»Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich bleiben will«

Gespräch über Stadtbürgerschaft und inklusive Flüchtlingspolitik in Palermo

Wenn wir über das epochale Phänomen der Migration sprechen: Lohnt es, mit Palermo anzufangen?

Ja. Palermo ist eigentlich keine europäische Stadt, sondern eine Metropole des Nahen Ostens in Europa. Es ist als »Stadt der Migrant*innen« entstanden. Kürzlich hat die UNESCO Palermo wegen seiner arabisch-normannischen Traditionen zum Weltkulturerbe erklärt. Die Araber und die Normannen haben sich bis aufs Messer bekriegt – hier jedoch sind ihre Kulturen miteinander verschmolzen. Außerdem ist die hiesige Geschichte eng mit dem Jahr 1492 verbunden. Es markiert die Eroberung Amerikas, die Vertreibung der Jüd*innen und Muslim*innen aus Spanien, den Tod des florentiner Stadtherrn Lorenzo il Magnificos und das Ende der Renaissance. Aus dem ›Weltmeer‹ Mittelmeer wurde ein Binnensee mit Randlage. All das spiegelt sich in unserer Architektur und unserem Lebensstil wider.

Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert sind viele Palermitaner*innen nach Amerika oder Nordeuropa ausgewandert, und in den letzten hundert Jahren hat die Mafia verhindert, dass wir zum Anlaufpunkt für die Migration von anderen werden konnten. Lange Zeit hat die Mafia Sizilien und Palermo direkt regiert. Als 1980 der Politiker Mattarella von einer Clique aus Mafia und Teilen der Christdemokratischen Partei Italiens ermordet wurde, haben einige von uns den Kampf aufgenommen. Damals galt es als subversiv, die Gültigkeit des Gesetzes gegen die herrschende Macht starkzumachen, und so erklärten wir Palermo zur »Stadt des Rechts«. Klar, die Mafia ist nicht gänzlich verschwunden, aber im Gegensatz zu damals sitzt sie nicht mehr in der Regierung.

Heute, angesichts der epochalen Herausforderung der Migration, wäre es subversiv, die geltenden Gesetze zu unterlaufen. Nun sind wir die »Stadt der Rechte«. Wir streiten für die konkrete Verwirklichung von Rechten. Wir organisieren die größte Gay Pride Parade Südeuropas: 300 000 Leute, Familien und Kinder nehmen daran teil und von den Balkonen applaudieren die Anwohner*innen. Letztlich verdanken wir es den Migrant*innen, dass wir an unsere Geschichte anknüpfen können und wieder »eine nahöstliche Stadt in Europa« sind.

Was ist die »Charta von Palermo«, die du im März 2015 lanciert hast?

Mein Leben und meine Haltung haben sich verändert, als ich die Migrant*innen persönlich kennengelernt habe. In der aktuellen Situation müsste man die Staaten Europas eigentlich rechtlich zur Verantwortung ziehen. Sie sind dabei, einen Völkermord loszutreten, der nicht gegen die Gesetze begangen, sondern von diesen verursacht wird. Die Wanderung von Millionen von Menschen lässt sich nicht verhindern, sie hat etwas mit der Globalisierung sowie mit langjährigen politischen und wirtschaftlichen Krisen zu tun. Was es zu verhindern gilt, ist, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. Eine veränderte Herangehensweise muss damit beginnen, die Migrant*innen als Menschen zu sehen. Dazu müssen wir zwei gängige Sichtweisen revidieren, die Migration nur unter dem Aspekt des »Leidens« oder des »Schutzes« begreifen. Stattdessen gilt es »Bewegungsfreiheit« als neues unveräußerliches Menschenrecht anzuerkennen. Kein Mensch hat sich ausgesucht, wo er geboren wird. Für alle muss aber das Recht anerkannt werden, selber zu entscheiden, wo sie leben, besser leben oder nicht sterben wollen.

Ein zentrales Problem ist derzeit die Logik der Aufenthaltsgenehmigung. Sie ist ein Stück Papier, das Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt. Die Unterscheidung zwischen »Asylbewerber*in« und »Wirtschaftsflüchtling«, auf der die Politik der europäischen Staaten beruht, lässt mich schaudern: Welchen Unterschied macht es, ob das Leben eines Menschen bedroht ist, weil sich sein Land im Krieg befindet, oder weil er Gefahr läuft, zu verhungern? Aber selbst wenn wir dieser kriminellen Logik folgen: Wenn ich ein Recht auf Asyl besitze, wieso kann ich mir dann nicht ein Flugticket kaufen, regulär nach Europa einreisen und einen Antrag stellen? Es ist völlig inakzeptabel, diese Verfahren in afrikanische Länder oder die Türkei auszulagern und dort Auffanglager zu errichten. Stattdessen müssen sichere Zugangswege geschaffen werden. Mit der Charta von Palermo treten wir für eine grundsätzliche Bewegungsfreiheit ein, für die Abschaffung von Einreisebestimmungen und Aufenthaltsgenehmigungen. Es kann nicht sein, dass der einzige, der noch über eine solide internationalistische Vision verfügt, der Papst ist, nur weil es darum geht, hier eine kulturelle und zivilisatorische Grundsatzentscheidung zu treffen.

