Staatlicher Rassismus und migrantische Subversion in der DDR
Sechshundert Algerier streiken in der DDR! Diese Schlagzeile wäre 1975 so brisant gewesen, dass sie in der staatlich gelenkten Presse nicht gedruckt wurde. Die LeserInnen von Neuem Deutschland und Junger Welt erfuhren nicht, dass in acht Betrieben algerische VertragsarbeiterInnen für höhere Löhne, die Erhöhung der sogenannten Trennungszulage, bessere Lebensbedingungen in den Heimen sowie für die Absetzung der algerischen BetreuerInnen in den Ausstand traten — dem in der DDR geltenden Streikverbot zum Trotz. Zumindest bezüglich der Trennungszulagen war der Streik erfolgreich. Zwar blieb die DDR bis zu ihrem Ende eher ein Auswanderungs- denn ein Einwanderungsland. Migrantische Kämpfe gab es aber auch hier. Zwischen Anklam und Zeitz wird heute jedoch eher der Mythos von realsozialistischer „Völkerfreundschaft“ und „Internationaler Solidarität“ gepflegt, als an diese Auseinandersetzungen erinnert.
Vertrackte Verträge
Mit einem Prozent Nichtdeutscher am Anteil der Gesamtbevölkerung war die DDR quasi „ausländerfrei“. Fast die Hälfte aller MigrantInnen waren VertragsarbeiterInnen aus Ungarn, Polen, später auch aus Algerien, Vietnam und Mosambik. Sie sollten in den Volkseigenen Betrieben arbeiten, aber gleichzeitig möglichst wenig kosten und vor allem nach spätestens vier Jahren das Land wieder verlassen. Beziehungen zwischen DDR-BürgerInnen und VertragsarbeiterInnen waren nur begrenzt vorgesehen — für Eheschließungen gab es hohe Hürden. Beim MfS wurden in den 1980er Jahren sogar Dissertationen verfasst, die sich der Verhinderung binationaler Ehen widmeten. Eheersuchen von Menschen aus asiatischen oder afrikanischen Ländern wurden häufig abgelehnt. Bis 1989 heirateten lediglich sechs Mosambikaner, zwei Angolaner und 323 VietnamesInnen. Zum Teil hatte die Verweigerung der Ehe und das damit mögliche, aber nicht automatisch daran geknüpfte Aufenthaltsrecht tragische Folgen. Eine junge Frau, deren mosambikanischer Freund sich selbst getötet hatte, nachdem trotz eines gemeinsamen Kindes die Eheschließung verweigert wurde, schrieb in den 1980er Jahren in einem resignierten Brief an den Leiter der mosambikanischen Delegation: „Beide Regierungen, unsere und Ihre Regierung, müssen sich in Zukunft gut überlegen, wenn junge Leute zum Arbeiten zu uns kommen, dass es auch Liebe unter den Menschen gibt. Ob schwarz oder weiß. Warum kann man nicht zusammenleben?“ Die Antwort war auf Seiten der DDR: Kostenkalkül. Die VertragsarbeiterInnen sollten den Arbeitskräftemangel in der DDR beheben, aber nach Möglichkeit keine staatlichen Leistungen wie Kinderbetreuung oder knappen Wohnraum in Anspruch nehmen. Dies war einer der zentralen Gründe, warum z.B. vietnamesische Frauen, die während ihres Aufenthalts in der DDR schwanger wurden, zum Schwangerschaftsabbruch gedrängt oder zurück geschickt wurden. Die Kosten des bisherigen Aufenthalts mussten sie in diesem Fall selbst übernehmen. Noch im Juli 1989 wird in einem Bericht des Rates der Stadt Halle mit Bezug auf die vietnamesischen Angestellten argumentiert, dass eine Versorgung von Kindern die ohnehin schon an der Kapazitätsgrenze arbeitenden Krippen überfordern würde.
