Wohin will die PDS?

Die PDS ein Jahr vor der Bundestagswahl in eine programmatische Zerreißprobe zu treiben, ist politisch verantwortungslos.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 11-15

Selten in ihrer bisher elfjährigen Existenz erhielt die PDS so viel öffentliches Lob wie im verflossenen April. Hatte bereits die Entschuldigungs-Erklärung zum 45. Jahrestag der SED-Gründung die Journalistenzunft von "Spiegel" bis "Bild" in Hochstimmung versetzt, bestärkt der Brie-Klein-Programmentwurf offenbar die vielfach gehegte Hoffnung, die Zeiten, in denen eine widerborstige, aufmüpfige, oppositionelle PDS im Bundestag den "Konsens aller Demokraten" stört, indem sie Kriegstreiberei, soziale Entrechtung und konzernhörige Politik unerschrocken und unbestechlich attackiert und sich außerparlamentarisch um die Ermutigung von Widerstand bemüht, diese Zeiten seien bald Geschichte. Die Schlagzeilen am Tag nach Präsentation des Entwurfes lauteten: "PDS bekennt sich zum Kapital" (Tagesspiegel), "PDS sucht SPD-Nähe. Zimmer & Co werfen Ballast ab" (Sächsische Zeitung), "PDS schleicht nach Godesberg" (Süddeutsche Zeitung ), "PDS sieht DDR als ‚völlig gescheitert' an" (Welt), "Programm entsorgt ideologische Altlasten und bittet die SPD zum Tanz in den Mai" (Frankfurter Rundschau). In einem Kommentar unter der Überschrift "Willkommen im Klub" empfindet es die "Berliner Zeitung" als geradezu "rührend", wie im Entwurf "die Glaubenssätze eines frühen Liberalismus als innovativer Schub erlebt werden", und prophezeit, daß die Würdigung von "Unternehmertum" und "Gewinninteresse" künftig sicher gern von den Unternehmerverbänden zitiert wird. Zwar enthalte das Papier auch noch die eine oder andere kapitalismuskritische Passage, aber - tröstet das Blatt seine Leser - "...sie kommen einem vor wie das Altpapier, mit dem die neuen Geschenke verpackt werden, damit sie beim Adressaten auch heil ankommen". (Berliner Zeitung, 28.4.01)

1.

Alles böswillige Interpretation feindlich gesonnener Medien? Kaum. Immerhin hat André Brie bei der Vorstellung des Programmentwurfes selbst von einem "Bruch in der Programmatik und Politik der PDS." (PDS-Pressedienst v. 27.4.01) gesprochen, den dieser verkörpere. Darin hat er leider Recht. Die Frage ist nur: Welches Gremium der PDS hat einen solchen "Bruch" in Auftrag gegeben?

Der Beschluß zur Überarbeitung des geltenden Parteiprogramms vom Januar 1999 zielte ausdrücklich nicht auf einen programmatischen Richtungswechsel, sondern darauf, die im 93er Programm formulierten antikapitalistischen Grundpositionen der PDS weiterzuentwickeln, zu aktualisieren und zu konkretisieren. Auf dem Münsteraner Parteitag im letzten Jahr wurde dies nochmals bekräftigt.

Und es ist unstrittig: Der Platz der PDS im bundesdeutschen System hat sich verändert. Sie sitzt seit 1998 in Schwerin am Kabinettstisch, toleriert bereits seit Jahren die Höppner-Regierung in Sachsen-Anhalt, weitere Koalitionen im Osten sind vorgesehen. Was durch das Tolerieren bzw. Koalieren tatsächlich bewegt werden konnte bzw. wie das Verhältnis zwischen ausgehandelten Kompromissen und dem dafür gezahlten Preis schwindender eigener Glaubwürdigkeit zu bewerten ist, wurde bisher kaum ernsthaft debattiert. Die "kleineren Übel", aus denen die Koalitions-Verfechter ihre Legitimation saugen, werden zusehends größer. Sowohl in Schwerin als auch in Magdeburg bricht die PDS in Umfragen und zum Teil auch bereits in Wahlen ein. Inzwischen stellt uns Ringsdorf öffentlich als nicht ernst zu nehmende Größe bloß. Die entscheidende Frage, auf welchem Wege und in welcher Form eine Partei wie die unsere - in ihrer spezifischen Ost-West-Verfaßtheit und angesichts der realen Machtverteilung - die gesellschaftlichen Verhältnisse in einem kapitalistischen Land beeinflussen und Veränderungen erzwingen kann, ist nicht nur unbeantwortet, sondern weitgehend undiskutiert. Ihre Beantwortung setzt eine gründliche Analyse des heutigen Kapitalismus voraus, die die machtpolitischen Konsequenzen der internationalen Fusionswelle ebenso einschließen sollte wie die Spezifik der modernen Finanzmärkte, deren Eigendynamik und ihre realwirtschaftlichen und politischen Folgewirkungen. Diese Analyse ist im vorliegenden Entwurf dürftig. Entsprechend oberflächlich fällt - sofern sie nicht ganz fehlt - die Antwort auf existentielle Fragen wie die folgenden aus: Welche Spielräume hat nationalstaatliche Politik unter heutigen Bedingungen? Wo liegen die Ansatzpunkte zur Veränderung von Kräfteverhältnissen? Inwieweit sind die gegenwärtigen Umbrüche in der Arbeitswelt technologisch bedingt bzw. in welchem Grade sind sie Ausdruck des sozialen roll back? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für die Organisation gewerkschaftlicher Arbeit und für die Formierung von Gegenmächten? Die Diskussion dieser und ähnlicher programmatischer Fragen ist dringend notwendig.

