Interview mit dem ukrainischen Anarchisten Wjatscheslaw Asarow
Wjatscheslaw Asarow ist Seemann und lebt in der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich vor allem mit Politik und politischem Journalismus. Der 59-Jährige ist Vorstandsvorsitzender der „Union der Anarchist:innen der Ukraine“ und Redakteur der anarchistischen Zeitschrift „Nabat“ (Die Alarmglocke). In den letzten Jahren, so berichtet er, sei seine Organisation angesichts des rechts-reaktionären Kurses der Regierung mit einem Bein im Untergrund. Das Unternehmen, für das er arbeitete, ist stillgelegt, aktuell ist er arbeitslos. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Artikeln und Büchern. Gleichzeitig wird er von Genoss:innen materiell unterstützt. Bernhard Clasen hat ihn für die Graswurzelrevolution interviewt. (GWR-Red.)
Bernhard Clasen: Seit mehr als zwei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Wie haben diese Jahre Ihr Leben verändert?
Wjatscheslaw Asarow: Ich will Sie nicht mit Erzählungen nerven, wie die materiellen Schwierigkeiten, der Stress durch die Luftangriffe und Nachrichten von der Front auf mich wirken. Hier geht es mir genauso wie allen anderen Menschen in der Ukraine. In meiner Situation kommt hinzu, dass man die Möglichkeiten, sich politisch zu betätigen, maximal eingeschränkt hat. Das Kriegsrecht verbietet Demonstrationen und Massenveranstaltungen, die wir als Union der Anarchist:innen der Ukraine durchgeführt haben. Für mich ist das faktisch ein Berufsverbot.
Wir waren allerdings darauf vorbereitet. Denn schon in der Zeit vor diesem Krieg war die linke Bewegung in der Ukraine, und da gehören wir Anarchist:innen dazu, mit einem Bein im Untergrund. Wir waren faktisch verboten. Ich hatte mich also schon an Verbote und Zensur gewöhnt. Und den harten Bedingungen eines Landes im Krieg muss man sich noch mehr fügen. Das heißt, ich kann zwar weiter in meinen Artikeln und Blogs über soziale und wirtschaftliche Probleme schreiben, bin aber äußerst vorsichtig in meiner Wortwahl, aus Furcht vor dem Vorwurf, dem Aggressor in die Hände zu spielen.
Außerdem habe ich nun mehr Zeit für meine literarische Tätigkeit und meine Forschungen zur Geschichte des Anarchismus. Aber am wichtigsten ist für mich, dass ich mir gerade jetzt des „Memento mori“, also meiner eigenen Sterblichkeit, mehr bewusst werde.
Bernhard Clasen: Wie haben diese zwei Jahre das Leben Ihrer Heimatstadt Odessa verändert?
Wjatscheslaw Asarow: Leer geworden ist sie, die Stadt. Viele Odes-sit:innen, in der Regel Menschen, die nicht der Wehrpflicht unterliegen, sind ins Ausland gegangen. Ich weiß von vielen Familien, denen es wichtig war, dass ihre Kinder, die schon nicht mehr zur Schule gingen, raus konnten, bevor diese ein wehrpflichtiges Alter erreicht hatten. Gleichzeitig leben jetzt Menschen in Odessa, die aus frontnahen Orten zu uns geflohen sind.
Zu Beginn des Krieges fühlten wir uns sicher unter dem Schutz der „Getreidevereinbarung Schwarzes Meer“. In dieser hatten sich ja die Ukraine, die UNO, die Türkei und Russland auf einen kontrollierten Export von Getreide aus dem Gebiet Odessa geeinigt. Doch im Juli 2023 war Schluss mit dieser Vereinbarung und wir wurden danach verstärkt mit russischen Raketen und Drohnen angegriffen.
Meinen Beobachtungen zufolge nehmen diese Angriffe zu, während gleichzeitig aus unserer Region Angriffe auf Objekte des Gegners auf der Krim gestartet werden. Zwar wird Odessa nicht in dem Maße angegriffen wie Städte in Frontnähe. Doch auch bei uns sterben friedliche Bürger:innen. Raketen, die im historischen Stadtzentrum niedergehen und architektonische Gebäude schwer beschädigen, schmerzen uns Odessit:innen sehr.
