Bildungsstreik 2009

Zum Verhältnis von Demokratie und Bildung

Aus: Forum Wissenschaft 3/2009

Die Aktionswoche des Bildungsstreiks 2009 schlug hohe Wellen in den Medien. Wie kamen Hintergründe und Ziele der AkteurInnen zu Stande?, was bewegte sich wie, bevor Überlegungen und Aktionen zum Bildungsstreik wurden? Und wie stehen die Chancen, in Folge des Streiks das übliche Bologna-bashing durch einen konzeptorientierten, gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Bildung zu ersetzen? Einen Rückblick auf die Vorab-Diskussionen an einer Hochschule und sein erstes Resümee gibt der beteiligte Friedemann Vogel.

Im vergangenen Jahr diskutierte eine überschaubare Gruppe Studierender und Lehrender auf der Herbsttagung des „Heidelberger Forums für kritische Theorie und Wissenschaft“1 über die aktuelle Situation an Schulen und Hochschulen, Konzepte demokratischer Bildung sowie deren mögliche Organisierung. Der Kern der Kritik, wie ihn auch ein Großteil der Bildungsstreik-AkteurInnen formuliert, zielte auf drei miteinander zusammenhängende Problembereiche: soziale Selektion, Vermarktung und Verwertung von Bildung sowie das Verhältnis von Bildung und Demokratie.

Drei Probleme

Zum ersten wurde der beschränkte Zugang zu Bildung durch soziale Selektion und Ausgrenzung sozial Schwächerer moniert: Bereits in der Grundschule entscheidet der soziale Status des Elternhauses darüber, ob ein Kind das Gymnasium besuchen kann und darf oder in die Real- oder gar Hauptschule abgeschoben wird.2 Während der ganzen Schulzeit prädeterminiert die soziale Herkunft eines Kindes seinen Zugang zu Wissen und sozialer Integration, ob in Form von Büchern, Nachhilfe, kulturellen Veranstaltungen oder Landschulaufenthalten. Dieser Zustand währt schon länger. Neueren Datums ist der politisch entschiedene Rückzug des Staates aus der öffentlichen Finanzierung seiner Bildungseinrichtungen, insbesondere der Hochschulen, sowie zugleich die Einführung von Studiengebühren. Damit wurde nachweislich3 eine weitere Hürde geschaffen für jene, die es nicht wagen, hoch verschuldet in ein – zudem perspektivisch völlig unsicheres – Berufsleben zu starten. In Folge verschärft sich derzeit die Schere zwischen einer immer kleiner werdenden sozialen Bildungselite und einer breiten Masse der Bevölkerung, der faktisch das Menschenrecht auf kognitive und gesellschaftliche Weiterentwicklung aberkannt wird.4

Das Prinzip der sozialen Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile vom Zugang zu Wissen und Ausbildung steht jedoch nicht allein für sich. Es geht einher mit dem Prinzip, alles menschliche Handeln und insbesondere auch Bildung am Maßstab einer unbedingten Wettbewerbs- und Verwertungslogik zu messen. In diesem Rahmen muss Bildung ,effizient‘ und verkäuflich sein, soll sie irgendeine Existenzberechtigung haben.

Dem entsprechend wird Bildung – gerade auch in der aktuellen Umsetzung der Bachelor- / Master- (BA/MA-) Studiengänge – reduziert auf die Vermittlung einzelner Fertigkeiten. Ob acht Jahre an den Gymnasien oder sechs Semester an den Hochschulen: Lehr- und Studienpläne sind an Zeit und Inhalten mittlerweile derart gepresst, dass kein Raum bleibt für die Entwicklung individueller Interessen, eigener Fähigkeiten oder gar für gesellschaftliches Engagement (und damit soziale Kompetenzen). Seminare, seit jeher die einzig verbliebenen Orte, um kontroverse Diskussionen und diskursives Denken zu üben, sind überfüllt, machen eine ‚Teilnahme‘ (das schließlich bedeutet „Inter-esse“ im Lateinischen) unmöglich. Auch viele Dozierende – wenn nicht bereits wegrationalisiert – haben dem bisher wenig entgegengesetzt: Sie sind teilweise stark überlastet, unterbezahlt und daher (verständlicherweise) gering motiviert. Und aus der Not wird keine Tugend: Die große Zahl an Lernenden und Prüfungen führt zu weiteren verwaltungsrechtlichen Regelungen, zur Deindividualisierung des einzelnen Lernenden, zur ökonomisch-bürokratischen Ausrichtung aller Lernstrukturen.

