Ethische Werte und politisches Handeln
Die Lücke fällt schon äußerlich auf. Wenn eine Überschrift drei Hauptworte enthält, nimmt man an: Zu denen soll einiges gesagt werden. Wie steht es mit mit dem Begriff "Ethik" im PDS-Programment
Die Lücke fällt schon äußerlich auf. Wenn eine Überschrift drei Hauptworte enthält, nimmt man an: Zu denen soll einiges gesagt werden. Kommt im Text dann eines von den dreien nur spärlich vor, läßt sich argwöhnen: Hier stimmt etwas nicht! Und Ergründungserpichte fragen sich: Warum? - So kann es kritischen Leserinnen und Lesern ergehen, wenn sie bei der Lektüre des Entwurfs für ein neues PDS-Programm den ersten Abschnitt ins Auge fassen. In dessen Überschrift stehen drei Worte, mit denen sich das Verhältnis der Partei und ihrer Mitglieder zum Sozialismus kennzeichnen läßt: Ziel, Weg, Werte. In der Untergliederung des Abschnitts aber finden sich nur Ziel und Weg wieder. Es fehlen die Werte.1Haben wir es hier mit redaktioneller Unachtsamkeit zu tun? Oder offenbaren die sich sonst gern in Ausführlichkeit ergehenden Verfasser hier mal "Mut zur Lücke"? Eher würde ich auf Furcht vor Tücke tippen. Denn daß in einem Versuch, Anhaltspunkte moralischen Verhaltens in einem politischen Programmtext für eine Partei festschreiben zu wollen, einige Tücken lauern, das ist wohl wahr. Die Tücke zum Beispiel, bei einem ahistorischen abstrakten "Verhaltens- Vorschriften-Katalog" zu landen.
Angesichts der Erfahrungen der SPD mit ihrem Godesberger Programm, in welchem Grundwerte als eine Art Ziele-Ersatz figurieren, könnten manche annehmen, es wäre ratsam, diese Problematik tunlichst zu meiden. In den "Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden" aus dem Berliner Institut für Kritische Theorie (herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug) wird denn auch erwogen, lieber über Fernziele und Leitbilder als über Werte zu philosophieren.2 Und Uwe-Jens Heuers Rezension des Buches wurde von der junge-Welt-Redaktion so getitelt: "Keine Gefechte im Wertehimmel".3
Ethische Werte und politisches Handeln
Wir bräuchten, meine ich hingegen, der Gefahr des Entschwebens in himmlische Gefilde nicht zu erliegen und könnten dennoch programmatisch "auf den Punkt" bringen, wie wir die Wechselbeziehungen zwischen ethischen Werten und politischem Handeln sehen. Im Alltagsleben stehen jede und jeder von uns doch ohnehin ständig und immer wieder vor Entscheidungen in diesem Spannungsfeld, die eigenes Tun und Lassen wesentlich beeinflussen.
Selbstverständlich wissen wir wie andere Bürger auch: Politik und Moral sind nicht ein und dasselbe. Aber geht es an, deswegen politische Handlungen, die moralischem Verhalten zuwiderlaufen, mit einem gewissen Verständnis hinzunehmen, ja im Einzelfall gar selber zu begehen? Hans-Peter Schwintowski, Rechtsprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, meint, die Anteilszeichner der Fonds der Berliner Bankgesellschaft mit marktunüblichen Renditegarantien hätten prüfen müssen, ob diese überhaupt rechtmäßig waren. Er spricht sich dafür aus, daß Zeichner solcher Fonds veranlaßt werden, auf bestimmte Garantieleistungen zu verzichten. Carl Wechselberg, Mitglied des Berliner PDS-Landesvorstands und Haushaltsmitarbeiter der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus, erwidert auf solche Vorstellungen: "Wenn ich so Leuten gegenübertrete, die ein verbrieftes Recht haben, das sie gegebenenfalls vor Gericht durchsetzen können, ist das eine relativ hilflose, moralische Position."4 Moralisch sein heißt "hilflos" sein, wird so nahegelegt. Also soll manÂ’s lassen, gegen "Selbstbereicherer" anzugehen, weil man damit ja eine verhältnismäßig hilflose Figur macht?5
Ein Ethik-Kapitel in einem Sozialisten-Programm wäre in solcher Sicht überflüssig. Die eingangs erwähnte Lücke zu beklagen, gäbe es keinen Grund. Wechselbergs Erwiderung auf Schwintowskis Vorschlag steht aber entgegen, daß Sozialisten und andere Demokraten weltweit zunehmend verstehen: Wirtschaft und Politik ohne Moral müssen verworfen werden. Weil darin eine der Grundbedingungen dafür besteht, daß in Ländern wie den USA und Deutschland, sogar auch Rußland korruptionsärmere Verhältnisse wiederhergestellt werden können - zunächst einmal als einer der ersten Schritte - und in der internationalen Arena gerechtere Weltwirtschaftsbeziehungen herbeigeführt werden. Anders ist das Überleben der Menschheit nicht mehr zu ermöglichen und zu sichern.
