„Das Alte und Morsche zerfällt vor unseren Augen“ – diesen Satz rief der Thüringer AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke im Landtagswahlkampf und diesen Satz wiederholte er am Wahlabend im Oktober 2019, als er mit seiner AfD in Thüringen mit 23,4 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde. Er sieht sich als Opfer von „Mobbing“ und „Hetze“ durch die Medien, zugleich kann er gerichtlich bestätigt als „Faschist“ bezeichnet werden. Was bedeutet nun all das analytisch für Politik, die über notwendigen Antifaschismus hinausgeht?
Der Faschismusforscher Robert Paxton definierte die „obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft“ als wesenhaft für den Faschismus. Dies findet sich überall in der Propaganda der radikalen Rechten und auch in den politischen Einstellungen großer Teiler ihrer Wählerschaft wieder. 83 Prozent der AfD-Wähler*innen waren laut der Konrad-Adenauer-Stiftung 2018 der Meinung: „Wenn das so weitergeht, sehe ich schwarz für Deutschland.“
Im Durchschnitt meinen das nur 33 Prozent aller Bundesbürger*innen.
Die politische Rechte im Abwehrkampf
Niedergang, Zerfall, Apokalypse: Das sind die Bilder, mit denen rechtsradikale Kulturpessimist*innen die liberale Demokratie denunzieren, im kulturellen und vorpolitischen Feld ebenso wie im staatspolitischen. Im Wahlkampf hat die AfD immer wieder den Status quo mit der Untergangsphase der DDR verglichen und mit dem Slogan „Vollende die Wende“ den kommenden Umbruch suggeriert.
Die radikale Rechte vermischt nationalistische, rassistische und antifeministische Nostalgie mit reaktionären Untergangs- und Umsturzfantasien.
Doch in Wirklichkeit sind die Rechten nicht in der Offensive, sondern im Abwehrkampf gegen erfolgreiche Emanzipationsbewegungen und kulturelle Liberalisierungstrends. Daher wittern sie überall Dekadenz und Niedergang. Die Wählerschaft der AfD und anderer rechtsradikaler Parteien ist mehrheitlich nicht wirtschaftlich abgehängt, sondern kulturell abgehängt – weil sie überholten und demokratiefernen Ansprüchen nachhängt. Die Wähler*innen sehen den „Untergang des Abendlands“ kommen, weil für sie wichtige Kategorien der Distinktion und Hierarchisierung, wie Abstammung, Herkunft oder Geschlecht, in der realen Welt immer mehr an Substanz verlieren; freilich nicht, ohne noch immer viel Unterdrückung und Leid zu produzieren. Die Rechtsradikalen schaffen es, durch Kulturpessimismus das Unbehagen mit der Moderne zu mobilisieren. Ihr Erfolg ist nicht zuvorderst getragen durch wirtschaftlich Abgehängte, sondern durch die kulturell Verunsicherten.
Trotz aller bestehenden Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten haben sich die allgemeinen Lebensbedingungen der allermeisten Menschen auf diesem Planeten – in diesem Land und in Ostdeutschland sowieso – in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Bei aller berechtigten Kritik und allen andauerenden Problemen und Ungerechtigkeiten: Soziale Verelendungsthesen sind mehrheitlich nicht nur sachlich falsch, sondern erreichen auch die Lebenswelt vieler Adressat*innen nicht. Vor allem die Rechten (aber nicht nur) fühlen sich davon bedroht, dass ihre gelernten Ansprüche als Weiße*r, als Deutsche*r und überdurchschnittlich häufig als Mann heute nicht mehr so automatisch zu Privilegien führen wie früher noch. Die kulturelle und rassistische Aufladung sozialer Probleme, die es etwa bei der Integration oder in der Bildungs- und Wohnungspolitik gibt, führt spätestens seit Sarrazin zur Verschleierung der sozialen Frage hinter der liberaldemokratischen. Der Hinweis, dass Menschen mit der AfD gegen ihre eigenen materiellen Interessen wählen, nutzt indes kaum. Zu groß ist der sozialpsychologische Benefit, durch Rassismus die eigene Lage rationalisieren zu können. Dagegen hilft die mitleidige Umdeutung des Rechtsradikalismus als falsch adressierter Sozialprotest nichts, sondern nur die Entschleierung des rassistischen falschen Bewusstseins durch Aufklärung und Kritik.