In der letzten Urlaubszeit ist Odessa etwas aufgeblüht, wir hatten Gäste von auswärts und viele fanden sich an den Stränden ein, trotz eines zeitweiligen Verbots wegen einer angeblichen Minengefahr. Die zunehmende Mobilisierung von Männern für den Krieg ist auch in Odessa spürbar. In der Folge trauen sich immer weniger Männer auf die Straße. Und da auch viele Frauen den faktischen Hausarrest ihrer Männer teilen, ist in der Stadt eine gewisse Leere zu spüren.
Einige mir bekannte Unternehmer klagen über zunehmende Schwierigkeiten, geeignete Fachkräfte zu finden. Wer eine Arbeit sucht, muss eine Bescheinigung der Wehrbehörde vorlegen. Doch viele Männer haben Angst vor einem Besuch dieser Behörde, fürchten sie doch, dass sie dann gleich für einen Fronteinsatz einbehalten werden. Ich kenne auch viele Menschen, die lieber illegal und heimlich arbeiten, damit sie nicht in irgendwelchen Datenbanken landen – und an die Front geschickt werden. Wer freiwillig in der Armee dienen will, hat sich schon gemeldet. Wer das bis jetzt nicht gemacht hat, wird es auch nicht mehr tun, sondern wird vielmehr versuchen, im Hinterland irgendwie zu überleben, immer mit einem Bein in der Illegalität.
Bernhard Clasen: Was haben diese zwei Jahre mit der Ukraine gemacht?
Wjatscheslaw Asarow: Auch im Hinterland unterliegen wir der Militärzensur, unter dem Vorwand des Kampfes gegen die psychologische Kriegsführung des Feindes und gegen die Destabilisierung der innenpolitischen Situation. Gleichzeitig sind die veröffentlichten Meinungsumfragen oftmals so, als wären sie direkt auf dem Hofe gemacht. Das heißt, da geht es nicht um die tatsächliche Abbildung der Situation im Land, sondern um Meinungsbildung.
Anfangs, kurz nach der Invasion, ließ sich noch ein Enthusiasmus im patriotisch gestimmten Teil der Gesellschaft beobachten. Viele konnten in dieser Zeit noch von ihren Ersparnissen leben. Der Rückzug der russischen Truppen aus der Gegend um Kyjiw im Frühjahr 2022, die ukrainische Gegenoffensive im Gebiet Charkiw und die Befreiung von Cherson im Herbst des gleichen Jahres haben die Stimmung in der Bevölkerung beflügelt. Doch die Offensive der ukrainischen Streitkräfte im Sommer und Herbst 2023 an der Südfront, die in der Ukraine und weltweit groß angekündigt worden war, hat zu nur geringen Ergebnissen und großen Verlusten geführt. Das hat den Menschen im Hinterland schwer auf die Stimmung geschlagen. Nun helfen die Bündnispartner Kiew weniger und das zwingt unsere Armee in die Schützengräben und Verteidigungslinien. Man versucht, den Mangel an Munition und Waffen durch weitere Mobilisierung wettzumachen. Doch diese totale Mobilisierung findet in der Bevölkerung im Hinterland keine breite Unterstützung.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zunehmende Müdigkeit der Gesellschaft angesichts der Belastungen dieses Krieges. Die Gründe sind vielfältig: Es sind die großen menschlichen Opfer und Zerstörungen, die Wirtschaft, mit der es bergab geht, die galoppierenden Preise, die steigenden kommunalen Gebühren. All das führt zu einer Verarmung der Bevölkerung. Und die ständigen Korruptionsskandale in den obersten Machtetagen und auch dem Verteidigungsministerium, wo niemand verurteilt wurde, tun ihr übriges.
Die Lage an der Front und im Hinterland sind kein Grund für Optimismus, den die Machthaber:innen mit massiver Propaganda der Bevölkerung aufzudrängen versuchen. Und so fliehen viele vor dieser in die sozialen Netze, wo sich noch Pluralismus finden lässt. Viele Ukrainer:innen, die massenhaft ins Ausland geflohen sind, fürchten die Mühen eines Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit, der wohl Jahrzehnte dauern wird. Und so ist es eher wahrscheinlich, dass ihre Männer nach dem Krieg zu ihnen in die EU ziehen werden, als umgekehrt. Doch am bedrückendsten ist, dass kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist.