2.

Indes haben einige Genossen schon seit längerem verdeutlicht, daß sie die Programmdiskussion aus anderen Gründen forcieren. Gregor Gysi forderte bereits vor einem Jahr, es dürfe "keine programmatischen Formelkompromisse mehr geben" und "dogmatische Linke" in der PDS müssten spüren, daß das neue Programm "gegen sie steht". (Berliner Zeitung v. 8.2.00) Helmut Holter erläuterte der "Jungen Welt" im Januar, daß sein wichtigstes Problem darin bestehe, die PDS in der Eigentumsfrage auf "marktwirtschaftliche Prinzipien" festzulegen. Die Aussage im 93er Programm: "Unterschiedliche Auffassungen bestehen in der Frage, ob die reale Vergesellschaftung von Eigentum primär durch die Vergesellschaftung der Verfügung über das Eigentum erreichbar ist oder ob der Umwandlung in Gemeineigentum, insbesondere in gesamtgesellschaftliches Eigentum, die bestimmende Rolle zukommen muß" - diese Aussage müsse zurückgenommen und durch Festlegung auf bloße Veränderungen der Verfügung ersetzt werden. (Junge Welt v. 8.1.01). Auch André Brie hat den zitierten Kompromiss mehrfach öffentlich mißbilligt. Im vorliegenden Entwurf wird er aufgekündigt. Das Ziel der PDS wird "auf absehbare Zeit" darauf reduziert, "die Verfügungsgewalt über hochkonzentriertes Kapitaleigentum oder scheinbar anonyme Aktienfonds schrittweise einzuschränken". "Allumfassendes Staatseigentum" wird abgelehnt.

In Wahrheit ist die Gegenposition zu der These, die Eigentumsfrage ließe sich ausschließlich auf der Verfügungsebene lösen, allerdings nicht das Einfordern "allumfassenden Staatseigentums", sondern die Ansicht, das gesellschaftliche Diktat der Profitmaximierung sei nicht überwindbar, solange die Kernbereiche der Wirtschaft - sprich: die großen Industrie-, Finanz- und Dienstleistungskonzerne - privaten Shareholdern überlassen bleiben. Niemand behauptet ernsthaft, daß kleine Handwerker und selbst mittlere Unternehmen "allumfassend" verstaatlicht werden sollen. Auch in der DDR gab es lange Jahre einen florierenden Privatsektor in diesem Bereich und die Entscheidung, diesen 1972 zu verstaatlichen, gehörte kaum zu den vernünftigen. Durch das Prädikat "allumfassend" wird also ein Popanz aufgebaut, der die eigentliche Frage und den Dissens, um den es hier geht, verwischt.

Aber es kommt noch schlimmer. Indem man "Unternehmertum" und "Gewinninteresse" generell zu "wichtigen Bedingungen für Innovation und Effizienz" erklärt, wird die im Folgesatz formulierte Ansicht, daß "die gesamtgesellschaftliche Dominanz von Profit" mit unseren Gerechtigkeitsvorstellungen unvereinbar sei, weitgehend entwertet. Das Lippenbekenntnis: "Wir wollen eine Marktwirtschaft, aber keine Marktgesellschaft" haben auch Schröder und Blair in ihrem berühmten Modernisierungs-Papier abgegeben. Die Crux ist aber: Wenn die Profitgier von Daimler, Siemens und Allianz auf Unternehmensebene ausdrücklich legitimiert wird, sind faktisch nur noch solche gesetzlichen Regulierungen vertretbar, die dieser Gier hinreichend Spielraum belassen. Es wird also nicht nur das Ziel einer Überwindung kapitalistischer Verhältnisse aufgegeben; selbst dem reformerischen Ringen um soziale Rechte werden inakzeptable Grenzen gesetzt.