Wie versucht Palermo diese Prinzipien in der Lokalpolitik umzusetzen? Oder geht es eher um symbolische Gesten?

Immer wenn ein Schiff mit Flüchtlingen im Hafen von Palermo anlegt, bin ich vor Ort, um sie zu empfangen. Der Hafen wird dann zu einem Ort der gesellschaftlichen Organisierung, Initiativen und Behörden arbeiten Hand in Hand. Ich habe beim Polizeipräsidenten die Entmilitarisierung der Ankunftszone durchgesetzt, damit die Geflüchteten im Moment ihrer Ausschiffung keine Uniform sehen müssen. Die Schwierigkeiten fangen aber danach an: Alle brauchen Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Arbeit. Migrant*innen und einheimische Palermitaner*innen befinden sich oft in einer ähnlich prekären Lage. Mit dieser Situation umzugehen ist nur möglich dank der engen Zusammenarbeit mit dem lokalen Netz von Initiativen und Vereinen. Wir verfolgen die Idee einer neuen Bürgerschaft, in der das Recht auf aktive politische Teilhabe und kultureller Vielfalt zentral ist. Wir haben einen Rat der Kulturen ins Leben gerufen, der ein solches Modell ausarbeiten soll, bei dem die Bürgerechte allein an den Wohnsitz und nicht an die Nationalität gebunden sind.

Kürzlich hast du an einem Treffen von Bürgermeister*innen aus ganz Europa teilgenommen, das auf Initiative von Papst Franziskus organisiert wurde. Zu welchen Schlussfolgerungen seid ihr gelangt?

Es war ein wichtiges Treffen, und die Rolle, die dieser Papst spielt, ist herausragend. Für uns war es sehr wichtig, uns mit anderen Kommunalverwaltungen aus ganz Europa auszutauschen, vor allem mit Madrid und Barcelona, die sich wie wir darum bemühen, sich als »Zufluchtsstädte« zu qualifizieren (vgl. Heuser in diesem Heft). Sie sind dabei mit dem Widerstand und der Abschottungspolitik ihrer nationalen Regierungen konfrontiert, die nicht einmal die im EU-Rat eingegangenen Verpflichtungen zur Verteilung der Flüchtlinge einhalten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, ein Netzwerk von »Rebel Cities« zu gründen, das in der Lage ist, eine andere Aufnahmepolitik gegen die Politik der Nationalstaaten und der Europäischen Union auszuarbeiten und umzusetzen. Diesem Netzwerk sollten auch Städte und Bürgermeister*innen aus den Ländern Afrikas und des Nahen Ostens angehören, jenseits der formalen Grenzen der EU.

EU-Verordnungen wie die Frontex- und die Dublin-Verordnung müssen grundlegend verändert werden: Das Recht auf Bewegungsfreiheit muss auch für diejenigen garantiert werden, die nicht aus der EU stammen. Auch das Aufnahmesystem muss umgestaltet werden: Das bestehende System hat eine eigene Ökonomie hervorgebracht, von der manche massiv profitieren. Außerdem stellt die hohe Konzentration von Flüchtlingen an einzelnen Orten ein Problem dar, und zwar sowohl für die Migrant*innen als auch für die Gemeinden.

Deshalb müssen wir vor Ort, in den Städten anfangen. Unsere zentralen Werte erhalten hier ihre praktische Bedeutung. Für die jüngere Generation existieren eigentlich nur das Wohnviertel und die Welt. Die Europäische Union funktioniert auch deshalb nicht, weil sie zu einem Ort der Legitimation nationaler Egoismen geworden ist. Die Migrant*innen können uns helfen, den Nationalstaat als ersten und einzigen Bezugspunkt zu relativieren. Als Schüler von Hans-Georg Gadamer denke ich, dass die Wahl der eigenen Identität die größte Freiheitsbekundung ist. Meine ›Heimat‹ ist dort, wo ich entscheide, dass sie sein soll.

Wir müssen die Angst vieler Bürger­meister*innen überwinden, die teils stärker an ihre Parteien gebunden sind als ich. Wir müssen uns von politischen und materiellen Hindernissen befreien. Vor vier Jahren war der Haushalt der Stadt Palermo wegen der nationalen Sparpolitik und wegen schlechter Haushaltsführung dem Bankrott nahe. Wir haben ihn ohne eine einzige Entlassung saniert und dabei die volle Kontrolle über zentrale Dienstleistungen und Infrastrukturen behalten. Direkte Beziehungen zwischen den Städten und ihre Fähigkeit, Allianzen zu bilden, kann Brüche mit dem herrschenden System befördern und konkrete Alternativen aufzeigen.

 

Das Gespräch führte Beppe Caccia.

Aus dem Italienischen von Andreas Förster