Kultur und Geschlecht der Mobilität
In den USA gab es 2003 erstmals mehr zugelassene Fahrzeuge als Menschen mit Führerschein. Heute sind dort insgesamt 244 Millionen Pkws, Lkws, Geländelimousinen (SUVs) und Motorräder unterwegs. Neun von zehn US-Haushalten besitzen ein Auto – die meisten sogar mehr als eins, wenngleich dies ein relativ neues Phänomen ist. In den letzten Jahrzehnten hatte die US-Mittelklasse zunehmend für jedes fahrfähige Familienmitglied ein eigenes Auto. Viele Jugendliche bekommen bald nach dem Führerschein ihr erstes Auto. Am stärksten stieg die Anzahl der Autos pro Familie, als in den 1960er Jahren Frauen in großer Zahl in Lohnarbeitsverhältnisse eintraten. Anfang der 1960er Jahre besaßen 20 Prozent der Haushalte ein zweites Auto, im Jahr 2009 sind es über 65 Prozent. Immer mehr Familien schaffen sich ein drittes oder sogar viertes Auto an, sei es als Freizeit- oder Wochenendauto oder als Sammlerstück.
Wir haben nicht nur mehr Autos, sondern auch mehr Auto. Unsere Fahrzeuge sind größer und leistungsstärker als jemals zuvor. US-Hersteller haben ihre Fahrzeuge in den letzten zwei Jahrzehnten einer ›Hormonbehandlung‹ unterzogen und die PS-Zahl der Flotte fast verdoppelt. Der Verkauf sehr großer Pickups stieg 1992–2006 um das Zweieinhalbfache und große Geländelimousinen wurden in den 2000er Jahren 25-mal mehr verkauft als in den 1980ern – letzteres mit Hilfe der so genannten Hummer-Abschreibung, die es Geschäftsinhabern erlaubte, bis zu 100 000 Dollar ihrer Kosten für Geländelimousinen steuerlich abzusetzen. Effizienzsteigerungen wurden durch leistungsfähigere Motoren aufgefressen, so dass der Benzinverbrauch nicht abnahm: Der Ford Modell T, das erste Massenautomobil aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, verbrauchte erstaunliche 8,3 Liter auf 100 km, während der nationale Durchschnitt 2004 bei 9,5 Litern auf 100 km lag. Während die Autos größer wurden, nahm die Anzahl der pro Auto beförderten Menschen ab. Alleinefahren ist der Normalzustand, die durchschnittliche Belegung beträgt 1,6 Personen. Für die meisten US-Amerikaner ist das Auto viel mehr als ihr wichtigstes Fortbewegungsmittel. In einer Umfrage von 1975 gaben 71 Prozent der Befragten an, ein Auto sei unentbehrlich für »das gute Leben«; eine höhere Prozentzahl erreichten nur Hausbesitz, eine glückliche Ehe und eigene Kinder. 1991 betrug dieser Anteil sogar 75 Prozent, Autos waren wichtiger geworden als eigene Kinder, die einen traurigen vierten Platz belegten. Hierin drückt sich vielleicht lediglich ein ständig wachsendes Konsumenten-Ethos aus, aber es zeigt auch, dass das Auto der König aller Waren ist. Das Auto parkt im Zentrum unserer Glücksvorstellungen. Während manche einen pragmatischen Umgang mit dem Auto pflegen, kaufen und unterhalten andere Autos, die sie weder brauchen noch sich leisten können. Auch Bequemlichkeit ist nicht unbedingt der wahre Grund für unsere Liebe zum Auto. Viele fahren mit dem eigenen Auto zur Arbeit, auch wenn es mit öffentlichem Nahverkehr oder Carsharing stressfreier und billiger ginge. In Pittsburgh z.B. fahren täglich tausende Büroangestellte mit dem Auto in die Innenstadt, obwohl allein das Parken viermal teurer ist als der Bus, der sie an derselben Ecke absetzen würde, während ein Parkplatz erst einmal gefunden werden will; auf den Parkplätzen im Umkreis eines Bürogebäudes in Providence/Rhode Island ist die Parkzeit auf zwei Stunden begrenzt, was die Angestellten auch bei Wind und Wetter zwingt, das Gebäude zwei- oder dreimal täglich zu verlassen, um irgendwo einen neuen Parkplatz zu suchen.
