Mangel an Gleichheitsgütern

Wenn im PDS-Programmentwurf schon von gesellschaftlichen Ansprüchen als Gütern gesprochen wird, sollten neben den erwähnten Freiheitsgütern Gleichheitsgüter als gleichrangig hervorgehoben werden.

Aus: Z 46, Juni 2001, 28-31

"Common goods" ist eine im angelsächsischen Sprachraum gebräuchliche Bezeichnung für allen Bürgerinnen und Bürgern zustehende Dienstleistungen: gewöhnliche, alltägliche, gemeinschaftliche Güter. Auf der Suche nach einem Begriff für gesellschaftspolitische Ansprüche, die zu verwirklichen nach der Überzeugung demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten allen Menschen ermöglicht werden muß, sind die Verfasser des am 27. April veröffentlichten Entwurfs des PDS-Programms offenbar auf die "common goods" gestoßen. Sie haben Gefallen an der Güter-Begrifflichkeit gefunden. Wie der Text des Entwurfs zeigt, ist es dann dazu gekommen, alles und jedes, was demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten vorschwebt und wofür sie sich einsetzen, "Freiheitsgüter" zu nennen.

Ich habe dagegen bereits anläßlich der Veröffentlichung der "Grundlinien" für die Programm-Überarbeitung Bedenken vorgebracht. Aus zwei Gründen. Erstens. "Güter" als Metapher legen nahe: etwas zu kaufen, zu erhalten, zu bekommen. Insofern kommt mir das Wort nicht geeignet vor für so etwas Prozeßhaftes wie Kampf, Ringen, Erringen. Dadurch, daß ständig von Verteilung der Freiheitsgüter oder vom Zugang zu ihnen die Rede ist, wird noch dazu dem Irrtum Vorschub geleistet, worum es da geht, das sei vorhanden, nur richtig auf- und zugeteilt sei es noch nicht. In Wirklichkeit aber müssen Freiheiten doch auch von ihrem Gehalt her erarbeitet und bestimmt werden. Zweitens hielt und halte ich es für falsch, die von den französischen Revolutionären 1789 erhobenen drei Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit/Solidarität in den Jahren 2001 und folgende - und das auch noch in der Sicht von Sozialistinnen und Sozialisten! - ihrer reichen Wechselbeziehungen zu berauben und einseitig, monokausal alles nur auf ein Losungswort konzentrisch zurückzuführen.

Obwohl das doch sachliche, einsehbar begründete, keineswegs "denunziatorische" Argumente sind, wurden sie bisher nicht berücksichtigt. Lediglich die bis zur Aufdringlichkeit gehende Wiederholung des Worts wurde etwas zurückgenommen; eine verbale Milderung, die aber nur denjenigen auffällt, die mit vorangegangenen Anläufen konfrontiert waren. Sofern nun - sprachlichen Bedenken wie den von mir geäußerten zum Trotz - weiter gesellschaftspolitische Ansprüche als Güter bezeichnet werden sollen, halte ich es für unverzichtbar, wenigstens die zur politischen Substanz gegebene Anregung aufzugreifen, was bedeuten würde, daß gleichrangig neben Freiheitsgütern Gleichheitsgüter hervorgehoben werden.

In ihrem Interview im ND vom 14./15. April 2001 kommt Gabi Zimmer auf die Problematik zu sprechen, um die es da geht. In ihrer Antwort auf eine Frage nach "freiheitlichem Sozialismus" sagt sie: "Demokratischer Sozialismus schließt für mich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ein. Der Begriff freiheitlicher Sozialismus ist eine Verkürzung, die die soziale Frage weit hinten an stellt. Es geht um die Gleichwertigkeit und Unteilbarkeit sozialer und freiheitlicher Grundrechte." Der Programmentwurf müsse, sagt sie in einer weiteren Antwort, darauf geprüft werden, ob er den Zusammenhang von demokratischen Freiheiten und sozialer Gerechtigkeit "verständlich genug formuliert". Was, füge ich hinzu, voraussetzt, daß dieser Zusammenhang im Sinne der von ihr betonten Gleichwertigkeit und Unteilbarkeit von den Autoren selber erfaßt und verinnerlicht wurde.

Die Neigung, ungleichwertige Akzente zu setzen, und zwar zugunsten von Freiheit, mag verständlich erscheinen auf dem Hintergrund von deren Vernachlässigung in der Politik von Sozialisten an der Macht im 20. Jahrhundert. Sie ist aber angesichts der uns umgebenden realen Verhältnisse der massiven, staatspolitisch gelenkten, "verordneten" Zurückdrängung des Sozialen in allen Bereichen der Gesellschaft im Gefolge des Endes der Bipolarität in der Welt im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts ganz und gar unangebracht. Es gilt: Nicht das kleinste Schrittchen zurück von der hohen Wertschätzung politischer Freiheiten! Genauso aber sollte gelten: Keinerlei Hintenansetzung des Sozialen!

