"Ich zähle auf Sie"

Frankreichs Präsident Sarkozy betreibt eine Politik des

Trotz oder gerade wegen ihrer kolonialen Vergangenheit gelten in der französischen Republik strikt universalistische Prinzipien.

Die Titelseite der Neujahrs-Sonderausgabe 2008 einer der wichtigsten Zeitungen für die chinesischstämmige Bevölkerung in Frankreich zierte ein übergroßes Portrait von Präsident Nicolas Sarkozy. Im Text daneben übermittelte der oberste Mann der Republik an "seine lieben Freunde" die besten Wünsche zum chinesischen Neujahrsfest. Neben der zu erwartenden Anbiederung an die Adressaten als "lebendige Inkarnation des Austausches zwischen Europa und China" hielten die Glückwünsche auch Ungewöhnlicheres bereit. So betonte der Präsident, das chinesische Neujahrsfest sei besonders "wichtig für Personen, die, wie Sie fern von ihrem Land oder dem ihrer Vorfahren leben". Es sei "die einzigartige Möglichkeit, ihre Traditionen, ihre Wurzeln, ihre Identität zu feiern".
Ungewöhnlich ist dies deshalb, weil Sarkozy den Franko-Chinesen, von denen die meisten in Frankreich geboren sind, eine Identität jenseits der französischen zuspricht und deren Konservierung propagiert, um am Ende mit großer Umarmungsgeste zu schließen: "Ich zähle auf Sie." Eine solch dezidierte Anrufung eines partikularen kulturellen Hintergrundes eingewanderter Bevölkerungsteile ist für das streng universalistische, antikommunitaristische Selbstverständnis der Französischen Republik nicht gerade alltäglich. Denn der Gesellschaftsvertrag (die konzeptionelle Grundlage des Staatsaufbaus) des Landes setzt offiziell immer die einzelnen BürgerInnen ins direkte Verhältnis zum Zentralstaat. Jegliche politisch-kulturellen Vermittlungsinstanzen sollten beseitigt sein, was gleichzeitig den Weg für das Selbstverständnis als republikanisches Einwanderungsland eröffnete, das prinzipiell jedem offen stehe.

Das Plus der Religionen
Schon bei der ersten Integrationsbewegung einer bis dahin außen stehenden Minderheit, den Jüdinnen und Juden, wurde Ende des 18. Jahrhunderts das Postulat des Universalismus unnachgiebig eingefordert. So proklamierte Graf Clermont-Tonnerre 1789 in seiner berühmten Rede: "Als Volk muss man den Juden alles verweigern, als Individuen aber ihnen alles geben. Sie müssen gleichberechtigte Staatsbürger werden." Diese grundlegenden Maximen finden sich heute im ersten Artikel der Verfassung, in der der Staat sich auf die kategorische Unterlassung jeglicher partikularistischer, kultureller und religiöser Bezugnahme verpflichtet: "Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik."
Dass nun das oberste Verfassungsorgan, der Präsident, die EinwandererInnen zur "Treue gegenüber den eigenen Wurzeln" aufruft, bleibt aber nicht die einzige auffallende Abkehr Sarkozys vom strikten Republikanismus, wie ihn noch sein Vorgänger Chirac vertrat. Diese Verschiebungen deuten auf eine, wenn auch feine, geplante politische Neuausrichtung der Integrationsmechanismen hin. So engagiert sich der ehemalige Innenminister Sarkozy schon seit geraumer Zeit für einen Bruch mit der von ihm so bezeichneten "sektiererischen Laizität". Gern spricht er auch von dem "laizistischen Fundamentalismus", der von einer "positiven Laizität" abgelöst werden soll.
In seinem Buch "Die Republik, die Religionen und die Hoffnung" schreibt Sarkozy Sätze wie: "Die Religionen sind ein Plus für die Republik". Worin dieses Plus für die Herrschaftsökonomie besteht, wird deutlich, wenn Sarkozy über die zu "spirituellen Wüsten" gewordenen Vorstädte klagt: "Überall in Frankreich, vor allem aber in den Banlieues, wo sich alle Hoffnungslosigkeit sammelt, wäre es besser, wenn die Jugendlichen eine spirituelle Hoffnung haben, anstatt als einziger Religion der Gewalt, den Drogen und dem Geld nachzurennen." Die sozialen Probleme in den Vorstädten, die regelmäßig in gegen den Staat gerichteten gewalttätigen Aufständen zum Vorschein treten, sollen durch die Aktivierung des Himmels diszipliniert werden.
So propagiert Sarkozy eine verstärkte Implantierung des Islam in den Banlieues, um auf die als muslimisch angenommenen VorstadtbewohnerInnen mäßigend einwirken zu können. Dass die sozialen Ursachen damit nicht berührt werden, stört den Katholiken weniger: "So wichtig sie auch sein mag, die soziale Frage ist für die menschliche Existenz nicht so grundlegend wie die spirituelle Frage."