Der einzige Weg, heute als lernendes oder forschendes Individuum aus der Masse der Zahlen und Regeln hervorzutreten, ist die „Durchsetzung im Wettbewerb“. Nur „die Besten“, die „Exzellenten“ schaffen den Durchbruch. Was „das Beste“ und das „Exzellente“ jedoch ist, bestimmen heute mehr denn je nicht-wissenschaftliche Einrichtungen: nämlich wirtschaftliche, gewinnorientierte Interessengruppen.5 Die Bedienung wirtschaftlicher Interessen wird im Gegenzug – und zugleich passend zum Rückzug der staatlichen Finanzierung – mit Forschungsgeldern (Drittmitteln) belohnt.

Kurz: Die Entwicklung und staatliche Förderung von individueller Kreativität und kritisch-reflektiertem Urteilsvermögen wurde und wird derzeit ersetzt durch eine am wirtschaftlichen Markt orientierte Trichterdidaktik des schnellen Abspeicherns und Abrufens; an Stelle der (sog.) Freiheit von Lehre und Forschung trat und tritt nunmehr wirtschaftliche Abhängigkeit. Lernende und Lehrende sind nicht das Potential gesellschaftlicher Innovation, sondern nur noch zahlende Wirtschaftsobjekte auf der einen Seite und dienstleistende Wirtschaftssubjekte im immerwährenden Konkurrenzkampf auf der anderen Seite.

Doch mangelhafte Bildung ist nicht allein eine Gefahr für den vielbeschworenen Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern – und dies ist der dritte, m.E. entscheidende Punkt der Kritik – auch für die Grundlage unserer Republik seit 1949: unsere verfasste Demokratie. Denn das Funktionieren demokratischer Strukturen setzt Mitmenschen voraus, die demokratisch zu denken gelernt haben. Hierzu gehört nicht nur die grobe Kenntnis eigener verfasster Rechte und Pflichten, sondern vor allem die Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse immer von Neuem auf ihre Hintergründe zu befragen.6

Die Fähigkeit zu fragen – so wussten schon die Griechen – ist die Voraussetzung dafür, Alternativen denkend zu entwickeln. Fragen zu können bedeutet, an etwas Interesse zu haben, (lat.) „zwischen etwas zu sein“, Probleme erkennen und Lösungsansätze entwickeln zu können. Es ist die Bedingung dafür, sich eigenständig neue Sach- und Wissensgebiete anzueignen, Wissensspuren zu folgen, sie zu erforschen und daraus erneut wundernd Fragen zu generieren. Bildung in diesem Sinne ist ,demokratische‘, auf die Förderung von kritischer Urteilsfähigkeit (im kantschen Sinne) gerichtete Bildung. Ohne Bildung in diesem Sinne ist es nicht möglich, demokratische Regeln zu üben, d.h. eigene Interessen und Bedürfnisse formulieren und gegenüber anderen vertreten zu können; ohne sie ist es nicht möglich, gesellschaftliche Konflikte zu erkennen, geschweige denn, sie mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Demokratie und freie Bildung, heißt das, sind zwei Seiten derselben Medaille. Zermürbt man die eine, geht auch die andere verloren. Lernende und Lehrende kritisieren, dass wir uns derzeit genau auf diesem Wege befinden. Nicht nur die mangelnde oder gänzlich fehlende Möglichkeit, die eigene Lernumgebung aktiv und durch verfasste Mitbestimmungsrechte gestalten zu können, ist ein Symptom dafür. Inzwischen wird ganz offen Bildung mit Mauerwerk verwechselt, wie etwa an der Neuen Universität Heidelberg, an der vom „lebendigen Geist“ nicht viel mehr übrig geblieben ist als das Ziel, sie zu „renovieren“ und „mit Beamern“ ausstatten zu wollen (PM vom 21.01.2009).