Selbst einige Vertreter der Bankokratie äußern neuerdings moraltriefende Appelle an die Adresse von Herren des eigenen Systems. Mit heuchlerischem Geschwätz gespickt und bemüht, von den strukturellen Ursachen der Gebrechen dieses Systems abzulenken, weswegen die Herrschaften für ihre moralinsauren Tiraden auch Hohn und Spott verdienen. Und das nicht zu knapp. Darüber wollen wir aber nicht vergessen, daß sie immerhin - aus Furcht, die unersättliche ungezügelte Gier der wildesten Kapital-Raffer raffte sie allesamt selber in den Abgrund - ein paar Warnschilder aufstellen und mit juristischen Maßnahmen in Gestalt neuer Strafen und verschärfter Auslegung gesetzlich schon vorhandener Straftatbestände drohen: So hat der nordamerikanische Präsident George W. Bush vor dem Hintergrund sinkender Aktienkurse und der Buchhaltungsskandale von Pleitekonzernen wie Enron und WorldCom in seiner Rede über "Corporate responsibility" (unternehmerische Verantwortung) im Juli 2002 in der Nähe der Wall Street vor 1 000 Wirtschaftsbossen, Bankern und Politikern angekündigt, die Höchststrafe für Manager, die bewußt Falschinformationen weitergeben, solle auf zehn Jahre verdoppelt werden.6 Und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement wandte sich gegen "Einkommens- und Abfindungsexzesse" von Managern und forderte, für Unternehmensvorstände und Aufsichtsräte ein besonderes Haftungsrecht zu entwickeln, das über den bisherigen zivil- und strafrechtlichen Rahmen hinausgehe: "Unternehmensleitungen sollen persönlich einstehen und haften müssen für ihre Entscheidungen, wenn sie schwere Fehler begangen und etwa grob fahrlässig gehandelt haben."7 - Und da sollen wir klein beigeben, nach dem Motto "Moral ist hilflos", weil einige im Rahmen des Berliner Banken-Skandals sich rechtlich "abgesichert" haben beziehungsweise zu haben wähnen, was sich bei genauerem Hinsehen möglicherweise als quasi- beziehungsweise pseudorechtliche Täuschung entpuppen kann?!
Im vorliegenden Programmänderungsentwurf von Dieter Klein, André und Michael Brie halte ich die Aussage für richtig, daß wir unser Verständnis sozialistischer Werte in dem Kampf entwickeln, der in der Weltgeschichte seit Jahrhunderten geführt sowie heute und künftig zu führen sein - wird: für oder gegen die Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse.8 Das ist ein Kampf darum, wer den gesellschaftlichen Reichtum aneignen und wer über ihn verfügen darf. Zu begrüßen sind auch Werte-Bekenntnis-Sätze wie dieser: "Für uns ist Freiheit nicht als egoistisches Haben, sondern als solidarisches Tun zu erreichen."9 Wer sich daran hält und sich dafür ausspricht, daß alle sich daran halten, dem sollte nicht vorgeworfen werden - wenigstens in der PDS nicht! -, er betreibe "moralischen Rigorismus".10 "Pecunia non olet" (Geld stinkt nicht)11 kann unser Wahlspruch weder sein noch werden. Das gehört zur Eigenart des "Ankommens" von Menschen mit sozialistischen Überzeugungen in einer kapitalistischen Gesellschaft. Nicht auf An- und Einpassung läuft ihr Umgang mit den bestimmenden Kräften des Systems, in das sie geraten sind, hinaus. So würde "Ankommen" zur Selbstaufgabe verkommen. Moral von Sozialistinnen und Sozialisten, die sich in solidarischem Tun offenbart, widersetzt sich zugleich einem egoistischen Habenwollen, das sich nicht scheut, aus stinkenden Quellen zu schlürfen.