Zur richtigen Herde
Auch dem anderen Problempol, den IslamistInnen, versuchen die AnhängerInnen der "positiven Laizität" auf ähnlichem Wege beizukommen. Mit der staatlichen Anerkennung und Unterstützung nicht gewalttätiger muslimischer Verbände sollen den echten FundamentalistInnen das Wasser abgegraben und die Schäfchen der richtigen Herde zugeschoben werden. Als moderate Organisation gilt allerdings selbst die Union des Organisations Islamiques de France (UOIF), der französische Zweig der Muslimbrüderschaft, der sich auch die palästinensische Hamas zugehörig fühlt. Die UOIF gehört seit 2003 zu den vom französischen Staat anerkannten Vertretungsorganisationen des Islam und wurde von Sarkozy ausdrücklich für ihre Arbeit in den Vorstädten gelobt. Als Reaktion auf die Aufnahme der UOIF in die nationale Muslimvertretung erklärte die muslimische Feministin Bethoule Fekkar-Lambiotte ihren Austritt aus dem Gremium: "Ich kann für Frankreich nicht tolerieren, was ich mit all meiner Kraft in Algerien bekämpft habe."
Die herrschaftssichernde Aktivierung der Religion durch den französischen Staat beschränkt sich nicht auf die Ebene von verbaler Anerkennung, sie gewinnt auch materiellen Charakter. So sollen die Kommunen verstärkt den Bau von Moscheen finanziell unterstützen, um den so genannten Hinterhofislam ans Tageslicht zu zerren und die Finanzierung der muslimischen Gemeinden aus dem Ausland zu ersetzen. Solche Maßnahmen sind nach dem Laizismus-Gesetz von 1905, welches jegliche Privilegierung oder Subvention von Kulten durch den Staat streng verbietet und das einen Kern des heutigen französischen Staatsverständnisses darstellt, allerdings nicht möglich. Das Projekt der "positiven Laizität" scheint jedoch einen so hohen Stellenwert zu genießen, dass die zu dieser Problematik vom Innenministerium eingesetzte Kommission Machelon 2006 empfohlen hat, das Gesetz von 1905 zu modifizieren, so dass den Gemeinden Bausubventionen erlaubt sind. Im elsässischen Strasbourg, wo das Laizismus-Gesetz auf Grund einer historischen Spezifik nicht gilt (als es verabschiedet wurde, gehörte das Gebiet zu einem weniger republikanischen Staat), wurde die finanzielle Zuwendung für den Bau eines Gotteshauses bereits praktiziert. Der Bürgermeister brachte als Rechtfertigung die damit angeblich einhergehende Senkung der Jugendkriminalität vor.
Bei solchen Kontrollversuchen handelt es sich um zielgerichtete Operationen zur Einbindung vermeintlicher und realer AngreiferInnen auf die Souveränität des Staates: IslamistInnen und Banlieue-BewohnerInnen. Offensichtlich wird dies schon allein dadurch, dass Sarkozy die inhaltliche Einflussnahme, die dem Islam zuteil wird, keinesfalls auf christliche Religionsgemeinschaften auszuweiten gedenkt. Hier mimt er den klassischen Vertreter der Trennung von Kirche und Staat und verbittet sich als Katholik den Eingriff weltlicher Instanzen in das Geschäft der Erlösung.

Fatwa gegen Riots
t Vielleicht noch gravierender als die Unterstützung von Moscheebauten ist der Versuch, kommunale SozialarbeiterInnen durch islamische Mediatoren zu ersetzen. Die bei den Banlieuesards durch ihr Paktieren mit den Repressionsorganen des Staates in Ungnade gefallenen Streetworker sollen nun durch eine Art islamischer Nachbarschaftspolizei ersetzt werden. Eine solche Praxis erfährt keinerlei Beschränkungen durch das Gesetz von 1905.
Das dazugehörige Konzept hatte die zum Islam konvertierte Soziologin Dounia Bouzar bereits 2001 in ihrem Buch "Der Islam der Banlieues" formuliert. Darin schrieb sie praktizierenden Gläubigen ein höheres Maß an Integrationsfähigkeit und insbesondere kopftuchtragenden Mädchen ein größeres Selbstbewusstsein gegenüber ihren großen Brüdern zu. Diese Annahme, die auch die Etablierung eines Netzes von islamischen SozialarbeiterInnen beinhaltete, revidierte Bouzar drei Jahre später allerdings: Sie hätte statt zu einer Sozialisierung eher zu einer Islamisierung der Vorstädte geführt.
Dass die mäßigende Mullah-Miliz im Ernstfall staatsschützend mit den offiziellen Autoritäten zusammenzuarbeiten versteht, zeigte sich während der Banlieue-Unruhen im Herbst 2005. Nicht nur, dass viele islamische Verbände, darunter auch die UIOF, in einer konzertierten Aktion eine Fatwa gegen die Riots aussprachen, auch patrouillierten Gemeindevertreter während der heißen Nächte in den Straßen, um die Jugendlichen von gottlosen Sünden abzubringen oder um der Polizei mit Hinweisen zur Hand zu gehen. Umgekehrt wandten sich Polizei und Präfektur bei Anzeichen von Krawall an die Gemeinden und baten um Intervention. Dabei beteiligte fundamentalistische Muslime stellten im Anschluss selbstbewusst die Forderung, die Polizei solle in den Problemvierteln durch islamische Respektspersonen ersetzt werden. Die UOIF ließ verlauten: "Wo Gesetze und Vorschriften nichts mehr bewirken, da spielt die Religion ihre Rolle." Vor einer solch offensichtlichen Bankrotterklärung der Instrumente der Republik schreckten die Machthaber dann allerdings doch zurück.

