbeit aus, doppelt so viel als in der Industrie.

[4] Die „Niederlage“ des Feminismus erfolgte nicht allein durch einen backlash, sondern auch durch eine Umstrukturierung des Systems. Weibliche Gratisarbeit ist immer noch notwendig für den Kapitalismus, wenn auch immer weniger in der Institution „Kleinfamilie“ organisiert.

[5] Die Lokalisierung der Dienstleistungen im globalen Norden und von Produktion im Süden ist natürlich eine Vereinfachung: es gibt Dienstleistungszentren im Süden, etwa in Singapur, und auch die industrielle Produktion ist aus den industrialisierten Staaten nicht verschwunden. Selbst innerhalb von Firmen gibt es die Produktion auf der einen Seite und „unproduktiven“ Sektoren wie Werbung, Marketing etc. auf der anderen.

[6] An anderer Stelle ist die Produktivität für den Kapitalismus davon abhängig, dass Mehrwert durch Mehrarbeit gewonnen wird und nicht nur dem individuellen Konsum dient. „ Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für das Kapital produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient. Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kindsköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis.“ (MEW 23, S. 532).

[7] Der Börsencrash von 1987 war ein kurzfristiges Einbrechen der Aktienmärkte, der keine sichtbaren Auswirkungen auf die „Realwirtschaft“ hatte. Die Blase war die Übertreibung des Aufschwungs, der durch die Eindämmung der Inflation und die Hoffnung auf neue Produktionen gebracht wurde. Nach zwei Jahren wurde an den Aktienmärkten das hohe Niveau von vorher erreicht.

[8] Selbst eine massive Finanzierung durch den Westen brachte keinen Aufschwung, wie am Beispiel der DDR zu sehen ist (vgl. Kurz 1991).

[9] Ähnliche Krisen durch die Flucht des Kapitals und spekulative Angriffe auf Währungen (und damit einer Eingrenzung der Krise) gab es 1994 in der Türkei und in Mexiko. Die Krise in Japan ab 1990 hatte einen anderen Charakter, sie war nicht mit sozialen Bewegungen verbunden. Es ging darum, das korporatistische System aufzulösen, das den Arbeiter_innen halbwegs annehmbare Arbeitsbedingungen erlaubte.

[10] Auch in Wien gibt es erste Ansätze neuer Formen der Koordination. Die Plattform „Eure Krise zahlen wir nicht“ versucht revolutionäre Antworten auf die Krise zu finden und am globalen Aktionstag am 28. März 2009 ruft in Wien ein breites Bündnis zu einem „Antikapitalistischen Block“ auf, der sich nicht in der Teilnahme an der Demonstration erschöpfen soll.

[11] De Angelis setzt dann fort: „Anarchismus und Kommunismus ohne Sozialismus, ohne Kampf innerhalb und gegen den Staat sowie darüber hinaus, das bedeutet reine Fantasie. […] Sozialismus ohne Kommunismus und Anarchismus ist neoliberal.“ Er bezieht sich dabei auf die widersprüchlichen Prozesse im Venezuela des Hugo Chavez, wo der Staat Selbstorganisation von unten zulässt und zumindest teilweise fördert.