Eine in schwierigen Debatten erarbeitete Grundauffassung der Partei des Demokratischen Sozialismus, die Ziel, Weg und Werte gleichermaßen betrifft und von der ich meine, wir sollten sie im künftigen Programm noch entschiedener bekräftigen als im jetzigen Entwurf, ist der Denk-Ansatz und Handelns-Vorsatz, immer und in jedem Fall beim Auftreten von Konflikten für den Einsatz von politischen, friedlichen Verhandlungsmitteln für deren Lösung einzutreten. Wir waren, sind und bleiben Gegner der Militarisierung der internationalen Angelegenheiten und der Außenpolitik. Unser antimilitaristischer Kurs, dem wir treu bleiben, bewährt sich in der Ablehnung von Gewalt beim Austragen gesellschaftlicher Konflikte im Innern der Länder, Völker und Staaten sowie in den Beziehungen zwischen ihnen. Wie den Terror lehnen wir den sogenannten "Krieg gegen den Terror" ab, weil dieser von reaktionär-aggressiven Kreisen für die Ausweitung von USA-Weltherrschaft gebraucht beziehungsweise mißbraucht wird. Unsere gegen jegliche Aggressionen - einschließlich der "militärisches Eingreifen" genannten - gerichtete Haltung bedeutet, verantwortungsbewußt zu handeln für die Herstellung und Bewahrung von Frieden auf der Erde.
Politisches Handeln durch Reden über ethische Werte ersetzen zu wollen, ist falsch. Für genau so falsch halte ich die Auffassung, Politik könne oder solle "wertfrei" beziehungsweise "ideologiefrei" sein. Ich behaupte: Wer "Gefechte im Wertehimmel" scheut, kann irdische Kämpfe nicht gewinnen. Oder ist etwa vorstellbar, Frieden auf Erden zu erreichen, wenn im Prinzipienstreit Zugeständnisse an die Wahnidee gemacht werden, eine "Enttabuisierung des Militärischen " sei zeitgemäß, militärische Gewalt einzusetzen sei eine wieder erlaubte "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln"? Ist in der Praxis sozialen Daseins Gerechtigkeit herbeiführbar ohne entschiedene geistige Auseinandersetzung um den Anspruch aller Menschen und Völker auf die Gleichheit ihrer Rechte und Lebensbedingungen? Ließen sich Wahlen und andere demokratische Beratungs-, Entscheidungs- und Leitungsprozesse allgemein durchsetzen, wenn ihnen entgegengesetzte Verhältnisse und Verfahren nicht verworfen werden: autokratische oder bankokratische Herrschaft, die Machtausübung als monarchische, stalinistische oder marktradikale kapitaldominierte Diktatur samt ihren ideologischen "Begründungen"? Also: Neben und in Verbindung mit den Interessen der Menschen haben sehr wohl auch ihre Ideen, Werte, Wertungen Einfluß aufs politische Denken und Handeln. Das zu berücksichtigen, bedeutet nicht, etwa erneut einer Überideologisierung von Politik das Wort zu reden.
Vor zwei Jahren hatte Peter Porsch ein Papier unter dem Titel "PDS 2000 - Worauf es ankommt!" veröffentlicht. Bei der Werbung für diesen Text, der auch als "Manifest" bezeichnet worden war, hieß es, es handle sich um das Konzept eines "ideologiefreien Sozialismus ". Wenn es tatsächlich so wäre, hätten wir es mit einem jener Versuche zu tun, Politik von Ideologie loszutrennen, auf deren Untauglichkeit ich eben hingewiesen habe. Wie sich im PDS-Pressedienst nachlesen ließ12, hatte Porsch aber so etwas wie "ideologiefreier Sozialismus" selber nicht geschrieben. Er setzte sich vielmehr dafür ein, Lösungen zu entwickeln, die sich an den Prinzipien soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Solidarität orientieren. Dazu sei programmatische Klarheit nötig, wohingegen weltanschauliche und ideologische Enge dabei mit Gewißheit nicht hilfreich sein werde. Freunde logischen Denkens konnten mir zustimmen, als ich folgerte: Enge nicht, Weite - ja. Und eine Frage im Umkehrschluß: Wie hilfreich oder hilflos wird ursprünglich vielleicht ganz schön weit ausgelegtes Wertebewußtsein, wenn es in den strangulierenden Griff von enger Politik gerät beziehungsweise genommen wird?
