Tierlieb? Lerne Metzger!

Daß ausreichende Bildungs- und Ausbildungsangebote für den "Standort Deutschland" von existenzieller Bedeutung seien, gehört zu den über alle Medien verbreiteten Standardfloskeln unserer politisch

Kaste und der Wirtschaftslobby. Im Widerspruch dazu verhindern sie alle Versuche, mit gesetzlichen Mitteln - zum Beispiel mit einer Ausbildungsplatz-Abgabe - für ausreichende Lehrstellenangebote zu sorgen. Kapitalbeflissene Politik baut auf "Freiwilligkeit" und "Einsicht" der Arbeitgeber, auf deren "Lehrstellen-Versprechen" und den "Ausbildungspakt". Kapitalfromme Massenmedien sorgen dafür, daß auch diese Form praktizierten Aberglaubens als "alternativlos" und "realistisch" erscheint.

Nichts als Seifenblasen. Auch im beginnenden neuen Ausbildungsjahr klafft zwischen der Zahl der Lehrstellenangebote und jener der Lehrstellengesuche wieder die gewohnte riesige Lücke. Um sie zu ermessen, darf man sich nicht von schönfärberischen und beschwichtigenden Mitteilungen der Arbeitgeberverbände täuschen lassen. Und von der Zahlenakrobatik der Bundesagentur für Arbeit auch nicht. Man muß die Sozialforschung befragen.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn, eine wissenschaftliche Einrichtung unter Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, rechnete Ende August mit 570.000 Lehrstellen. Günstigstenfalls werde sich diese Zahl bis Ende September noch auf 580.000 erhöhen. Demgegenüber seien Ende August bereits 702.800 Lehrstellenbewerber registriert gewesen.

Es werden also in diesem Jahr wiederum 120.000 bis 132.000 junge Menschen vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen.

Beunruhigen müsse, so das Bundesinstitut, daß inzwischen unter den Lehrstellenbewerbern 354.000, also fast 51 Prozent, "Altbewerber" seien. Es handele sich um Bewerber, die sich seit mindestens einem Jahr vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemühen. Diese "Welle" von Erfolglosen schiebt sich von Jahr zu Jahr höher auf. Darin schwimmen einige besonders Unglückliche bereits seit mehreren Jahren, und ihre Aussichten, endlich doch noch irgendwo festen Boden unter die Füße zu bekommen, verringern sich mit jedem weiteren Jahr erfolgloser Suche.

Damit niemand darauf verfällt, unser kapitalistisches Wirtschaftssystem für das eklatante Versagen beim Arbeitsplatz- und beim Ausbildungsplatz-Angebot verantwortlich zu machen, betreiben die Massenmedien Schuldzuweisung an die Schwächsten unserer Gesellschaft: an die sogenannten "Lernbeeinträchtigten". Man könne, so tönten kommerzielle wie auch öffentlich-rechtliche Sender, die Arbeitgeber doch verstehen, wenn sie es ablehnten, infolge mangelhafter schulischer Leistungen unfähige (und infolge mangelhafter elterlicher Erziehung undisziplinierte) Lehrlinge einzustellen. Die NDR-Sendung Panorama schlug in diese Kerbe, und auch Ulrich Wickert verabschiedete sich grinsend mit einer entsprechend infamen Moderation von seinem ARD-Tagesthemen-Publikum.

Als "Lernbeeinträchtigte" gemäß Definition des Sozialgesetzbuchs III gelten in Deutschland derzeit 132.00 Jugendliche. Von ihnen werden 42.600 in außerbetrieblichen (meist kommunalen, kirchlichen oder staatlichen) Einrichtungen zu Schulabschlüssen geführt und sind noch keine Lehrstellenbewerber. 46.600 weitere "Lernbeeinträchtigte" haben bereits eine Lehrstelle und bekommen begleitende unterstützende Maßnahmen. Es verbleibt eine Gruppe von 43.600 Jugendlichen, die zwar einen Schulabschluß haben, nun aber vorbereitende Maßnahmen für die Berufsausbildung brauchen. Ein Teil dieser dritten Gruppe ist in der Gesamtzahl von 702.800 Lehrstellensuchenden erfaßt. Und diese kleine, statistisch nicht eigens ausgewiesene Gruppe junger Menschen mit unterschiedlichen Formen von "Lernbeeinträchtigung" dient nun einigen zumeist hochbezahlten Journalisten dazu, vom 120.000fachen neuen Lehrstellen-Defizit abzulenken.

Unbeachtet bleibt, daß ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen heute in Verhältnissen aufwächst, in denen es weder feste Arbeit noch geregelte Arbeitszeiten noch ausreichende Familieneinkommen gibt, dafür aber um so mehr Sorgen und Streß - und daß in solchen Familien die Kraft für eine Erziehung schwindet, mit der der Nachwuchs zur Überlebensfähigkeit in unserer Ellenbogen-Gesellschaft getrimmt werden könnte. Verschwiegen wird, daß nach Angaben der Wohlfahrtsverbände zur Zeit jedes sechste Kind in Armut aufwächst, weil es mit seiner Familie auf Sozialhilfe-Niveau leben muß. Daß Lernbeeinträchtigung und Verhaltensgestörtheit junger Menschen zumeist aus sozialer Benachteiligung erwachsen, schert die Kommentatoren nicht. Die rufen auch nicht Regierungen und Parlamente auf, die Sparmaßnahmen bei Schulen und Bildungseinrichtungen abzubrechen und auf Gegenkurs zu gehen. Nicht die Wirtschaft, nicht die politischen Rahmenbedingungen, nicht unsere Gesellschaft - nein, die Jugendlichen selbst sollen an ihrem Elend schuld!

In dieser aufgehetzten Atmosphäre fragt kaum jemand mehr danach, wie viele Lehrstellenbewerber eigentlich noch einen Ausbildungsplatz erhalten, der ihren ursprünglichen Berufswünschen wenigstens halbwegs entspricht. Und wie viele Bewerber andererseits sich gezwungen sahen, zu nehmen, was sie kriegen konnten. Unbekannt also bleibt die Zahl der jungen Menschen, die schon vor dem Start in ihr Arbeitsleben die Hoffnung auf Erfüllung in einem frei gewählten Beruf begraben mußten: Du liebst Tiere? Macht nichts, lerne Metzger!

Den Spießbürger regt das alles nicht auf. Der alltägliche, vor allem der allabendliche Ablenkungs- und Irreführungsjournalismus hat ihn längst abgestumpft.