Der Historiker Fritz Stern hat früh darauf hingewiesen, welch großen Einfluss die kulturpessimistische Geisteshaltung der „konservativen Revolution“ auf die Machtübernahme und Grauen des Nationalsozialismus hatte. In dieser Tradition steht der reaktionäre Rückschlag auch heute, erst recht in Ostdeutschland, wo der völkische „Flügel“ der AfD ihre einzige Strömung ist. Orientiert an Antonio Gramsci will die sogenannte Neue Rechte die kulturelle Hegemonie erreichen, indem sie zunächst die bestehende Vorherrschaft der liberalen Zivilgesellschaft denunziert und vernichtet. Konservative und Rechte sehen im gesellschaftlichen Fortschritt einen „Linksruck“ – das ist falsch und richtig zugleich. Einerseits waren und sind es meist ‚linke‘ Bewegungen, die Fortschritte erkämpfen: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit sind urlinke Werte. Andererseits sind sie zugleich urdemokratische Normen. Antidiskriminierung ist in Deutschland Verfassungsauftrag. Daher soll und muss der Staat den zivilgesellschaftlichen Kampf gegen Ungleichwertigkeitsideologien unterstützen – auch und gerade gegen die Rückschläge von rechts außen. Identitätspolitik und Umverteilungspolitik gegeneinander auszuspielen bringt gar nichts. Vielmehr stellt sich die Frage: Was ist aus relativen Erfolgserfahrungen emanzipatorischer Bewegungen für zukünftige Gelingensbedingungen zu lernen? Zu den Learnings zählt die interne Kritik im Verfassungsrahmen – zum Beispiel den Widerspruch zwischen Menschenwürde und Diskriminierungsverbot und bestehenden Ungleichheiten in den Fokus der Kritik zu rücken.
Es mangelt nicht an Utopien, sondern an Bewegungen zu ihrer Realisierung
Der Apokalyptik und Angstmache von rechts außen steht einerseits der liberale Fortschrittsglaube der Bürgerlichen entgegen und andererseits das progressive Zukunftsversprechen eines besseren Lebens für alle – jedenfalls idealtypisch. Doch auch im rechten Konservatismus verbreiten sendungsbewusste Personen wie Polizeigewerkschaftler Rainer Wendt oder der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen Niedergangserzählungen. Den rassistischen Kulturpessimismus hat vor allem SPD-Mitglied Thilo Sarrazin wiederbelebt und auch im sozial-ökologischen Milieu tummelt sich so mancher Untergangsprophet. Überhaupt fällt es vielen Progressiven vor dem Eindruck des Elends und der Krisenhaftigkeit der Welt schwer, Emanzipationserfolge anzuerkennen, sich darüber zu freuen und mit der Erfahrung, dass Fortschritt möglich ist, politische Visionen für einen solidarischen und progressiven Aufbruch zu artikulieren und zu vertreten.
Das Ende des Glaubens an das sozialdemokratische Versprechen einer besseren Zukunft, zumindest für die Kinder der nichtherrschenden Klasse, hat ein ideelles Vakuum hinterlassen, das vor dem Eindruck globaler Krisen immer stärker von rechten Dystopien, Nihilismus und Heilsversprechen gefüllt wird. 72 Prozent der Deutschen beklagen einer Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zu folge, es fehle eine langfristige politische Vision. Doch es mangelt nicht an theoretischen Utopien für Realist*innen, wie sie etwa der Historiker Rutger Bregman formuliert (bedingungsloses Grundeinkommen, die 15-Arbeitsstunden-Woche und offene Grenzen), sondern an inklusiven Bewegungen, Denkschulen oder Parteien, die es schaffen, eine neue gesellschaftliche Zukunftsvision zu mobilisieren, anstatt sich selbst zu verwalten. Progressive und solidarische Zukunftsentwürfe sollten jenen, die verunsichert in die nächsten Jahre schauen und sich durch die Angstmache und Schwarzmalerei der Rechten mehr und mehr als ohnmächtig erfahren, Orientierung oder zumindest eine alternative Vorstellungskraft bieten: Was kommen wird, ist ungeschrieben und es gibt eine solidarische, optimistische Alternative – sowohl zum reinen „Weiter so“ als auch zum Höllenritt in die Vergangenheit.
Angesichts der massiven Angriffe auf die Demokratie und der existenziellen Herausforderungen durch die Erderwärmung ist es an der Zeit, nach Synthesen zwischen bürgerlichem Pragmatismus und progressiven Utopismus zu suchen und den Ist-Stand als Mindeststandard für künftige Verbesserung gegen die Antidemokrat*innen zu verteidigen. Positive Erzählungen von Solidarität und Zuversicht zu skizzieren, ist noch keine Emotionalisierung oder linker Populismus, sondern – in Hinblick auf erfolgreiche Fortschritte – ein empirisch begründbarer Realismus.
Wie es gehen kann, zeigt im Kleinen der anpackende Optimismus des parteiübergreifend beliebten linken thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Obwohl seine rot-rot-grüne Koalition bei den Landtagswahlen eine Mehrheit knapp verpasste, beklagte Ramelow das Wahlergebnis nicht, sondern betonte das hervorragende Ergebnis seiner Partei und stellte zuversichtlich die Chancen flexibler politischer Mehrheiten in den Vordergrund. Wahrscheinlich hat Ramelow mehr von Gramsci gelernt als dessen rechtsradikalen Trittbrettfahrer: Denn auch Gramsci plädierte für Nüchternheit, Geduld und für Menschen, „die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“.
Dr. Matthias Quent ist Soziologe und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung in Jena. Im August erschien sein Buch: „Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“ (Piper, 18€)
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