Wir sollten uns für den Hinweis ganz wach halten, daß wir bei Marx und Engels bewußt dort anknüpfen, wo sie ihre Theorie in der Tradititon der Aufklärung als Ideologiekritik entwickelt haben - im Sinne von Kritik an Ideologie als Ausdruck falschen Bewußtseins: "Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera abscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen." Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteige, werde hier - bei ihnen -, schrieben Marx und Engels 1845/46 in der Deutschen Ideologie, von der Erde zum Himmel gestiegen. Und weiter: "D. h. es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt ... Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit."13
Solche Erkenntnisse aus einer der grundlegenden Frühschriften sind heutzutage "zusammenzulesen" mit den Einsichten, die Engels in den berühmten Altersbriefen der neunziger Jahre festgehalten hat. Im Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893 wendet er sich gegen die "blödsinnige Vorstellung der Ideologen: weil wir den verschiednen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnen auch jede historische Wirksamkeit ab" und fügt hinzu: "Es liegt hier die ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst seine eignen Ursachen zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast absichtlich."14
Wir - nehme ich an - wollen weder absichtlich noch unabsichtlich der undialektischen "Vergessung der Wechselwirkung" erliegen. Davon ausgehend, könnte einiges Weitere zum Verhältnis von ethischen Werten und politischem Handeln diskutiert werden.
Heiligt guter Zweck schlechte Mittel?
Mit besonderem Nachdruck sollten wir uns zum Beispiel gegen die Behauptung wenden, der Zweck heilige die Mittel. Auf diese Sentenz klerikaler Kreise aus dem Mittelalter - genauer: des im Schoße der katholischen Kirche 1534 gebildeten und 1540 päpstlicherseits bestätigten Jesuitenordens - haben sich während des 20. Jahrhunderts verschiedentlich auch Politiker mit sozialistischem Anspruch zur Rechtfertigung fragwürdigen Handelns berufen. Sie wandelten ab, was der Jesuitenpater Hermann Busenbaum in seinem seit 1650 in mehreren hundert Auflagen erschienenen Buch Kern der Moraltheologie geschrieben hatte: "Cumfinis est licitus, etiam media sunt licita" (Wenn der Zweck erlaubt ist, sind auch die Mittel erlaubt). Der zur Rechtfertigung von Zielen und Zwecken ersonnene Wahlspruch "Omnia ad maiorem Dei gloriam" (Alles zur größeren Ehre Gottes)15 wurde ebenfalls leicht abgewandelt: Zum Wohle des Volkes/zum Ruhme der Partei. Wir sollten es entschieden ablehnen, Politik zu machen, zu deren Begründung solche Sätze herangezogen werden. Ohne uns beirren zu lassen, wollen wir verinnerlichen: Gute Zwecke brauchen gute Mittel. Kein guter Zweck heiligt ungute Mittel. Zwecke, für die verwerfliche Mittel eingesetzt werden, können auf Dauer nicht achtenswert sein. Wer sich niedriger Mittel bedient, beeinträchtigt und beschädigt den möglicherweise vom Ansatz her hochherzig gedachten und gewesenen Zweck seines Handelns, ja letzten Endes zerstört er ihn. Humane Zwecke sind nicht mit inhumanen Mitteln und Methoden erreichbar. Wie auf dem Magdeburger Parteitag im Januar 1996 und auf der Strategiekonferenz der PDS im November 1996 erläutert, bleiben wir fest in der durch die Lektionen der Geschichte erworbenen Überzeugung, "daß die Wege und Formen immer auch das Ziel bestimmen, daß Menschlichkeit nicht auf menschenverachtende Weise erkämpft werden kann"16. Entsprechend dieser Auffassung zu leben und zu wirken, bedeutet zum Beispiel, sich von der einst gepflegten Ansicht voll und ganz zu verabschieden, es mache Sinn, die Leute zu dem von ihnen - wie unterstellt wurde - nur noch nicht so ganz erkannten Glück nötigenfalls zu zwingen. Die Geringschätzung, ja Verachtung parlamentarisch-demokratischer Wahlverfahren hatte darin eine ihrer Ursachen. Wir handeln demgegenüber nach dem Politik-Grundsatz: Entweder es geht demokratisch - oder es geht nicht. Und im Bewußtsein, daß parlamentarische Mehrheiten, zum Beispiel relative, nicht einfach mit Bevölkerungsmehrheiten gleichzusetzen sind, halten wir es für wichtig, klar auszusprechen, daß die PDS nicht daran denkt, sich an irgendeinem Vorhaben zu beteiligen, das darauf hinausliefe, die Mehrheit des Volkes den Vorstellungen einer Minderheit zu unterwerfen.