Unser starkes Verlangen nach dem Auto und seine staatliche Bevorzugung vor anderen Verkehrsmitteln lässt sich an der Kleinheit der US-Nahverkehrsflotte ablesen: Sie umfasst nur 129 000 Fahrzeuge. Von acht öffentlichen Dollars für den Verkehrssektor fließt nur einer in den öffentlichen Nahverkehr, die übrigen sieben kommen dem motorisierten Individualverkehr zu Gute. Jeden Tag werden durchschnittlich 150 000 Autos gekauft. Da neue Autos teurer werden und die Qualität höher ist, fahren US-Amerikaner ihre Autos länger und kaufen zunehmend Gebrauchtwagen, aber sie kaufen weiterhin. Selbst Wirtschaftskrisen können den Kaufrausch nicht stoppen: Seit 2007 werden weniger neue Geländelimousinen und dafür mehr Gebrauchtwagen gekauft.
Für Autobesitzer ist es selbstverständlich, dass die nächste Tankstelle höchstens ein paar Kilometer entfernt ist – was angesichts von 120 000 Tankstellen in den USA meist der Fall ist. Während diese sich früher auf Reparaturen und den Verkauf von Benzin beschränkten, gleichen sie heute meist kleinen Supermärkten, die neben Scheibenwischerflüssigkeit auch Nahrungsmittel und Lotterielose verkaufen. Dies zeigt, wie wichtig das Auto fürs Einkaufen ist und mit welcher Zeit-Knappheit wir leben. Auf bemerkenswert unsichtbare Weise kommt das Benzin über Hunderttausende von Pipeline-Kilometern und mittels einer großen Tanklasterflotte zu den Tankstellen. Die Autofahrer erreichen die Tankstellen über das Infrastrukturprojekt des 20. Jahrhunderts: die Verbauung einer ungeheuren Menge von Beton und Stahl zu mehr als 6 Mio. Kilometern Straße und 600 000 Brücken – im Vergleich zu nur etwa 300 000 Kilometern Eisenbahnlinie. Die 105 Millionen Parkplätze versiegeln eine Fläche so groß wie der Bundesstaat Georgia. Die gefahrenen Kilometer wurden vom Verkehrsministerium 2008 auf 4,8 Billionen geschätzt – nahezu doppelt so viele wie 1983. Zusammen mit der zunehmenden Verstopfung der Straßen verbringen wir in der Folge durchschnittlich 18,5 Stunden pro Woche in unseren Autos – mit steigender Tendenz.
Hollywood-Geschichten erzählen, was unsere Gesellschaft ausmacht und was wichtig für uns ist. Kein Produkt steht so im Mittelpunkt des US-Films wie das Auto. Während andere Gegenstände des modernen Alltags wie Mikrowelle oder Handy bloße Requisiten sind, ist das Auto oft das zentrale Element zur Entwicklung der Charaktere oder zur Darstellung von Intrigen. Kaum ein Film der letzten Jahrzehnte, der in den zeitgenössischen USA spielt, kommt ohne Autoverfolgungsjagd und Autounfall aus, ohne schaukelndes Autoinneres mit jugendlichen Eskapaden oder Familienkonflikten oder ohne Charaktere, die sich auf road trips verlieren oder zu sich selbst finden.