Aktions-Vorbereitungen

Aus dieser Perspektive wurden im November zwei Möglichkeiten der bildungspolitischen Intervention diskutiert: Die derzeitigen Bildungsstrukturen, so die übereinstimmende Meinung, seien zu sehr verkrustet, als dass sie allein von innen heraus reformiert werden könnten. Daher bedürfe es zum einen des Aufbaus einer unabhängigen Bildungseinrichtung, eines linkskritischen, parteiunabhängigen und wissenschaftlich orientierten Think Tanks zur Reorganisierung und zum Wiederaufbau kritischer Wissenschaft. Ein „Institut für demokratische Bildung“ als hochschulexterner, doch in die Hochschulen hineinwirkender Akteur, der neben eigenständigem Lehrbetrieb insbesondere Kritik und Konzepte für eine Reorganisierung der Bildungseinrichtungen kontinuierlich erarbeitete und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte.

Zum anderen bedürfe es des Anstoßes einer breiten gesellschaftlichen Debatte über Bildung(skonzepte), die die keimende Empörung von SchülerInnen und Studierenden aufnehme und als gesellschaftliches Initialprojekt im Juni 2009 fungieren könne: der Bildungsstreik 2009. Zentral hierfür wäre jedoch eine interessengruppenübergreifende Zusammenarbeit (mit Elternvertretungen, Gewerkschaften, lokal verorteten und überregionalen sozialen Bewegungen usw.), um Bildung in ihrer komplexen gesellschaftlichen Verflechtung aufnehmen und transparent machen zu können.

Im Anschluss an die Heidelberger Tagung konstituierten sich innerhalb kürzester Zeit mehrere regionale und überregionale Arbeitsgruppen. Im Fokus standen jedoch überwiegend Fragen der Organisation, der Gruppenkonstitution und widerstreitender Interessen. Inhaltliche Arbeit trat zuweilen gefährlich in den Hintergrund, wurde auf schlagwortartige Forderungskataloge verkürzt oder – und dies zeigte sich schließlich als gewinnbringende Lösung – auf lokale und regionale Ebene verlagert. Überregional bzw. auf „Bundesebene“ blieb ein Minimalkonsens der „Forderungen“, die gegen spezifische parteipolitische Instrumentalisierung zu verteidigen man sich wiederholt zur Aufgabe machte. Insgesamt jedoch – so lässt sich rückblickend zusammenfassen – konnte die geforderte dezentrale Organisation weitestgehend realisiert werden und ermöglichte konsensorientierte Arbeit sowie Respektierung regionaler und lokaler Begebenheiten.

Gerade diese Form dezentraler Organisation sowie ein gewachsenes Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge (angeregt durch die Finanzkrise) ermöglichten m.E. auch erst breite Bündnisse auf allen Ebenen: Studierende und SchülerInnen fanden gemeinsam mit HochschullehrerInnen, LehrerInnen, Elternvertretungen und ArbeitnehmerInnenvertretungen auf die Straße und auf diverse Kundgebungen. Das vielerorts formulierte und in symbolischen Aktionen wie den ,Banküberfällen‘ vermittelte Motto „Milliarden für die Banken, nichts für die Bildung“ verband unterschiedlichste Interessengruppen und machte den „Bildungsstreik 2009“ zu einem Sprachrohr für die gesamtgesellschaftliche Unzufriedenheit.