Eine weitere diskussionswürdige Ethik-Frage: Bemühen wir uns in unserem gesellschaftspolitischen Agieren wie in unserer persönlichen Lebensführung schon genügend um die Einheit von Wort und Tat? Sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit/Solidarität für uns sowohl politische Zielangaben unserer Bewegung als auch individuelle Lebensmaxime? Befürworten wir Meinungsvielfalt, Pluralismus nicht nur dann, wenn es gilt, Ansichten, die von einer Minderheit vertreten werden, zu der wir gehören, stärker zu verbreiten und durchzusetzen, sondern auch dann, wenn unsere Ansichten von einer Mehrheit geteilt werden und eine Minderheit sich diesen gegenüber zu behaupten trachtet? Wie entschlossen und entschieden handeln wir, wenn wir vor Folgerungen stehen, die aus ökologischen Erkenntnissen für die Lebensweise der eigenen Person und Familie zu ziehen sind - beim Essen und Trinken, Abwaschen und Duschen, Wohnen und Kleiden, Gehen und Fahren und nicht zuletzt im Umgang mit Abfällen? Sind wir da als Leute sozialistischer Gesinnung und Gesittung erfahrbar, auch wenn wir über Umweltgefahren weltweit gerade mal kein Wort sagen?
Und wie sieht es mit der Einheit von Wort und Tat aus, wenn politische Versprechen gegeben werden? Müssen Wählerinnen und Wähler nicht allzu oft feststellen: "Versprochen - gebrochen"? Leider kommt es vor, daß das auch Kandidatinnen und Kandidaten und dann Abgeordnete aus dem politischen Spektrum der Linken betrifft. Ich möchte nicht argwöhnen, da werde allemal das üble Mittel leichtfertigen Versprechens schamlos für den als nobel angesehenen Zweck eines eigenen günstigen Wahlergebnisses eingesetzt. Aber ist uns wirklich allen genügend bewußt, daß nicht gehaltene Versprechen als Vertrauensbruch erlebt werden? Und daß die Enttäuschung von Hoffnungen mit Vertrauensentzug oder -verminderung erwidert werden kann? In allem Ernst sollte darüber gesprochen werden, daß die Möglichkeiten und Widrigkeiten der Verwirklichung jeglicher auf ein Versprechen hinauslaufenden Ideen, Vorschläge, Forderungen, Programmpunkte der Öffentlichkeit weitaus genauer vorgestellt und mit ihr diskutiert werden müssen als das bisher üblich ist.
Das setzt einen hohen Grad intellektueller Redlichkeit voraus, die bei der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst beginnt. Der redliche Umgang mit Tatsachen und schlüssigen Folgerungen aus ihnen ist die Grundlage von Glaubwürdigkeit - sowohl beim Erarbeiten von Vorhaben und beim Erörtern ihrer Erfolgsaussichten als auch nachher bei der Beurteilung dessen, was erreicht wurde, was "herausgekommen " ist. Manche halten die "Fähigkeit", Mißratenes in Gelungenes, Niederlagen in Siege umzuempfinden und zu -deuten, für ein Zeugnis politischer "Professionalität". In Wahrheit handelt es sich da um nichts weiter als den kläglichen und beklagenswerten Hang zur Selbsttäuschung einschließlich der Täuschung anderer. Selbstgenügsamkeit und Selbstüberschätzung, ja -überhebung sind ursächlich damit verknüpft. Die Aufnahmefähigkeit für Kritik verkümmert.
