In Hiroshima nennt man Straßenbahnen „street cars". Sie haben einen
Fahrer und einen Schaffner. Die Haltestellen werden auf Japanisch und
englisch angesagt. Bezahlt wird beim Schaffner beim Aussteigen. In einem
solchen Straßenauto, das durchgängig aus mehreren Wagen besteht, ist es
friedlich. Die Japaner, wie mir mein Physikerkollege Yuji Y. erklärt,
stören andere ungern, jeder, und am Vormittag eher jede, hat also die
Augen artig niedergeschlagen, die Jugend schaut in ihre Handys, aber man
telefoniert nicht im „street car". Es ist Frieden.
Eine solche Straßenbahn gibt es auf einem Foto, ausgebrannt aber nicht
umgestoßen, erkennbar nur an der Form ihrer tragenden Eisenkonstruktion,
dahinter die Öde. Auch in dieser Bahn muss Frieden geherrscht haben -
die Japaner haben lange Traditionen und werden sich diese Art besonders
zurückhaltenden Umgangs nicht erst zugelegt haben, um der Hektik der
Moderne zu begegnen. Der 6. August 1945 war ein besonders schöner
Sommertag, klarer blauer Himmel am Morgen, der der Stadt zum Verhängnis
wurde. Die beste Art, ein Ziel auszumachen, war die Sicht bei gutem
Wetter.
Die Stadt liegt am Wasser, sie hat Flüsse, die in den Ozean fließen,
Brücken, diese zu überqueren, wie die Aioi-Brücke. Vorgelagert ist die
bis zu etwa 500 Meter hohe Insel Miyajima, eine große
Touristenattraktion mit ihrem Aquarium und ihren Rehen, die sich unter
die Menschen an der Promenade mischen, unweit des orangefarbenen, im
Wasser stehenden Schreins Itsukushima, der auf das Jahr 1168 zurückgeht.
Als wir abends nach dem Kongress in einem Boot zum Festland übersetzen,
da ist es warm, der Himmel dunkel und freundlich, Hiroshima ganz nah,
es leuchtet herüber und ich erinnerte mich an Sausalito und die Bucht
von San Francisco, ohne Golden Gate. Zum zweiten Mal, beim Anblick des
Street-Car-Fotos und auf diesem Boot, dachte ich darüber nach, was das
wohl für Menschen waren, die auf diese Stadt ohne jede Vorwarnung eine
A-Bombe („little boy") werfen ließen und geworfen haben, am 6. 8. 45 um
8.15 Uhr. Ziel war die Aioi-Brücke im Zentrum der Stadt. Die Bombe
explodierte 300 Meter seitlich von ihr entfernt, in 600 Meter Höhe.
Yuji, dessen Großvater durch die Bombe verwundet wurde, bedankte sich
besonders, als er erfuhr, dass ich zunächst ins Museum (peace memorial
museum) gegangen war und nicht sofort auf die Tagung, die er
mitorganisiert hatte. Im Museum sieht und erfährt man mehr, als man
glaubt tragen zu können. Man ist umringt von Schulklassen, noch kleinen
Kindern in weißen T-Shirts, die sich mit einem Schreibblock in der Hand
ernsthaft Notizen machen. Man kauft sich ein Buch, eine Sammlung von
Erinnerungen von überlebenden Opfern, die meisten damals selbst Schüler
oder Studenten und damit befasst, Gassen in dichte Häuserreihen zu
treiben, damit sich Brände im Fall von Bombenangriffen nicht ungehindert
ausbreiten konnten. Alle berichten, wie am Morgen, es war um 7.30 Uhr,
ein Fliegeralarm aufgehoben wurde und sie also besonders beschwingt an
die Arbeit gingen, bis am Himmel ein B29 Bomber auftauchte.
Im Museum findet man, was wir „minutes" nennen, das Protokoll der ersten
Zusammenkunft des „target committee" am 27. April 1945, der Gruppe von
zumeist Wissenschaftlern also, die eine Auswahl treffen sollte von
japanischen Städten, logischen Kriterien folgend, die sie aufstellten.
Auch aus harmlosen Zusammenhängen ist bekannt, dass Kriterien immer dann
formuliert werden, wenn man eigentlich schon weiß, was man erreichen
will. Kriterium Nummer 1 hätte ja sein können, dass das „Target"
unbewohnt zu sein habe, man suchte jedoch ausdrücklich nach „larger
populated areas". So ist dieses Protokoll für einen Physiker ein
besonders beklemmendes Dokument wissenschaftlichen Herangehens und
menschlichen Versagens. Das Komitee benennt 17 dicht bevölkerte Ziele,
darunter auch noch Kyoto, das aber wohl jemand kannte, der die alte
Kaiserstadt ungern vernichtet sah, ferner Hiroshima, Nagasaki, Osaka und
andere Städte.
