Die Erinnerung an eine Subversion weiterspinnen

Performance in Guatemala

in (01.08.2006)

Im Dezember 1996 wurde in Guatemala der Friedensvertrag zwischen der Guerilla und der Nationalen Armee unterzeichnet. Mehr als drei Jahrzehnte der politischen, intellektuellen und sozialen Verfolgung

hatten die Geschichte in Trauer getränkt. Während dieser Zeit wurden sämtliche sozialen Ereignisse, bei denen sich Leute zusammenfanden, als Gefahr für den Staat betrachtet. Die Kampagne, die in den 1980er Jahren gegen die Intelligenz geführt wurde, machte es unmöglich, mit einem Buch in der Hand herumzulaufen - ganz zu schweigen von der Möglichkeit, sich auszudrücken. Aber die gegenwärtige Epoche markiert nicht den Beginn der Nachkriegszeit. Es ist vielmehr so, dass die damalige Ermächtigung der Angst, des Schweigens und des Misstrauens den Nährboden für den heutigen Zusammenbruch des sozialen Gefüges in Guatemala darstellt.

Stark beeinflusst von Dada und der Beat Generation wurde im Januar 1997 das Casa Bizarra gegründet. Inmitten der Dürre des kulturellen Angebots, der Abwesenheit von Kritik und fehlender Kunsträume oder -schulen, entwickelte sich das Casa Bizarra zu einem Laboratorium, in dem DichterInnen, MusikerInnen der guatemaltekischen Avantgarde, MalerInnen, DenkerInnen und ProtagonistInnen einer entstehenden Kunst sich zusammenfanden.
Die beiden Schriftsteller Simón Pedroza und Javier Payeras fielen in die Szenerie ein und provozierten in den Cafés und Bars mit "performativen" Lesungen, die nicht nur von Worten, sondern auch von saloppen und spontanen Gesten getragen wurden und schräge Situationen hervorriefen - Happenings, die durch ihre Unmittelbarkeit und Ungeplantheit bestachen.
Kollektiv und ohne institutionelle Legitimation oder Betreuung, wandelten sich die Initiativen sehr bald in öffentliche Demonstrationen und in Aktionen, die versprachen, das System von unkonventionellen Punkten aus in Frage zu stellen. In einer dieser Übungen des Casa Bizarra wurde nach einem Vorschlag des Künstlers Giovanni Pinzón der Zentralpark gegenüber des Regierungspalastes kollektiv besetzt. Diese bestanden darin, die zufällig vorbeikommenden PassantInnen und das interessierte Publikum, das an diesem offenen Fenster des freien Ausdrucks teilhatte, mit bunter Kreide zu bemalen. Der Besuch der Polizei war unvermeidlich, obwohl das Geschriebene und die Zeichnungen auf dem Boden nicht den bekannten politischen Pamphleten oder Zeichen zuzuordnen waren, sondern ihren Wert durch die Partizipation der Leute an den bildlichen Vorstellungen und Träumen erhielten. Die friedliche Intervention verwandelte sich in eine performative Aktion, in Verrücktheit und ein Theater des Absurden, um den Polizisten auszuweichen.

In diesem Kontext, dem es an kritischer Unterstützung und einer kulturellen Technik mangelte, die diese Phänomene einer Seite hätten zuordnen können, und ohne Kontakt zu den anderen Generationen, entstand im August 1998 die Gruppe Arte Urbano. Zeitgleich musste das Casa Bizarra vor den ökonomischen Realitäten kapitulieren und sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, den geschlossenen Raum zu verlassen und die Straße als Basis und als konzeptuelles Imaginäres zu besetzen. Die Wiederaneignung des öffentlichen Imaginären für die kreative Demonstration, die kritische Dekodifizierung der Realität und die Verhandlung von Ideen machen den grundsätzlichen Strang aus, entlang dessen sich die künstlerische Produktion, die Partizipation und das Experimentieren entwickeln. Dieser Vorschlag nahm kollektive Formen an, die in einem Umfeld entstanden, das für Kreativität und Debatten im öffentlichen Raum aufgeschlossen war.

Schon bald wurden die Straße, die Dachterrassen, die Bars, die Schaufenster der Geschäfte im Stadtzentrum, später der Wind und die Dunkelheit der Nacht frei und spontan genutzt. Es entstand eine performative poetische Verschmelzung, die mehr an das Visuelle denn an das Theatrale gebunden war.

Regina José Galindo las ihre Texte, während sie in der Luft über einer der meist befahrenen Straßen des Zentrums aufgehängt war (Le voy a gritar al viento, 1999). Sie beklagte dabei öffentlich den Missbrauch und die Misshandlung von Frauen, was am nächsten Tag auf sämtlichen Titelseiten erschien, nachdem sie ein Verkehrschaos verursacht und viele der Arterien des Stadtzentrums verstopft hatte. Im Jahr danach wickelte sie sich in einen transparenten Plastiksack, um von der Müllabfuhr abtransportiert zu werden und dann vier Stunden an dem Ort im Müll liegen zu bleiben, an dem normalerweise Föten und die Körper lebloser, anonymer Kinder liegen (No perdemos nada con nacer, 2000). Maria Adela Díaz schloss sich auf dem zentralen Markt im Stadtzentrum in einen transparenten Plastiksarg mit 20.000 Fliegen-Larven ein, die während der Aktion schlüpften (Ambrosia, 2000). Alejandro Paz machte einen Teppich von 50 Quadratmetern aus für die Maya-Kulturen repräsentativen Puppen, nachdem er sie vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofes auseinander genommen und zerstückelt hatte (Aqui no hubo Genocidio, 2000). Jorge de Leon, ein Absolvent der Hochschule für plastische Künste, nähte sich bei einer Überraschungsperformance während eines Kunst-Symposiums im Museum für Moderne Kunst mit Nadel und Faden die Lippen zu (XX, 2000) und er ließ sich das Symbol von Nike auf die Seite seines Fußes tätowieren (Nike, 2001). Sandra Manoterroso kaute gekochten Mais und spuckte ihn, nachdem sie in der Maya-Sprache Kekchí gesprochen hatte, in einem poetischen Ritual in eine Lehmgrube, bis sie genug hatte, um daraus Tortillas zu machen - ein enorm symbolbeladenes Element in der guatemaltekischen Kultur. Anschließend dekorierte sie jede Tortilla mit einem Herz, gemalt mit ihrem eigenen Blut (Tus tortillas, mi amor, 2003). Mit Aktionen wie diesen knüpfen guatemaltekische KünstlerInnen auch an verschiedene Performances der "klassischen" Body Art an (Wiener Aktionismus, Gina Pane, Chris Burden, Carolee Schneemann u. a.).

In den Erinnerungen des zeitgenössischen kreativen Schaffens in Guatemala gibt es viele individuelle wie kollektive Momente und Bemühungen gegen das Vergessen. Heute, angesichts der Misere, des Ausschlusses, der Missachtung, dem Übermaß an Ungerechtigkeiten und der wachsenden Marginalisierung von Kindheit und Jugend in Guatemala könnte man denken, dass die Kunst gegen all das nur wenig auszurichten vermag. Sie ist aber, im Gegenteil, das einzige Feld, das der Subversion bleibt, auf dem - in einem dieser Dritte-Welt-Länder ohne Bilder und mit sehr wenig Raum für kritisches Denken - neue Anknüpfungspunkte geschaffen werden.

(Übersetzung aus dem Spanischen: Jens Kastner)

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Performance, Performance", Sommer 2006.