Von Kardinal- und anderen -tugenden
Für angebracht halte ich, daß wir uns selber und anderen auch die Frage beantworten, wie wir Ordnung und Fleiß, Sauberkeit und Pünktlichkeit bewerten. Das sind persönliche Eigenschaften, die sinnvollem menschlichen Zusammenleben dienen können, aber auch für die schlimmsten Auswüchse unmenschlicher Ausbeutung und Unterdrückung, Menschenquälerei und -vernichtung "eingesetzt" werden können. Bekannt ist das Wort über die Fähigkeit zu "Ordnung ", mit der zum Funktionieren eines KZ beigetragen werden kann. Dem Doppelgesicht solcher Eigenschaften und Befähigungen entspricht es, daß sie landläufig von den einen isoliert gesehen und verabsolutierend gepriesen, von anderen für sich genommen als "Sekundärtugenden" abgetan werden. Ich meine, wir wollen sie nicht "an sich", sondern für uns im Zusammenhang und in Wechselwirkung mit den hohen ethischen Werten des Ringens um Gerechtigkeit in der Gesellschaft, um die freie Entwicklung der Menschen in Achtung ihrer Gleichheit, um solidarische gegenseitige Hilfe betrachten. So gesehen, liegen Möglichkeiten erwiesener Menschlichkeit darin, aufrichtig und zuverlässig zu sein, mit Übersicht und Ordnungssinn zu handeln, mutig zu streiten sowie zielstrebig und fleißig, willensstark und beharrlich die Fähigkeiten zu vervollkommnen für Arbeit zu eigenem Wohl und dem der Allgemeinheit. Was halten wir von Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit - in der griechischen Antike17 als Kardinaltugenden hervorgehoben? Sind sie in unserer Zeit nebensächlich? Ich nehme an, das Gegenteil ist richtig. Diese Tugenden könnten vielmehr aus demokratisch-sozialistischer Sicht wesentliche Elemente einer - für jede einzelne und jeden einzelnen wie für die Gesamtgesellschaft - menschenwürdigen Zukunftsgestaltung sein.
Für unser politisches Programm weiter in Details gehende ethische Postulate zu ersinnen, hielte ich für falsch. Rechtsnormenähnliche Moralregeln - ob nun in Kodex-Sätzen, Geboten/Verboten, Gelöbnissen oder isziplinierungsparagraphen fixiert - sind überflüssig, wenn Sozialistinnen und Sozialisten ihren Überzeugungen und Grundauffassungen gemäß besonnen, tapfer, weise und gerecht für eine Gesellschaft wirken, in der die freie Entwicklung einer und eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller wird. Übrigens: Selbst in der allgemein für übermäßig gehorsam gehaltenen Nationalen Volksarmee der DDR wurde laut Dienstreglement Initiative durchaus das gleiche Gewicht beigemessen wie Disziplin und nicht etwa weniger.
In der Wertediskussion in der Gesellschaft wird es immer notwendiger, tolerant miteinander umzugehen. Das gehört auch zu den wesentlichen Elementen langfristig wirksamer Vorbeugung vor Gewalt. Dazu hat Bodo Ramelow, Vorsitzender der PDS-Fraktion im Thüringer Landtag, bei der Erörterung von Lehren, die aus dem Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zu ziehen sind, überzeugend gesprochen18: Wir wollen dem anderen zuhören, den anderen verstehen lernen, ihm und uns Zeit zum Nachdenken lassen, die Bereitschaft aufbringen, die eigene Meinung in Frage zu stellen, Verbindendes und Übereinstimmendes zu suchen; einen Kompromiß wollen wir nicht als Niederlage empfinden. Wie aus dem christlichen Menschenbild abgeleitete Wertvorstellungen gibt es mit dem demokratischen Sozialismus verbundene Wertvorstellungen. Diesen Wertepluralismus sehen und akzeptieren wir. Wer nur die Existenzberechtigung der eigenen Wertvorstellung verficht, landet bei einem Fundamentalismus. Im Bewußtsein der Unterschiede kann man sich über gemeinsame Werte verständigen. Zum Beispiel: Du sollst nicht töten. Auch ein an gemeinsamen humanistischen Werten orientiertes Handeln gerät allerdings häufig in Widerspruch zur Realität. In der Gesellschaft, wie sie augenblicklich ist, existieren Räume, die ohne ethische Werte funktionieren, zum Beispiel in der Wirtschaft. Die Kategorie Gemeinwohl verliert an Bedeutung. Wettbewerb und Effizienz sind die an Einfluß gewinnenden Orientierungen. Nicht der Mensch, der kostengünstige Standort ist offenbar für viele Ökonomen und Politiker der höchste Wert. Dem treten wir entgegen mit einem Politikangebot, das auf eine menschenfreundlichere Gesellschaft zusteuert.