TODESMAUT
Egal, ob wir Autos fahren oder anschauen, wir sind täglich viele Stunden in Autokultur eingetaucht. Autos sind überall – nicht nur auf der Straße – und wir scheinen ihre Allgegenwart zu begrüßen. Paradoxerweise hat diese enge Beziehung viele schädliche und tödliche Auswirkungen von Autos unsichtbar gemacht. In den USA ist es dreimal wahrscheinlicher, durch einen Autounfall als durch Mord zu sterben, und für Kinder gibt es kein größeres Todesrisiko als Autofahren. Seit Beginn der statistischen Erfassung 1992 sind Autounfälle die häufigste Todesursache während der Arbeitszeit, wobei Kraftfahrer, Autoverkäufer und Landwirte besonders gefährdet sind. Die meisten Menschen sind geschockt, wenn sie erfahren, dass 2007 in den USA bei Autounfällen 41 059 Menschen starben – 112 pro Tag. Dem entspräche, wenn jeden Tag ein fast vollbesetztes Passagierflugzeug in Flammen aufginge. Autounfälle ereignen sich regelmäßig, einer nach dem anderen, wie das Tropfen eines Wasserhahns. Tödliche Unfälle sind so selbstverständlich, dass sie – außer in lokalen Medien – nur erwähnt werden, wenn sie etwas Bizarres haben. Nur weil die 112 Amerikaner und die 3 300 anderen Menschen weltweit, die gestern durch Autounfall starben, nicht gemeinsam und gleichzeitig gestorben sind, haben sie es nicht in die Medien geschafft. Der Tod durch Autounfall kommt unerwartet, gewaltsam und blutig. Obwohl Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeden Geschlechts täglich durch Autounfälle sterben, trifft es in erster Linie die Jungen. Seit Jahren sind Autounfälle in der Altersgruppe von 1 bis 34 die häufigste Todesursache in den USA. Seit 1899 sind in den USA 3,4 Millionen Menschen durch Autounfälle ums Leben gekommen – mehr als US-Soldaten in allen Kriegen, die seitdem von den USA geführt wurden.
Neben den Toten gibt es zahlreiche Verletzte durch Autounfälle, allein 2007 in den USA 2,5 Millionen Menschen. Diese Verletzungen sind besonders schwer und traumatisch, weil sich unsere Körper – wenn wir uns nicht in Hochgeschwindigkeitsvehikeln befinden – nur langsam bewegen und kaum tief fallen. Verletzungen durch Autos brechen oftmals Genick, Wirbelsäule und Glieder und beschädigen Gehirn oder Herz – und führen somit zu lebenslanger Abhängigkeit, Zerstörung von Familien und schrecklichem Leid. Bislang gibt es kaum verlässliche Daten darüber, wie viele Menschen in den USA dauerhaft mit Unfallfolgen konfrontiert sind. Dutzende von Millionen Amerikanern müssen mit dem Verlust von Mutter, Vater oder Kind leben oder erleben, dass ein geliebter Mensch mit körperlichen, kognitiven oder emotionalen Unfallfolgen zu ihnen zurückkehrt. Allein in den letzten 25 Jahren gab es 1,1 Millionen Tote und 4,1 Millionen Behinderte durch Autounfälle. Wenn wir annehmen, dass im Schnitt zehn Familienmitglieder und Freunde besonders stark betroffen sind, sind das 52 Millionen Menschen. Hinzu kommt das Personal der ›Straßenkriege‹, das Tag für Tag in der Abteilung »Autounfall« der Gesundheitsindustrie im Einsatz ist: Notärzte, Feuerwehr, Polizei, Rettungswagenfahrer, Ärzte und Schwestern in der Notaufnahme, die die Verletzten sichten, stabilisieren und behandeln, dazu Sozialarbeiter, Therapeuten, Psychologen, Mitarbeiter von Leichenschauhäusern und Bestattungsinstituten. Stellt man sich den ganzen Apparat der Todesmaut, der in einem Jahr in Bewegung gesetzt wird, zu einer Zeit an einem Ort vor, entsteht ein surreales und schreckliches Bild der Größenordnung, mit der wir es hier zu tun haben.