Der Zwang zur Identität
Diese Entwicklungen, denen die kommunitaristischen Scharia-Gerichte in Kanada als Vorbild dienen, sind eine Folge des regressiven Multikulturalismus, wie er von Sarkozy als Herrschaftstechnik implantiert wird. Es gilt zu bedenken, dass in Frankreich nicht fünf Millionen Muslime, sondern fünf Millionen Menschen maghrebinischer Abstammung leben, die durch Sarkozys Machttechnik kollektiv mit dem Islam identifiziert werden. Die Religion und der kulturelle Hintergrund ihrer Eltern wird den Jugendlichen essentialisiert. Durch die Ersetzung staatlicher SozialarbeiterInnen mit religiösen werden sie vom Staat auf eine Zwangsidentität verpflichtet, der sie sich schon längst entwunden haben.
Ähnliches spielt sich auf der Ebene der politischen Vertretung ab. In dem Maße, in dem religiöse Vertreter mehr und mehr als politische Gesprächspartner Akzeptanz finden, werden Führer bestimmter Ideologien zu Sprechern von Individuen, deren Mandat sie in keiner Weise beanspruchen können. Die Mehrzahl der in den Banlieues wohnhaften Jugendlichen hängt vollkommen anderen Kulturmustern an als ihre Vorfahren. Religiosität als wirkliches Wertekorsett jenseits von Floskeln wie "Inschallah" ist nicht bei vielen vorhanden. Angesichts lebenslanger Exklusion und Vertröstung verschwenden die Jugendlichen keine Hoffnung mehr an die leeren Versprechen staatlicher oder geistlicher Instanzen und lassen ihrer Frustration in den Riots freien Lauf. Der Wunsch nach Niederschlagung dieses Aufbegehrens eint Sarkozy und seine religiösen Freunde und lässt sie zu kommunitaristischen Instrumentarien zur Befriedung greifen, selbst wenn diese einen Bruch mit universalistischen Prinzipien bedeuten.
Das instrumentelle Changieren zwischen Universalismus und Multikulturalismus je nach Herrschaftsnotwendigkeit ist freilich nicht neu, sondern findet sich mannigfach in der französischen Geschichte. Besonders eindrücklich wird dies am Beispiel der Kolonialisierung Algeriens. Im Gegensatz zu verbreiteten Vorstellungen oktroyierte der französische Kolonialismus mit seiner "zivilisatorischen Mission" den besetzten Gebieten keinesfalls immer sein europäisches Werte- und Gesetzeskorsett auf. Nachdem die ersten Eroberungsschritte ab 1830 ins Stocken gerieten, da die Armeen um den Berber-Führer Abd Al-Qadir erbitterten Widerstand leisteten, beschränkten sich die Franzosen vorerst auf die Kontrolle der Küstenregion und beließen den Rest des Territoriums den lokalen Fürsten.
Darüber hinaus praktizierten sie mit Hilfe der bureaux arabes eine Art indirect rule à la française. Diese Verwaltungsapparate wurden gemeinsam von französischen Militärs und indigener Aristokratie geführt und dienten der Herrschaftsstabilisierung und Bevölkerungskontrolle. Das damit vollzogene Gesetz folgte dem muslimischen Recht, welches als Parallelrecht zum Code Civil der Eroberer fungierte. Mit dieser Teilung in zwei autonome Verwaltungssphären einher ging allerdings auch die Spaltung in französische StaatsbürgerInnen mit vollen politischen Rechten und dem algerischen indigènat, dem diese Rechte vorenthalten wurden. Die dem Kolonialismus typische Landnahmepolitik tat ihr übriges und erschuf zwei Klassen von BürgerInnen: KolonialistInnen und unterdrückte Indigene, wobei letztere sich durch die bureaux arabes mit eigener Zivilgerichtsbarkeit und Steuerakquise selbst verwalteten. Als Napoleon III im Rahmen seines Projektes eines "Arabischen Königreiches" plante, auch den Indigenen, die am moslemischen Recht festhalten wollen, den Erwerb der politischen Rechte und die französische Nationalität zu ermöglichen, scheiterte dies am erbitterten Widerstand der europäischen SiedlerInnen.
Immer wieder wurden zielgerichtete Gesetze und Maßnahmen für einzelne Gruppen der indigenen Bevölkerung (z.B. der NomadInnen) erlassen, um neue Arbeitskräfte für die Ausbeutung durch die Kolonialherren zu aktivieren. Die universalistische Vision gleicher Bürgerrechte, jenseits von Ethnie und Glauben, war also seit jeher den Konjunkturen von Ausbeutung und Machtstabilität unterworfen.