Die Argumentationskette ist von FDP bis SPD zum Überdruß bekannt: Höhere Körperschaftssteuern, gewerkschaftliche Lohnkämpfe oder die von der PDS geforderte Wertschöpfungsabgabe schmälern die Unternehmensgewinne; ohne hinreichende Gewinne aber keine Innovation, keine Effizienz und keine Arbeitsplätze. Daß ein PDS-Programmentwurf solchen Plattitüden faktisch entgegenkommt, ist peinlich. Zumal die Frage, ob eine "Effizienz", hinter der sich massenhafte Arbeitsplatzvernichtung verbirgt, und eine "Innovation", von der ausschließlich die Kapitaleigner profitieren, als solche positive Werte darstellen, ausgeklammert bleibt. Und noch eine Hintertür wird geöffnet: Vorhandenes "Gemeineigentum" wollen die Verfasser des Entwurfes zwar bewahren, können "in anderen Fällen" aber auch dem "Übergang bisher staatlichen Eigentums in die Verfügung vieler Träger" - vulgo: Privatisierung - Positives abgewinnen. Nach solchen Vorgaben erschüttert es kaum noch, daß Schröders Politik der "Neuen Mitte" als "partielle Stabilisierung sozialer Sicherung" wahrgenommen und ihr möglicher Beitrag zur "Förderung von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation" hervorgehoben wird.

3.

Dem vergangenen Sozialismus kommt solche Milde des Urteils nicht zugute. Zwar wird die Legitimität des Versuchs zugestanden, seine Resultate werden jedoch in Gänze als "undemokratisch und nichtemanzipatorisch" abqualifiziert. Fast vollständig gestrichen wurde der Abschnitt des gültigen Programms über das in vierzig Jahren DDR positiv Erreichte. Kalter Krieg, westliche Embargopolitik und schlechte Ausgangslage werden jetzt mit einem kurzen Satz über "Feindschaft und Konfrontation" abgetan. Statt dessen ist ausgiebig von Verbrechen und Unterdrückung, von "kommunistischer Einparteiendiktatur" und "Zentralverwaltungswirtschaft" die Rede. In jedem Satz schimmert durch, daß die Verfasser mit dem, was da war, nichts mehr zu tun haben möchten. Eben ein "vollständig fehlgeschlagener Gesellschaftsversuch", wie Brie bei der Vorstellung des Entwurfes erläuterte. Aber war die DDR nicht ein Land, in dem - trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler - immerhin über vierzig Jahre die "gesamtgesellschaftliche Dominanz von Profit" tatsächlich gebrochen war? War sie nicht ein Land, in dem Kinder kein Armutsrisiko waren und Bildung, Gesundheit und Kultur jedenfalls keine Frage des persönlichen Geldbeutels? Das 93er Programm geht kritisch und zugleich differenziert mit unserer Vergangenheit um. Wer oder was drängt uns jetzt zu einer solchen Neubewertung und Pauschaldistanzierung? Da zwischen 1993 und 2001 die Geschichte der DDR keine allzu stürmischen Wendungen nahm, lässt sich schwer glaubhaft machen, es handele sich hier um eine "notwendige Aktualisierung".

Ähnliches gilt aus anderen Gründen auch für die Eigentumsfrage. Die PDS wird im nächsten Jahrzehnt voraussichtlich nicht in die Lage kommen, darüber entscheiden zu müssen, ob sie Daimler-Chrysler und die Deutsche Bank in Gänze oder nur die Verfügung über diese Institute vergesellschaftet. Weshalb also soll die Partei gezwungen werden, sich in diesem Punkt jetzt definitiv festzulegen und einen Teil ihrer Mitglieder vor den Kopf zu stoßen? Weshalb können wir nicht mit unterschiedlichen Ansichten in dieser Frage leben? Der Gedanke, daß hier Vorleistungen erbracht und Forderungskataloge abgearbeitet werden, lässt sich kaum verdrängen.

Wie immer: Unsere Partei ein Jahr vor der Bundestagswahl in eine programmatische Zerreißprobe hineinzutreiben, ist politisch verantwortungslos. Es heißt, den Wiedereinzug der PDS in den Bundestag gefährden, es heißt, unsere Partei politisch lähmen, es heißt, ihre Wirkungs- und Veränderungsmöglichkeiten massiv schwächen. Bisher ist dieser Entwurf freilich nicht mehr als ein Entwurf von drei Genossen. Unter ihnen einer, der bereits vor Jahren forderte, PDS-Mitgliedern mit bestimmten Auffassungen müsse der Verbleib in unserer Partei "unerträglich" gemacht werden. Ob dies just der richtige Mann ist, um ein neues PDS-Programm zu schreiben, ist eine ebenfalls nicht ganz abwegige Frage. In jedem Fall wird es wichtig sein, die Diskussion über diesen und andere Entwürfe sachlich, inhaltlich, ohne Zeitdruck und ohne jede vorfristige Festlegung zu führen. Ein Programm ist nicht irgendwas. Es bestimmt Profil und Richtung einer Partei. Mögliche Kandidaturen als Druckmittel zur Durchsetzung gewünschter programmatischer Veränderungen zu benutzen, wäre daher ein Vorgehen, das allen Prinzipien innerparteilicher Demokratie ins Gesicht schlüge.