MOTOR DER WIRTSCHAFT UND TREIBSTOFF FÜR KONGRESSKAMPAGNEN
Bald nach der Erfindung des Autos wurden die Industrien, die Automobilität produzieren, zum wichtigsten Sektor der US-Wirtschaft – wie Ende 2008 schmerzhaft offenbar wurde, als einige Autofirmen vom Konkurs bedroht waren. Zu diesen Industrien gehören nicht nur Autohersteller, sondern auch Zulieferbetriebe, Werkstätten, Mineralölkonzerne, Straßenbaufirmen, Versicherungen und der große Teil von Werbeindustrie und Medien, der den Verkauf von Autos befördern soll. 2007 wurden – nach Wal-Mart auf Platz 1 – die Plätze 2 bis 7 der umsatzstärksten US-Firmen durch Auto- und Mineralöl-Konzerne belegt. Die Autoproduktion allein macht vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und dieser Anteil steigt deutlich, wenn alle aufs Auto bezogenen Industrien mitgezählt werden. Schätzungsweise hängt jeder zehnte Arbeitsplatz am Auto. Dazu gehören die 1,3 Millionen Menschen, die 2004 direkt von Autoherstellern bezahlt wurden – wobei die »Big Three« in Detroit seitdem viele entlassen haben. Mehrere Millionen sind bei Autozulieferern im weiten Sinne und im Gebrauchtwagengewerbe angestellt. Schließlich sind der Monatszeitschrift Parking Professionals zufolge mehr als eine Million Menschen direkt im ›Parkgewerbe‹ beschäftigt, indem sie den Zugang zu Parkplätzen regeln, Parktickets und Strafzettel ausstellen, Autos umparken, Parkuhren herstellen oder Parkplätze und -häuser bauen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts – einige Jahrzehnte nach Anbruch des so genannten Informationszeitalters – hat der Computer das Auto als Herzstück und Motor der US-Wirtschaft nicht ersetzt. Noch 2002 waren die von General Motors abgesetzten Fahrzeuge siebenmal mehr wert als die von Microsoft verkauften Produkte.
Der ökonomischen Macht des Autos und der zugehörigen Industrien entspricht eine enorme politische Macht. Auto- und Mineralölkonzerne stellen regelmäßig Entscheidungsträger bis zur höchsten Regierungsebene. Autohersteller, -händler und die Gewerkschaft United Auto Workers schmieren das politische Getriebe mit Geldern von Lobbygruppen, indirekten Zuwendungen und individuellen Spenden – 15 Millionen Dollar gingen 2006 an Kongressabgeordnete. Dieses Geld hat Folgen: Von den 15 Kongressabgeordneten, die die meisten Industriegelder annahmen, stimmte 2005 kein einziger für einen Gesetzesentwurf, der höhere Effizienzstandards für Autos vorsah.
Infolge des Einflusses der Industrie wird das US-amerikanische (Liebes-)Verhältnis zum Auto seit langem von der Regierung finanziell großzügig gefördert. General Motors setzte sich stark für den »Federal-Aid Highway Act« von 1956 ein, der öffentliche Mittel für 66 000 Kilometer Autobahn über einen Zeitraum von 20 Jahren vorsah – das bis dahin größte Arbeitsbeschaffungsprojekt der USA. Aus öffentlichen Haushalten fließen bis heute enorme Summen in den Ausbau des Straßennetzes. Zusammen mit dem Druck großer Lobbynetzwerke samt der American Automobile Association führte dies zur drastischen Ausweitung des Autosystems seit den 1950er Jahren. Alternativen wie Straßenbahnen, die im frühen 20. Jahrhundert so verbreitet waren, dass sie zum fünftgrößten Industriezweig der USA wurden, wurde von General Motors der Todesstoß versetzt. Der Konzern entledigte sich – zusammen mit Firestone, Standard Oil und Phillips Petroleum – der Konkurrenz, indem er zwischen 1936 und 1950 Straßenbahnsysteme in 45 Städten aufkaufte und dann zerschlug. Zusammen mit der Regierung sorgen solche Konzerne bis heute dafür, dass kaum in öffentliche Nahverkehrssysteme investiert wird. Auch von den 2009 verabschiedeten US-Konjunkturpaketen zielen viele auf den Ausbau automobiler Infrastrukturen wie Straßen und Brücken. Dies ist ein Beispiel für den so genannten Katastrophen-Kapitalismus – wie Naomi Klein das Phänomen bezeichnet: Viele Firmen machen ihre größten Profite unter Krisenbedingungen infolge von Kriegen, Erdbeben, Tsunamis, Hurrikans oder Immobilienmarkt- Zusammenbrüchen. Obwohl viele die Krise von 2008 als wohlverdiente Strafe für die Autoindustrie ansahen (und sie war sicherlich schmerzlich für die Zehntausenden dort Entlassenen), profitierte sie in Wirklichkeit von ihr – sowohl direkt durch Rettungspakete als auch (und noch wichtiger) indirekt durch gewaltige öffentliche Gelder für den Straßenbau, die das Autosystem bis weit in die Zukunft zementieren.