In Kürze - im August/September 2003 - werden zehn Jahre vergangen sein, seit in Chicago ein Parlament der Weltreligionen stattfand. Die Thora der Juden, die Bergpredigt der Christen, der Koran der Muslime, die Bhagavadgita der Hindus, die Reden des Buddha, die Sprüche des Konfuzius - die sehr verschiedenen Grundlagen für Glauben und Leben, Denken und Handeln Hunderter von Millionen religiös gebundener Menschen - wählten die am Parlament Beteiligten zum Ausgangspunkt herauszufinden, was den Religionen der Welt schon jetzt im Ethos gemeinsam ist. Sie drückten ihre Überzeugung aus: "Keine neue Weltordnung ohne Weltethos". Sie formulierten als Grundforderung: "Jeder Mensch muß menschlich behandelt werden." Sie einigten sich auf "Vier unverrückbare Weisungen ". Diese sind: Erstens die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben. Zweitens die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. Drittens die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. Viertens die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. Abschließend plädierten sie für einen individuellen und kollektiven Bewußtseinswandel zugunsten eines besseren gegenseitigen Verstehens sowie sozialverträglicher, friedensfördernder und naturfreundlicher Lebensformen. Sie luden alle Menschen, ob religiös oder nicht, ein, dasselbe zu tun.19
Steckt dieses umfassende Bemühen um ein Weltethos der Menschlichkeit nicht voller Anregungen für uns, zwischen Ziel und Weg unseres politischen Handelns und ethischen Werten Brücken zu schaffen, wo bisher noch Lücken klaffen?
Klaus Höpcke - Jg. 1933; Journalist. 1962/63 FDJ-Bezirkssekretär in Leipzig, 1964-1972 ND-Redakteur, 1973-1989 stellv. Kulturminister der DDR, 1989: Mitglied des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des Außerordentlichen Parteitags der SED/PDS, Wahl zum Mitglied von Vorstand und Präsidium der PDS, 1990 Abgeordneter der Volkskammer, 1990- 1999 im Thüringer Landtag. Veröffentlichungen: Probe für das Leben. Literatur in einem Leseland (Halle 1982), Chancen der Literatur. Werte des Lebens und unsere Bücher (Halle 1986), Geordnete Verhältnisse? Streitbares aus dem Thüringer Landtag (Schkeuditz 1996), Gegensteuern! Zur Politikwechsel-Debatte (1998), Meinung verpflichtet. Streitfelder: Goethes Nachlaß/ Rosa - unsere Vertraute? Krieg 1998, Krieg 1999. Im Rückblick: Glanz und Elend von DDR-Kultur (2000). In UTOPIE kreativ zuletzt: "Wie freiwillig wurde, war und bin ich Antifaschist? Was hat meine Gesinnung mit Verordnungen zu tun?" (Heft 55, Mai 1995)
1 Siehe: Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus - Entwurf - in: Pressedienst der PDS, Nr. 17 vom 27. April 2001, S. 1 und S. 2-6.
2 Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden, herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug unter Mitwirkung von Erhard Crome, Frank Deppe, Jutta Held, Wolfgang Küttler, Susanne Lettow, Peter von Oertzen, Lothar Peter, Jan Rechmann, Thomas Sablowski, Christoph Spehr, Jochen Steinhilber, Christoph Türcke und Frieder Otto Wolf, Berliner Institut für kritische Theorie, Berlin 2002, S. 48 ff.