Die Indigenen der Republik
Gegen den Rassismus in Frankreich hat sich 2005 eine Bewegung gegründet, die ihren Namen explizit in Anspielung auf die Spaltung des kolonisierten Algeriens gewählt hat: Die Indigenen der Republik (MIR). Die postkoloniale Konstellation gerät bei ihnen allerdings zum Passepartout: Das Elend der Banlieues wird als "Beispiel für die koloniale Verwaltung der immigrierten Bevölkerung" gesehen. Den französischen PolitikerInnen wird von der MIR vorgeworfen, die Banlieues indigenisiert zu haben (womit der mediale Diskurs über die angebliche Gesetzlosigkeit in den Vorstädten gemeint ist). Seitens der MIR konstruiert man als Sammelbecken aller vom (Post-)Kolonialismus Geschädigten eine politische Identität als indigènes, die im Gegensatz zu "den weißen" Franzosen und "ihrer" Politik oder wahlweise auch der Außenpolitik George W. Bushs steht.
Zwar muss man zugestehen, dass "weiß" und "indigène" von der MIR nicht essentialisiert werden, denn es geht ihr letztlich um die Verwirklichung des Universalismus. Jedoch wird, wie so häufig bei identitätspolitischen Strategien zur Schaffung eines Kampfsubjektes, Kritik nach Innen kategorisch zurückgewiesen, was zu einer gefährlichen und homogenisierenden Burgfriedenspolitik führt. Berechtigte Klagen über die Ignoranz gegenüber Antisemitismus in den eigenen Reihen werden beispielsweise als "rassistisch" zurückgewiesen und mit der plumpen Parole pariert, man wolle sich von den Medien nicht in Juden und Muslime spalten lassen. Ansonsten wird selbst der kälteste Kaffee des Antiimperialismus wieder aufgebrüht, und man freut sich mit allen nationalen Befreiungsbewegungen.
Darüber hinaus wird mit der Anwendung des Subjektes "indigènes" als Referenzrahmen für soziale Bewegungen eine Analyseform angelegt, welche die aufständischen Jugendlichen im November 2005 schon längst überschritten haben. Zwar wurde mit den Riots auch gegen den Rassismus protestiert, die Aufständischen bezogen sich aber gerade auf keine bestimmte Ethnie oder partikulare Identität. Der Anteil an Weißen, Schwarzen und Franko-MaghrebinerInnen war fast gleich. Im Gegensatz zu vielen anderen Revolten des Subproletariats trug diese eben jenen Universalismus im Gepäck, den der Präsident durch seine Maßnahmen demontiert. Von den ins Establishment aufgestiegenen FunktionärInnen migrantischen Hintergrunds, der so genannten "Beurgeoisie", trennt die Jugendlichen genauso viel wie von deren "gallisch-stämmigen" Alliierten.
In Zeiten, in denen verstärkte positive Diskriminierung einhergeht mit der offiziellen Infragestellung des ius soli auf der französischen Südseeinsel Mayotte, weil die Insel von illegalen EinwandererInnen überschwemmt werde, in Zeiten, in denen Sarkozy mit seinem ganz eigenen Kalkül darüber schimpft, "wenn ein Muslim nicht seinen Glauben leben und weitergeben darf", in diesen Zeiten scheinen die dezentralen und a-kulturellen Organisationsformen, wie sie sich während der Riots in den Banlieues erkennen ließen, zum Klarsichtigsten zu gehören, was sich im politischen Milieu jedweder Couleur finden lässt.

Tilman Vogt lebte bis vor kurzem im Herzen der Pariser Bourgeoisie und schrieb in iz3w 302 über Kreuzberger Heimatkunst.