MYTHEN DER AUTOIDEOLOGIE
Unser Autosystem ist nicht nur mächtig und expansiv, sondern auch gefährlich, umweltschädlich, teuer und unwirtschaftlich. Es macht die USA sozial ungerechter, als sie es sonst wären. Unablässige Werbung und Lobbyismus über Jahrzehnte haben ein tief verankertes Glaubenssystem geschaffen und verbreitet: eine ausgereifte Autoideologie. Diese ist – wie viele Elemente der Kultur – für uns unsichtbar, da wir mit ihr sehen. Wie farbige Kontaktlinsen strukturiert und begrenzt der Denkrahmen, mit dem wir aufgewachsen sind, unsere Vorstellungen darüber, wie wir uns fortbewegen, wofür wir Geld ausgeben, welche Risiken wir eingehen und wo wir leben. Für Menschen ist Kultur wie Wasser für Fische. Wir schwimmen in ihr, aber wir können sie kaum jemals wirklich sehen, weil sie überall ist. Die Autoideologie besteht aus vielen Mythen und schöpft ihre Kraft aus älteren amerikanischen Werten – deshalb haben wir sie so begeistert angenommen oder halten sie zumindest für so unvermeidlich wie das Wetter oder so unhörbar wie Hintergrundgeräusche. Sie lässt uns als normal empfinden, was sonst absonderlich erschiene: dass wir unsere geliebten Kinder auf eine Weise transportieren, die sie mit der vergleichsweise größten Wahrscheinlichkeit tötet, oder dass wir in unserem Leben Hunderttausende von Dollar für Autos ausgeben, während unsere Schulen und Renten unterfinanziert sind.
Die Existenz dieser Mythen bedeutet nicht, dass die Vergnügen des Autos nicht real wären. Selbst lebenslanges Autofahren schmälert manche seiner Freuden nicht. Die meisten Menschen sitzen gern hinterm Steuer und mögen oder lieben ihre Autos – wobei letzteres wahrscheinlicher ist, wenn man ein Mann ist, ein Luxusauto besitzt und in den westlichen USA lebt. Diese positive Einstellung zu Autos rührt nicht nur daher, dass diese Mobilität verleihen, Machtgefühle erzeugen und Spielzeuge sind, sondern auch, weil wir hoffen, mit ihrer Hilfe unsere (gemeinsamen) Werte ausleben zu können, von denen wir viele als besonders amerikanisch empfinden. Dazu gehören die Idee der Freiheit, ein Idealbild von Mann, Frau und Familie, ein unerschütterliches Vertrauen in den Fortschritt und die Überzeugung, dass Individualität mehr zählt als Gemeinschaftlichkeit. Zudem ist unsere Liebe zum Auto eng mit dem amerikanischen Traum schlechthin verflochten: dem von Chance und Erfolg. Jeder dieser Werte bildet eine Säule des Tempels der Automythen.
MOBILITÄT UND GESCHLECHT
Welche Autos wir kaufen, wie wir sie ausstatten und wie oft und bei welchen Gelegenheiten wir sie fahren, ist verknüpft mit unserer Vorstellung davon, welcher Typ Mann, Frau oder Eltern wir sein wollen. Wir sind überzeugt davon, dass der Kauf oder Gebrauch von Autos uns männlicher oder weiblicher oder zu besseren Eltern macht. Wenn junge Männer alles Mögliche über Motoren und Automarken lernen, demonstrieren sie ihre Männlichkeit, denn sie wissen etwas, was meist nur Männer wissen. Wenn Frauen Stunden damit verbringen, ihre Kinder morgens zur Schule und nachmittags zu Freizeitaktivitäten zu fahren, zeigen sie damit, dass sie keine Mühe scheuen, sich um ihre Kinder zu kümmern. Selbstverständlich wissen auch einige Frauen viel über Autos und sind auch einige Männer gern der Familienchauffeur. Aber wie auch immer sich die Vorstellungen über Geschlechterrollen im Zuge der feministischen Bewegung verändert haben, fahren und genießen Männer und Frauen ihr Auto nach wie vor verschieden und benutzen es zu unterschiedlichen Zwecken