Ich finde, es ließ aufhorchen, was der ehemalige Generalsekretär der CDU Heiner Geißler kürzlich in einem dpa-Gespräch über den Kurs seiner Partei geäußert hat: "Die früher erfolgreiche und richtige Parole ‚Freiheit statt Sozialismus' muß heute ersetzt werden durch: ‚Solidarität statt Kapitalismus'." Stellen wir uns vor, das Wort "Solidarität statt Kapitalismus" hätte nicht der christliche Demokrat gesagt, sondern eine oder einer von uns, eine demokratische Sozialistin, ein demokratischer Sozialist. Würde da nicht sofort Korrektur angemahnt werden, und zwar besonders hurtig aus unseren eigenen Reihen - in Richtung "Solidarität ‚im' Kapitalismus"?! Und müßte einer wie ich sich nicht eingestehen, je nach Tagesform den Korrekturbeflissenen vielleicht entgegenzukommen mit einem "im und statt"? Im ganzen Satz gesagt: Natürlich setzt die Ablösung kapitalistischer Unordnung durch solidarische Ordnung voraus, Solidarität auch bereits im Kapitalismus zu üben ... - Auf ein entschiedenes ABER würde ich allerdings in keinem Fall verzichten, mit dem auf das von Geißler implizit Eingestandene zurückzukommen ist: Ihrer Natur gemäß sind die Verhältnisse des Kapitalismus unsolidarische Verhältnisse; wer solidarische Beziehungen durchsetzen will, kann sich mit kapitalistischen Strukturen nicht abfinden, sondern muß sie überwinden. Oder wollen wir zu einer programmatischen Position hinrobben, bei der angekommen (!) wir entdecken müßten: Die Parole "Solidarität statt Kapitalismus" befindet sich links von uns?!

Das ist nicht eine rhetorische, sondern eine reale Frage. Die reale Antwort ergibt sich aus der Haltung zu dem, was ich in Anlehnung an die vielfache Bezugnahme auf "Freiheitsgüter" als Gleichheitsgüter bezeichne (ohne - siehe oben - meinen generellen Vorbehalt gegen die "Güter"-Begrifflichkeit damit aufzugeben).

Hundertmillionen -, ja milliardenfach wird die Würde der Menschen in der Welt von heute mißachtet, darunter millionenfach auch in Deutschland - durch Verletzung des Grundsatzes, daß alle Menschen gleich sind: in ihren Rechten auf Leben, Wohlergehen, Selbstbestimmung. Ungleichheit ist eine der schlimmsten Geißeln, mit denen die Mehrheit der heutigen Erdbevölkerung geschlagen wird. Wie der zwei Tage vor dem PDS-Programmentwurf veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, reißt die Abnahme von Gleichheit, die Zunahme von Ungleichheit die Gesellschaft in Deutschland schroff weiter auseinander. Die zur unteren Hälfte der Vermögensskala gehörenden Menschen verfügen nur über 4,5 Prozent aller Vermögenswerte, das reichste Zehntel hingegen über 42 Prozent. Ein drastischer Mangel an Gleichheitsgütern. Ergebnis asozialer Marktwirtschaft.

Wird das im Programmentwurf ausgesprochene Lob von Unternehmertum und betriebswirtschaftlichem Gewinninteresse als wichtigen Bedingungen von Innovation und Effizienz diesem Konfliktstoff gerecht? Wer sich darüber klar werden will, wird die diesem Satz hinzugefügte Kritik an der "heutigen gesamtgesellschaftlichen Dominanz von Profit" einbeziehen müssen, von der gesagt wird, daß sie "mit unserer Vorstellung von Gerechtigkeit und mit der durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gebotenen Sozialpflichtigkeit des Eigentums unvereinbar" ist. Mir scheint aber, das Glatte, Pure, undifferenziert Problemfreie der Unternehmer/Gewinn-Sentenz kann so nicht aufgehoben werden. Der Satz bedarf einer Einschränkung - oder Ergänzung. Wenigstens erwähnt werden muß doch, daß Unternehmertum und betriebswirtschaftliches Gewinninteresse auch wichtige Bedingungen für Arbeiterausbeutung und riesige wirtschaftliche Verluste im Ergebnis gnadenloser Ausschaltung von Konkurrenten sind. Auf diese Feststellung zu verzichten würde auf eine tendenziös-selektive Charakterisierung von Unternehmertum hinauslaufen.

Mich stört keineswegs eine im Programm festgeschriebene Aussage, daß die PDS Sinn für das Erwirtschaften von Gewinn hat, sofern dies mit der Wahrung gesamtvolkswirtschaftlicher sowie sozialer, ökologischer und demokratischer Interessen einher geht. In pauschalem Anhimmeln von "Unternehmertum" hingegen, ohne Blick in die Hölle von Auspowerung, Meinungsunterdrückung statt Mitbestimmung und von Konkurrenzvernichtung würde ich eine kaum noch sozialistische, eine bei nichtsozialistischem Blick angekommene Betrachtungsweise erkennen.