3 Vgl. junge Welt, 24. Juli 2002, S. 10/11.
4 Im Interview mit junge Welt, 20./21. Juli 2002, S. 3.
5 Vgl dazu die Ausführungen im letzten Teil des Essays von Ulrich Busch, S. 12 ff.
6 Laut Bericht von Max Böhnel, New York, in: Neues Deutschland, 11. Juli 2002, S. 2.
7 Laut dpa im Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung am 18. Juli 2002.
8 Programm..., a. a. O., S. 3.
9 Ebenda, S. 4.
10 Laut Pressemeldungen hatte Evelyn Kenzler, MdB, rechtspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion im Bundestag, etwas in diesem Sinne geäußert, was mich irritierte. Umso froher war ich darüber, daß bei einem Forum in Chemnitz am 5. September 2002, bei dem unter dem Motto "Sozialisten dreier Generationen " Evelyn Kenzler, Florian Havemann und ich miteinander diskutierten, Evelyn Kenzler Positionen bezog, die denen apitalismuskritsicher Professoren wie Elmar Altvater, Peter Grottian und Uwe Wesel und ihren außerparlamentarischen Protestaktionen gegen die skandalösen "Selbstbereicherer" auf Kosten der Allgemeinheit sowie ihren konstruktiven Vorschlägen zur Behebung des Schadens deutlich näher waren als etwa der Abwiegelungsrhetorik des zitierten Mitarbeiters der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Auch die Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern des "Grunewaldspaziergangs ", der an den Villen "unserer ehrenwerten Politiker und Banker" vorbei führte, einige Berliner PDS-Mitglieder befanden, war ein Zeichen dafür, daß die Forderung auf Neuverhandlung der in meinen Augen "sittenwidrigen" Fonds innerhalb der PDS nicht als "erledigt" betrachtet werden kann.
11 "Pecunia non olet" (Geld stinkt nicht): Um den unter seinem Vorgänger Nero verwahrlosten Staatshaushalt zu sanieren, führte der römische Kaiser Vespasian (reg. 69 bis 79) unter anderem die Besteuerung der öffentlichen Bedürfnisanstalten ein. Sein Sohn Titus kritisierte ihn deswegen. Daraufhin soll Vespasian seinem Sohn aus der ersten Erhebung von Steuern für besagte Einrichtungen ein Goldstück unter die Nase gehalten haben. "Riecht es übel?" Titus verneinte. Darauf der Vater: "Es stinkt nicht. Und doch ist es von Urin!" Die nonolet- Redensart wird seither auf Gewinne angewendet, deren zweifelhafte Quellen üblen Geruch erzeugen müßten, deren Eintreiber aber versichern, nichts gebe es da, das etwa stinke. (Vgl. Geflügelte Worte, herausgegeben von Kurt Böttcher, Leipzig 1981, S. 83.)
12 PDS-Pressedienst Nr. 20 vom 19. Mai 2000, S. 10.
13 Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW Band 3, S. 26 f; auch in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Berlin 1970, Band I, S. 212 f.
14 Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 550 f; auch in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Berlin 1970, Band VI, S. 597 f.
15 A. a. O., Anmerkung 10, S. 160 und 204; hier sowie in Büchmanns Geflügelte Worte findet sich auch die scharfe Kritik, die Blaise Pascal 1656/57 an Busenbaums Schrift geübt hat, aufs Deutlichste zugespitzt in dem Satz: "Wir verbessern das verwerfliche Mittel (in anderer Übersetzung: die Lasterhaftigkeit des Mittels) durch die Reinheit des Zwecks". Eine über die Mittel-Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt von Ziel und Zweck noch hinausgehende, den Erfolg (!) zum Grunde für die Billigung einer Aktion erhebende Aussage wird aus Niccolo Machiavellis 1512 geschriebener Arbeit über Titus Livius wiedergegeben. Mit Bezug auf den Brudermörder Romulus heißt es da: "Wenn ihn auch die Tat anklagt, so muß ihn der Erfolg doch entschuldigen." 35
16 Vgl. Klaus Höpcke: "GEGENSTEUERN. Zur Politikwechsel-Debatte", Schkeuditz 1998, S. 59.
17 So von Platon in: Der Staat, Viertes Buch, siehe - in den Ausgaben: Platon: Werke, Band III (Übersetzung von Friedrich Daniel und Ernst Schleiermacher), Berlin 1987, S. 152 ff. beziehungsweise Der Staat, Leipzig 1978 (Übersetzung von Otto Apelt, Einleitung von Hans-Martin Gerlach und Günter Schenk), S. 185 ff.
18 Siehe Protokoll der Plenartagung des Thüringer Landtags 3/63 vom 23. Mai 2002, S. 5295. Ich zitiere hier nicht wortwörtlich, sondern nehme Gedanken aus diesem Beitrag von ihrem Sinngehalt her auf.
19 Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlaments der Weltreligionen. Herausgegeben von Hans Küng und Karl-Josef Kuschel, München, Zürich 1993, S. 9 f., 21, 25 f., 29-40 und 41 f.
in: UTOPIE kreativ, H. 147 (Januar 2003), S. 30-38