Heim statt Daheim
Der Alltag von MigrantInnen in der DDR war stark reglementiert, die kasernierte Unterbringung in Heimen erleichterte Überwachung und Sozialkontrolle. Wie stark dies in das Leben von VertragsarbeiterInnen eingriff, variierte allerdings stark. In manchen Heimen gab es tägliche Zimmerkontrollen, in anderen konnte eine gewisse Freizügigkeit ausgehandelt werden. Dennoch: Informationen wurden sowohl von den lokalen Dienststellen des MfS, aber auch durch die zentrale „Arbeitsgruppe Ausländer“ der Staatssicherheit und die sogenannten BetreuerInnen aus den Herkunftsländern gesammelt. Spektakuläre Proteste wie der bereits erwähnte algerische Massenstreik blieben zwar die Ausnahme. Allerdings wurden in den Wohnheimen viele Kontakte geknüpft, die kollektives Handeln begünstigten. Im Vergleich zu den deutschen ArbeiterInnen galten die ausländischen Arbeitskräfte daher auch als streikfreudig. Schätzungen zu Folge ging fast ein Drittel der Arbeitsniederlegungen in der DDR von ausländischen Arbeitskräften aus. Häufig geschah dies spontan, z. B. nach der Auszahlung des ersten Lohns. Dieser fiel auf Grund von Abzügen oft deutlich geringer aus als erwartet. Nicht immer waren Arbeitsniederlegungen so erfolgreich wie der Streik der AlgerierInnen von 1975. In Leipzig kam es 1987 nach einem Streik von 54 kubanischen ArbeiterInnen zu Abschiebungen und der Streichung der Trennungszulage, deren Erhöhung die algerischen Beschäftigten mit ihrem Arbeitskampf erfolgreich durchgesetzt hatten. Widerständiges Handeln von MigrantInnnen fand häufig auch wesentlich diskreter statt. Eigensinnige Praktiken bestanden darin, sich der Regulierung zu entziehen. Einige entstammen dem gängigen Arsenal proletarischer Subversionsstrategien. Selbstzeugnisse wie das des Kubaners Leonel Fuentes, der u.a. in Leuna und Zeitz arbeitete, zeigen, dass auch VertragsarbeiterInnen recht gut wussten, wie man Krankheiten simuliert oder sich der Aufsicht von Vorgesetzten erfolgreich entzieht. Es gab aber auch spezifische Praktiken, wie die Realisierung von so nicht vorgesehenen Migrationsprojekten, z. B. durch die Bestechung von FunktionärInnen im Herkunftsland. Für viele MigrantInnen bot der Aufenthalt in der DDR trotz der vielen Reglementierungen die Aussicht auf Verbesserung der Lebensbedingungen. Hierfür bezahlten einige beträchtliche Summen, um auf die Liste der entsandten ArbeiterInnen zu kommen. In den Akten der Erfurter Stasi ist die Rede davon, dass einige VietnamesInnen bis zu 8000 Mark an Bestechungsgeld gezahlt hätten, um auf die Listenplätze zu gelangen. Das Geld wurde oft geliehen und z. T. mit Sätzen von bis zu 80 Prozent verzinst. Das war die Kehrseite der selbstorganisierten, beschränkten Reisefreiheit. Auch die Besuchsverbote in Heimen wurden immer wieder erfolgreich unterlaufen. Besonders die vietnamesischen aber auch schwarze VertragsarbeiterInnen machten sich zu Nutze, dass die meisten DDR-BürgerInnen sie nur schlecht unterscheiden konnten. Gegenseitige Besuche von VertragsarbeiterInnen aus unterschiedlichen Städten, die eigentlich nicht vorgesehen waren, fanden daher, so legen Zeitzeugenberichte, aber auch Stasiakten nahe, in großem Ausmaß statt. Bei Kontrollen kam es zu Handgreiflichkeiten und lautstarken Auseinandersetzungen. Einigen VietnamesInnen gelang es sogar, sich zum Teil über mehrere Jahre illegal in der DDR aufzuhalten. Sie tauschten hierfür Ausweispapiere oder nutzten solche von längst ausgereisten FreundInnen.