Auch wenn Frauen heute bei etwas mehr als der Hälfte der Autokäufe die Kaufentscheidung treffen und ihre Fahrmuster und -volumen sich denen der Männer langsam angleichen, bleibt das Auto für Männer ein wichtigerer Bestandteil ihres Lebens als für Frauen. Männer fahren mehr Kilometer und fühlen sich für fast alle anfallenden Reparaturen verantwortlich. Die Anzahl der Autoverkäuferinnen liegt noch immer im einstelligen Prozentbereich. Wenn heterosexuelle Paare in ein Auto steigen, sitzt noch immer meist der Mann am Steuer – egal ob er neben einer Feministin sitzt oder selbst Feminist ist. Unser mit Pferdestärken verknüpftes Männerbild legt nahe, dass Vielfahrer, Sportwagen- und Geländelimousinen- Besitzer ein besseres Sexualleben haben als Männer, die zur Arbeit laufen, Fahrrad fahren oder einen Kleinwagen haben. Die Mythen über automobile Männlichkeit lassen uns glauben, dass der Mann mit den größten und flippigsten Reifen jede Frau bekommt. Sie lenken aber von der Tatsache ab, dass Frauen heute ihre eigenen Autos besitzen und dass Paare, die weniger für Autos ausgeben, mehr Geld für andere Dinge haben. Dennoch führen sie zur Akzeptanz potenziell lebensgefährlicher – und überwiegend männlicher – Fahrstile wie Rasen. Insgesamt sterben mehr Männer als Frauen bei Autounfällen. Am größten ist der Unterschied bei Teenagern: 2005 waren von den jugendlichen Straßenverkehrstoten 2 575 männlich und 892 weiblich.
Noch mehr als um Frauen zu imponieren scheinen Männer ihre Autos allerdings zu benutzen, um anderen Männern gegenüber ihre Männlichkeit zur Schau zu stellen. So erzählt ein Autoliebhaber, ein Geschäftsmann aus New York um Mitte 30, dass er während einer Flugreise in einem Automagazin blätterte und seinem Sitznachbarn scherzhaft sagte, er bezeichne seinen BMW 308 Coupé als »magischen mechanischen Männlichkeitsverstärker« – seine Frau nennt diesen schlicht »the Penis«. Dies gilt auch für jene, die eher zu den weniger einkommensstarken Klassen gehören: »pimping our rides means pimping ourselves«.
Sowohl Väter als auch Mütter geben an, gerne Auto zu fahren, weil sie durch Chauffieren der Kinder ihre Zuwendung und Liebe zu ihnen ausdrücken können – wobei Frauen doppelt so viele dieser Fahrten übernehmen. Viele Eltern kümmern sich – zeitlich gesehen – mehr um ihre Kinder, indem sie sie zu Schule, Sport und Freunden fahren, als durch Kochen oder andere Hausarbeit. Autos sind also zum hauptsächlichen Hilfsmittel beim Großziehen von Kindern geworden. Der Mythos, gute Eltern seien nur die, die ihre Kinder viel herumkutschieren, verdeckt die Alternativen. So könnten Kinder z.B. verantwortungsvoll erzogen werden, indem von ihnen erwartet würde, mit dem Fahrrad zum Sportplatz zu fahren – wodurch sie zudem unabhängiger würden. Darüber hinaus steht weniger Autofahren die irrige Vorstellung entgegen, die Welt sei zu gefährlich, als dass Kinder öffentliche Verkehrsmittel allein benutzen könnten. Kinder sterben aber statistisch gesehen häufiger im Familienauto, als dass sie beim Busfahren verletzt werden. Viele Eltern glauben schließlich, die gemeinsamen Stunden im Auto seien die einzigen Mußestunden, die sie mit ihrem Kind verbringen können. Sie übersehen dabei gesündere Möglichkeiten. Sie könnten ihr Kind z.B. bei einer Freizeitaktivität weniger anmelden oder eine Stunde weniger arbeiten und in dieser Zeit mit ihm spielen oder einen Waldspaziergang machen.
Drive less, live more.
Auszüge aus Catherine Lutz u. Anne Lutz Fernandez, Carjacked. The Culture of the Automobile and Its Effect on Our Lives, 272 S., Palgrave Macmillan, London 2010. Aus dem Amerikanischen von Oliver Walkenhorst.
Erschienen in "Auto Mobil Krise", Luxemburg 3-2010, 16ff.