Der Bildungsstreik hat bislang geschafft, was selbst die „68er“ trotz intensiver Bemühungen nicht erreicht hatten: die (zumindest kurzzeitige) Illusion, die Klassenunterschiede zwischen wegbrechender Mittelschicht, den Verlierern der Finanzkrise und der ,Unterschicht‘ durch ein gemeinsames gesellschaftspolitisches Projekt – hier unter dem verbindenden Thema der „Bildung von der Wiege bis zur Bahre“ (Wolf Dieter Narr) – zu überwinden: Ein Großteil der bürgerlichen Bevölkerung äußerte überwiegend Verständnis für die „friedlichen Proteste“ der Lernenden und Lehrenden. Am Tag der bundesweiten Demonstrationen gingen nach den letzten Berechnungen 270000 Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Selbst bei der Besetzung des Heidelberger Universitätsrektorats durch 300 bis zeitweise 1000 Studierende und SchülerInnen vom 17. bis 20. Juni sprachen sich die Mehrheit der durchweg konservativ-liberalen Professorenschaft, der befragten Bürgerinnen und Bürger auf der Straße sowie Bundes- und Landtagsabgeordnete für Protestformen dieser Art aus.

... und Streikaktionen

Besonders deutlich wurde und wird der Rückhalt des Protestes auch in der Medienberichterstattung zu den vergangenen Ereignissen der Bildungsstreikwoche. Nur wenige Medien (wie die BILD) blieben dem Versuch verhaftet, die beteiligten AkteurInnen als „linke Zellen“ oder „Schulschwänzer“ zu stigmatisieren und zu isolieren. Alle linksorientierten sowie die absolute Mehrheit auch der liberal-konservativen Presse entfernte sich (sofern gegeben) von ihrer anfänglichen Personalisierung und sprach spätestens in Folge der bundesweiten Demonstrationen explizit oder implizit (z.B. durch Verknüpfung zu streikenden Kita-Angestellten) von einer „sozialen Bewegung“, die das Land erfasst habe. Selbst die „Welt“ titelt in einem Leitartikel vom 21.06.2009: „Für Bildung kann nicht genug demonstriert werden“. Und die Stuttgarter Zeitung formulierte schon früh: „Die Wut ... kann man nachfühlen“ (14.05.2009).

Allein: Die Motive der verschiedenen Medienakteure, den Bildungsstreik insgesamt positiv zu bewerten, sind höchst unterschiedlich. Verorten linke und linksliberale Medien die aktuellen bildungspolitischen Probleme tendenziell in einer grundlegenden Demokratie- und Kapitalismuskritik, fokussiert die liberale und konservative Presse ihre Kritik auf „Bologna“, BA/MA und das Verschwinden eines meist schemenhaften „humboldtschen Bildungsideals“. Forderungen nach einer Demokratisierung, nach sozialer Durchlässigkeit oder nach einer Finanzierungspflicht des Staates bleiben in der Regel marginal oder gänzlich unbeachtet. „Bologna“ ist und bleibt eine unreflektierte Diskursfiktion, die für sämtliche Missstände an den Hochschulen argumentativ in Anspruch genommen wird, ohne dass klar unterschieden würde zwischen völkerrechtlich unverbindlichen Vereinbarungen und dem, was die konservativ geprägte Politik in Deutschland zu verantworten hat. Der Vorwurf, lediglich zur alten ,Freiheit‘ der Ordinarienuniversität zurückkehren zu wollen, gewürzt mit einer guten Brise Exzellenz, Elite und effizientem Wettbewerb, ist daher gegenüber einem Großteil der bürgerlichen Medienakteure berechtigt.

Der Bildungsstreik mag daher nach den Montagsdemos gegen Hartz IV „die größte soziale Bewegung der vergangenen Jahre“7 gewesen sein; er hat jedoch längst nicht alle Studierenden erreicht. Die bisherigen Veränderungen an den Hochschulen im Hinblick auf Wettbewerb und Effizienz haben längst ihre Spuren hinterlassen. Die Frusttoleranz liegt schon bei vielen sehr hoch, oder in den Worten eines Jura-Studierenden im ZDF: „Politisch zu sein ist ein Luxus, den man sich heute nicht mehr leisten kann.“ Zu tief sitzen bereits Apathie und deutsche Lehnstuhl-Mentalität. Dieser Aspekt bedarf m.E. intensiver Beobachtung, soll die bildungspolitische Arbeit auch nach dem ,Event‘ Bildungsstreik fruchtbar sein.