Markenpiraten der Planwirtschaft als Blitzableiter der Nomenklatura
Zur Unterstützung von Familien und zur Rückzahlung der bereits genannten Kredite, versuchten VertragsarbeiterInnen ihre Löhne aufzubessern. Da die DDR Mark im Ausland als Tauschmittel wertlos war, mussten VertragsarbeiterInnen, die Geld an ihre Familien schicken wollten, dieses in US-Dollar oder andere westliche Währungen konvertieren. Eine Alternative war der Export von Mopeds, Fahrrädern und Fernsehern, die sich auch im Ausland gut weiterverkaufen ließen. Mit den mageren Löhnen, war eine nennenswerte Unterstützung nur durch informelle ökonomische Aktivitäten möglich — zumal die genannten Konsumgüter verhältnismäßig teuer waren. Während viele VietnamesInnen in ihrer Freizeit Jeanshosen nähten und westliche Markenkleidung kopierten, nutzten andere Kontakte ins sozialistische oder ins westliche Ausland, um knappe Waren entweder auf dem Schwarzmarkt aber auch über die staatlichen An- und Verkaufsstellen zu veräußern. Der Umfang, den diese irregulären ökonomischen Aktivitäten annehmen konnten, spiegelte sich in einer Reihe von Ermittlungsverfahren wieder, die der Zollfahndungsdienst in den Jahren 1986 und 1987 aufnahm. Eine Gruppe aus VertragsarbeiterInnen und DDR-BürgerInnen wurde verdächtigt, Computer- und Tontechnik im Wert von beachtlichen 8,5 Millionen Mark ins Land geschmuggelt zu haben. Zoll und Stasi waren allerdings wegen mangelnder Sprachkenntnisse oft hilflos, so dass man Ende der 1980er Jahre versuchte, befreundete Geheimdienste in die Überwachung der MigrantInnen mit einzubeziehen. Diese irregulären ökonomischen Aktivitäten wurden von vielen DDR-BürgerInnen einerseits zum Erwerb prestigeträchtiger Konsumgüter genutzt. Anderseits wurde der Kauf von Konsumgütern in den letzten Jahren der DDR zunehmend kritisch beäugt und in gewisser Weise als Blitzableiter für Spannungen genutzt. So wurde die Knappheit von hochwertigen Konsumgütern oder die regional durchaus existierende Unterversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs von einigen DDR-BürgerInnen als Resultat des Konsumverhaltens von VertragsarbeiterInnen interpretiert. Unzutreffende, Neid und Mißgunst befördernde Gerüchte, z.B. dass die ausländischen Arbeitskräfte mit Devisen bezahlt würden, machten die Runde. Der Unmut, der aus Versorgungsengpässen resultierte, traf im Alltag eben nicht die – oft selbst hilflosen – PlanerInnen der staatlich Ökonomie, sondern die VertragsarbeiterInnen. Ernsthafte Anstrengungen, Gerüchten zu begegnen, gab es nicht. Rassistische Übergriffe, die allerdings genauso wenig öffentlich wurden wie migrantische Streiks, häuften sich gerade in den letzten Jahren der DDR.
Aufbruch, Umbruch, Enttäuschung
Mit dem Niedergang der DDR im Jahr 1989 schien es für kurze Zeit, als gäbe es die Chance eines radikalen Bruchs mit den Traditionen staatlicher Kontroll- und Regulierungszumutungen gegenüber MigrantInnen. Das kommunale Wahlrecht für Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wurde eingeführt, allerdings nur, um nach dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit einer unrühmlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder gekippt zu werden. In der Wendezeit wandte sich die Arbeitsgruppe Ausländer des Runden Tischs gegen eine Übernahme des als restriktiv kritisierten bundesdeutschen Ausländergesetzes. Auch dies bekanntlich ohne Erfolg. Als die Diskussionen über eine neue Verfassung liefen, schlug der Runde Tisch ein Asylrecht mit Rechtsanspruch und ohne Gesetzesvorbehalt vor. Etwas, dass es in der DDR, die Asyl immer nur als Gnadenakt für politisch nahestehende Bewegungen gewährte, nie gegeben hatte. Aber auch diese „Revolution“ scheiterte. Erst lehnte die Volkskammer die Vorschläge ohne Debatte ab und dann schaffte die schwarz-gelbe Bundesregierung auch das bundesdeutsche Asylrecht als Reaktion auf die Pogromme von Rostock faktisch ab. Oskar Lafontaine und Björn Engholm sorgten für die Zustimmung der SPD. Ein Großteil der VertragsarbeiterInnen wurde gezwungen, Deutschland zu verlassen und in den folgenden Jahren zündeten in Ost und West RassistInnen Wohnstätten von Migrantinnen und Migranten an. Die migrantischen Kämpfe wurden für viele Akteure mit dem Ende des Landes, in dem sie stattfanden, abrupt unterbrochen. Eine Beschäftigung mit migrantischen Kämpfen und Subversionsstrategien gegen staatliche Kontrollansprüche lohnt. Sie steht jedoch auch zwanzig Jahre nach Ende der DDR, abgesehen von einigen wissenschaftlichen Publikationen, weitgehend aus.