General Farrel, so heisst es im Protokoll, fasste die
Verantwortlichkeiten jedes Teilnehmers zusammen, darunter wie folgt: „a)
Dr. Dennison will complete the weather data ...; b) Dr Fenney will have
available and correlate the informational data on the size of the bomb
burst, the amount of damage expected, and the ultimate distance at which
people will be killed; c) Dr. von Neumann will complete all of the
computations and work with Dr. Fenney on the assigned tasks..". Man legt
schließlich den Termin des nächsten Meetings auf den 10. Mai um 9 Uhr
fest, im Büro von J. R. Oppenheimer. Hat man es vielleicht abgesagt,
weil Keitel am Tag vorher die Kapitulationsurkunde für Deutschland
unterschrieb?
Man war höflich, hatte Doktortitel, war genial und später berühmt wie
der Informatiker von Neumann. Aber hatte man ein Gewissen? Was heißt
denn Gewissen im Krieg? Jo Rotblat, Physiker aus Liverpool, verließ das
Manhattan-Projekt, als Hitler geschlagen war, mit dem Argument, es
brauche nun keine Bombe mehr. Er ging auch, um in Polen seine Familie zu
suchen, war er doch mit dem letzten Polen verlassenden Zug 1939
ausgereist und seine Frau gezwungen zu bleiben, obwohl sie sofort hatte
nachkommen wollen.
Rotblat war lange Jahre Präsident der Pugwash-Bewegung, einer auf
Einsteins und Russels Appell von 1955 zurückgehenden Vereinigung von
Wissenschaftlern, die sich zusammenschlossen, um sich für die Ächtung
und Abschaffung von Atom- (wie auch chemischen und biologischen) Waffen
einzusetzen. 1995 erhielten Rotblat und Pugwash den Friedensnobelpreis.
Im Juli dieses Jahres hielt Pugwash seine Welttagung in Berlin ab,
unterstützt immerhin vom Außenministerium, kaum bemerkt jedoch von der
deutschen Öffentlichkeit, die oft merkwürdige Themen beschäftigen.
Immerhin hatte mit Rotblat einer vorzeitig Los Alamos verlassen, viele
andere aber machten mit und sogar noch weiter. Nun hatte der Abwurf mit
Deutschland, könnte man einwenden, nichts zu tun. Im September 1944
beschließen Roosevelt und Churchill, nicht Truman und Attlee, die Bombe
in Japan einzusetzen. Jedoch gab es einen kürzlich in den USA wieder
diskutierten Zusammenhang insofern, als die Sowjetunion zugesagt hatte,
nach dem Sieg in Berlin in den Krieg gegen Japan einzutreten. Im Juli
1945 wird in Potsdam im Gespräch zwischen Stalin und Truman dafür ein
Termin benannt, der 15. August. Truman notierte und selbst der
japanische Kaiser Hirohito wusste, dass dies die Niederlage Japans im
Krieg besiegeln würde (Boston Globe, 7. 8. 2011). Es gab also
wohl nur ein wenige Sommerwochen dauerndes „window of opportunity", wie
es wahrscheinlich genannt wurde, um die Bombe abzuwerfen.
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die A Bombe von Hiroshima
eben nicht gebraucht wurde, den 2. Weltkrieg zu beenden. Führende
Militärs der USA wussten das schon lange: „The use of this barbarous
weapon ... was of no material assistance in our war against Japan...", so
etwa William D. Leahy, Stabschef unter Roosevelt und Truman (Counterpunch,
5. 8. 2011). Man wollte die Technologie testen und die Wirkung erkunden
- amerikanische Ärzte „kamen nicht, um uns zu helfen sondern die Folgen
zu erforschen" schreibt ein Überlebender in dem Buch der Erinnerungen.
In Hiroshima lebten 350.000 Menschen, 140.000 starben. Diese Zahl wird
mit einer Unsicherheit von sieben Prozent angegeben, das heißt, man weiß
nicht, ob es 10.000 mehr oder weniger waren. Sadako Sasaki war zwei als
die Bombe fiel, glücklich, mit zwölf bekam sie Leukämie, mit 13 war sie
tot - eine Spätfolge würde das wohl heißen. Unwahrscheinlich, dass Dr.
Fenney solche Opfer einbezogen hat in seine Vorhersagen „about the
amount of damage expected".
Den sofortigen Tod Unbeteiligter bezeichnet man heute als
Kollateralschaden. Das setzt doch aber voraus, dass es ein militärisches
Ziel überhaupt gab, zu dem kollaterale Folgen in Beziehung gesetzt
werden könnten. In Hiroshima gab es keine Kollateralschäden, hier nahm
man eine Stadt zum „target". Das war nicht neu, wovon Coventry oder
Dresden Zeugnis ablegen. Jedoch hatte man die Explosionskraft
vervielfacht - die Druckwelle breitete sich mit 440 Meter pro Sekunde
aus -, die Hitze auf 3-4.000 Grad gesteigert und radioaktive Strahlung
neu hinzugefügt. Eines der Opfer beschreibt, dass es anschließend 26
Gesichtsoperationen benötigte. Reihenweise stürzten sich überhitzte
Menschen am Vormittag des dann nicht mehr blauen sondern finsteren
Tages, voll schwarzen Regens, zur Abkühlung in den doch verstrahlten
Fluss. Wer Wasser trank war des Todes, wer nicht oft auch. Die Strahlung
kannte und sah man nicht, ihre Folgen waren grauenhaft.