Lehrende im Bildungsstreik

Auch die Rolle der Lehrenden vor und während des Bildungsstreiks und danach war, ist und bleibt überwiegend widersprüchlich. Die eigene politische Passivität gegenüber Elitisierung, Exzellenzgehabe, Drittmittel-Druck, BA-/MA-Reformierung usw. wird bislang nicht aufgegeben – oder wenn, dann nur im Schatten der Studierendenproteste (z.B. durch persönliche Solidaritätsbekundungen gegenüber BesetzerInnen oder Petitionsunterzeichnungen bei bereits mehreren Hundert Unterschriften u.ä.). Auch findet, soweit ich es überblicke, kein Austausch unter Lehrenden der Schulen und der Hochschulen statt (wie es auf der Ebene der Lernenden geschieht). Der klammernde Rückzug auf die letzten eisernen Hiwi-Reserven ist insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Fleisch und Blut übergegangen. Keine Absage an Studiengebühren. Kein Eingeständnis von Arbeitsfehlern bei BA / MA oder partizipatorische Öffnung der Entscheidungsprozesse etwa auf Institutsebene. Keine öffentlichen Stellungnahmen oder Forderungen an die Politik. Gelingt es nicht, hier weiterhin lokal und überregional eine Veränderung herbeizuführen und das Gespräch zwischen Professorenschaft, Mitgliedern des akademischen Mittelbaus, Lernenden und auch Gewerkschaften zu eröffnen, dürften bildungspolitische Forderungen (wie die des Bildungsstreiks) nur weiter intern für eigene Interessen instrumentalisiert werden.

Die Passivität der Lehrenden wiegt umso schwerer, als die Politik schon seit Jahren und derzeit noch verstärkt hilflos auf die bürokratischen Verwaltungsmonster, ihre Bildungseinrichtungen, reagiert. Erschütternd, wie gering die bildungspolitischen Kenntnisse von Abgeordneten etwa im Bundes-, aber auch in den Landtagen sind (wie sich in den Fraktionsgesprächen und einzelnen Kontakten zu Abgeordneten während der Bildungsstreikwoche immer wieder zeigte). Ähnlich dem Gesundheitssystem haben die Verantwortlichen im Grunde längst den Überblick verloren und greifen daher dankend nach Konzeptangeboten von CHE oder Hochschulrektorenkonferenz, was sich bis in die Installation von fragwürdigen Administrationsprogrammen niederschlägt.

Sämtliche Reaktionen auf den Bildungsstreik von Seiten der Bildungspolitik beschränken sich bislang auf Lippenbekenntnisse zur Reformierung der BA- / MA-Strukturen oder üben sich darin, das Thema in die Sommerpause zu verschleppen. Ankündigungen wie die geplante „Bologna-Konferenz“ lassen nichts Gutes erahnen, erinnert man sich an den letzten „Bildungsgipfel“ von Frau Schavan. Möchte man sich verlässlich an Aussagen der Bundes,bildungs‘ministerin halten, so am besten an jene, die da meinten, die Forderungen der Lernenden seien „gestrig“ und der „Bologna-Prozess“ sei „alternativlos“.8 Offener lässt sich die Absicht, im Grunde weiter zu machen wie bisher, nicht artikulieren. Genau so nimmt dies auch die Mehrheit der Bildungsstreik-Beteiligten wahr.

Gewinn: Politisierung


Möchte man ein Resümee zu dem bisher Erreichten ziehen, so fiele es m.E. nüchterner aus, als es manche Meldung über erzielte Reformbeschlüsse (etwa von und an der FU Berlin9) glauben machte. Die grundlegenden Forderungen im Rahmen des Bildungsstreiks insbesondere nach einer Demokratisierung der Bildungseinrichtungen konnten bislang nicht ansatzweise diskutiert werden. Zu väterlich, von „Gipfeln“ schauend10 oder schlicht instrumentalisierend umarmen Politik und Rektorate die BildungsprotestlerInnen und bieten versöhnende „Gespräche“ an.