Hiroshima hat wieder einen klaren Himmel und eine Architektur, die man
vielleicht später einmal interessant finden wird, die jedoch heute vor
allem den Willen seiner Einwohner bezeugt zu bleiben. Wer einmal dort
war, wird Macht noch skeptischer sehen, denn es waren die Mächtigen und
ihre falsch verstandenen, inhumanen strategischen Interessen, die die
Welt auf militärische Planquadrate schrumpfen ließen. Wie viele wissen,
dass die amerikanische Besatzungsmacht noch sechs Jahre nach dem Abwurf
die Verbreitung von Fotos aus Hiroshima verbot und jeden Bericht einer
scharfen Zensur unterwarf, wie man im Museum liest. Machtmissbrauch und
Zensur gehören zusammen.
Als Jo Rotblat Ehrendoktor unserer Universität in Liverpool wurde, sagte
er, grauhaarig und aufrecht: „Vergesst nie eure Menschlichkeit - never
forget your humanity." Die überlebenden Opfer von Hiroshima und ihre
Nachgeborenen wissen was das heißt. Mächtige und Wissenschaftler mögen
es bedenken. Man lernt darüber besonders viel in Hiroshima.
Epilog
Helmut Schmidt schrieb in das Besucherbuch des Friedensmuseums in
Hiroshima, dies hier möge nie mehr passieren. Warum aber geschah es
denn? Zu den Ursachen, die keiner der von mir gelesenen Opferberichte
erwähnt, gehört, dass der Faschismus Kriege neuen Ausmaßes begonnen
hatte. Der in Fernost war jedoch nahezu beendet.
Man muss kein gebildeter Historiker sein, um etwa T. Hasegawa von der
Universität Kalifornien Recht zu geben, der in seinem Buch „Racing the
Enemy" die Behauptung erneut bezweifelt, die Bombe wäre geworfen worden,
um den Krieg zu beenden, selbst wenn man noch eine große Landeaktion
plante, größer als die in der Normandie. Eigentlich genügt ein Blick auf
Ereignisse und Daten des Sommers 1945: Am 16. 7. wird die erste
Atombombe getestet, am 6. 8. die zweite auf Hiroshima und am 9. 8. die
dritte auf Nagasaki geworfen - übrigens nur deshalb, weil über dem
eigentlich vorgesehenen Kokura, das dreimal angeflogen wurde, schlechtes
Wetter herrschte. Die drei Bomben explodierten alle vor
welthistorischen Ereignissen - vor dem Auftakt der Potsdamer Konferenz
am 17. 7., vor dem Beginn der Mandschureioffensive der UdSSR am 8. 8.
sowie vor der Kapitulationserklärung Japans, die am 15. 8. erfolgte. Die
Wirkung der Atombombenabwürfe auf Japan sollte nicht Strahlung sondern
Herrschaft sein. Ihre Folge jedoch waren Tod und Wettrüsten.
Im Friedensmuseum findet man eine Aufstellung des Stockholmer
Internationalen Friedensforschungsinstitutes SIPRI darüber, welche
Länder im Jahre 2010 wie viele Sprengköpfe besaßen: USA - 9.600,
Russland - 12.000, Großbritannien - 225, Frankreich - 300, China - 240,
Indien - 60 - 80, Pakistan - 70 - 90, Israel 80.
Heute brächten intelligente Raketen auf der Basis moderner, Satelliten
gestützter Erkundung ihre Last bei jeder Witterung ans Ziel. Das gute
Wetter, das Hiroshimas und Nagasakis Tragik war, es wäre kein Kriterium
mehr in einem „target committee".
Die Sprengkraft der sowjetischen Wasserstoffbombe „Zar" (1961) entsprach
der von 3.000 Hiroshima-Bomben und war siebzehnmal stärker als alle im
Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben zusammen. Die Menschheit kann sich
nun total, sofort, mehrfach vernichten. Ist die Welt sicherer, wenn
alle Kernwaffen haben und sich gegenseitig auslöschen können, oder haben
die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki wie auch Pugwash Recht, die
eine atomwaffenfreie Welt fordern? Die Kernwaffen und den Krieg müsse
man abschaffen, so Rotblats Vermächtnis. Über all das denkt man erneut
nach, anlässlich einer Tagung über Elementarteilchenphysik in Hiroshima.