Nichts desto trotz: Der Bildungsstreik und die breite Akzeptanz der Kritik in der Bevölkerung hat eine kleine Politisierungswelle in den Bildungseinrichtungen in Gang gesetzt, wie sie schon lange überfällig war. Das Zusammendenken komplexerer Zusammenhänge von Bildung, Arbeit und Demokratie hat an den (Hoch-)Schulen gerade erst begonnen, aber es bildet den Grundstein für die weitere Arbeit.

Dieses Potential auf verschiedenen Ebenen gilt es in die Entwicklung konkreter Utopien zu investieren. Weitere aktionistisch orientierte Proteste (so kreativ sie auch sein mögen) können nur fruchtbar sein, wenn sie auf einem ausgearbeiteten Fundus alternativ denkbarer Bildungskonzepte fußen. Hierfür ist es m.E. unerlässlich, in Bundes- und Landesarbeitsgruppen, gemeinsam mit Lehrenden, Elternvertretungen, Arbeitnehmervertretungen und Gruppen sozialer Bewegungen eine umfassende Expertise zur Organisierung demokratischer Bildung auszuarbeiten. Es gilt, die regionalen (v.a. landesspezifischen) Begebenheiten zu analysieren und in praktikable Bildungsmodelle zu überführen, streng nach dem Leitsatz: Verwaltungs- und Organisationsstrukturen sind zur Realisierung von (Bildungs-)Konzepten da, nicht umgekehrt.

Anmerkungen

1) http://www.kritischetheorie-hd.de

2) IGLU-E 2006. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich. Zusammenfassung. Hrsg. von Wilfried Bos, Sabine Hornberg, Karl-Heinz Arnold, Gabriele Faust, Lilian Fried, Eva-Maria Lankes, Knut Schwippert und Renate Valtin, http://iglu-www.ifs-dortmund.de/assets/files/iglu06_band2_pressemappe_farbig.pdf (26.06.2009).

3) Heine, Christoph, Quast, Heiko & Spangenberg, Heike (2008). Studiengebühren aus der Sicht von Studienberechtigten. Finanzierung und Auswirkungen auf Studienpläne und -strategien. HIS: Forum Hochschule (15). http://www.his.de/pdf/pub_fh/fh-200815.pdf (26.06.2009).

4) Hartmann, Michael (2006). Die Vertiefung der Unterschiede. In: Der Freitag, 35. http://www.freitag.de/2006/35/06350401.php (26.06.2009).

5) Knobloch, Clemens (2006). Vom Menschenrecht zur Markenware. In: Der Freitag, 28 http://www.freitag.de/2006/28/06280401.php (26.06.2009). Vgl. auch die Beiträge in Bultmann, Torsten & Wernicke, Jens (Hrsg.) 22007). Netzwerk der Macht – Bertelsmann. Der medial-politische Komplex aus Gütersloh. Marburg: BdWi-Verlag.

6) Organisierung demokratischer Bildung. Kritik der Verhältnisse und Gegenentwurf (2009). Hrsg. vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Heidelberger Forum für kritische Theorie und Wissenschaft, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u.a. http://kleinervogel-v.de/forum/index.php?option=com_content&task=view&id=106&Itemid=27 (26.06.2009).

7) Peter Grottian am 20.06.2009 in der taz (http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/studis-wollen-weiter-streiken/ (26.06.2009).

8) Anette Schavan am 17.06.2009 im Deutschlandfunk (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/983613/ (27.06.2009)).

9) „Bildungsstreik. FU überarbeitet Bachelor.“ (taz vom 24.06.2009; http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Bachelor-Hochschulen-Bildungsstreik;art304, 2830751 (27.06.2009)).

10) Bildungsstreik. Im Basislager des studentischen Protests. (FAZ vom 17.06.2009; http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~EF6DC3453059543888DAB650ED032BDE9~ATpl~Ecommon~Scontent.html (27.06.2009)).


Friedemann Vogel ist Sprachwissenschaftler am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und arbeitet derzeit im Bereich Linguistische Mediendiskursanalyse und Rechtslinguistik. Er ist Mitbegründer des „Heidelberger Forum für kritische Theorie und Wissenschaft“ und Mitgestaltender im Bildungsstreik 2009 (www.KleinerVogel-v.de).