Ein großer Teil der Bevölkerung sah sich nach den Reformen der Zeit nach dem Maidan in einer inneren Emigration. Dies gilt vor allem für Linke und die russisch sprechende Intelligenz. Zwar habe ich von niemandem aus diesem Umfeld gehört, dass er sich eine militärische Niederlage wünscht. Aber vor dem Hintergrund ihrer Ausgrenzung und der Einschränkung ihrer Rechte ist ihre Empathie für das Schicksal des gemeinsamen Hauses geringer.
Bernhard Clasen: Und wie wird es weitergehen?
Wjatscheslaw Asarow: Am meisten bedrückt mich der Schwund der Bevölkerung. Für mich besteht die Ukraine in erster Linie aus Menschen, nicht aus Steinen. Meine Heimat sind nicht die Regierungsviertel und Büros der internationalen Konzerne. Meine Heimat sind das Feld, die Werkbank, die ukrainischen Werktätigen, die mit ihrer Arbeit dieses Land geschaffen haben. Wenn sie nicht mehr da sind, ist auch das Land nicht mehr da.
In jüngster Zeit hört man immer wieder, dass eine beträchtliche Reduzierung der Hilfe der Bündnispartner Kyjiw zu Verhandlungen zwingen wird. Doch Selenskyjs Mannschaft ist hartnäckig. Sie zeigt, dass sie auch Geld, das nicht gedeckt ist, drucken kann, bereit ist zu einer totalen Mobilisierung, bereit ist, wie es Außenminister Kuleba sagte, „nur mit Spaten zu kämpfen“.
Auf der anderen Seite ist im Westen immer wieder zu hören, dass eine Verschiebung der Wahlen wegen des Kriegsrechtes kein Dauerzustand sein kann. Für eine vorbildliche europäische Demokratie, und als solche versucht man die Ukraine zu präsentieren, ist die Legitimität der Machthaber, die ihren Auftrag von den Wähler:innen haben, das entscheidende Kriterium. Denn wenn diese nicht gegeben ist, besteht die Gefahr, dass die nächste Regierung einen Vertrag als nicht erfüllbar ansieht, der nach Ablauf der Wahlperiode geschlossen worden ist. Und ich glaube nicht, dass Investoren und Geldgeber einfach so ihre Investitionen aufs Spiel setzen wollen.
Im Winter hatte man noch viel von Wahlen gesprochen. Doch mit dem Frühlingsbeginn wurde das Thema auf Betreiben der Machthaber in den Hintergrund gedrängt. Ende März 2024, also zu einem Zeitpunkt, an dem bereits der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen hätte stattfinden müssen, waren Wahlen zum Tabuthema geworden. Man hatte einfach gesagt, mit diesem Thema betreibe Russland psychologische Kriegsführung mit dem Ziel, die Einheit der Ukraine zu brechen. Aktuell sehen wir in der obersten Machtebene viele Entlassungen. Es hat den Anschein, als hätten die Säuberungen der Macht von langjährigen Beamten das Ziel, die Regierung auf einen Übergang der Macht vom Präsidenten auf die Regierung vorzubereiten, wenn man Ende Mai, also zu einem Zeitpunkt der eigentlich vorgesehenen Stichwahl, seine Macht als nicht mehr legitim wahrnehmen wird. Doch die Frage ist offen, wie die ukrainische Gesellschaft und die westlichen Partner auf so ein Vorgehen reagieren werden. Einige sehr radikale Telegram-Kanäle drohen für eine derartige Situation bereits mit einem „Maidan 3“ (1). Doch Unruhen im Land könnten zu einem Zusammenbruch der Front führen. Deswegen besteht die Hoffnung, dass die Frage der Legitimität nicht auf so riskante Weise gelöst werden wird.
Bernhard Clasen: Was raten Sie den Politiker:innen?
Wjatscheslaw Asarow: Am allerwichtigsten ist meiner Meinung nach, dass sich diese nicht vom Volk entfernen. Das Volk ist laut unserer Verfassung Träger der Macht. Es delegiert lediglich seine Vollmachten an diese oder jene Politiker:innen.
Außerdem rate ich den herrschenden Politiker:innen, die ukrainische Gesellschaft nicht mehr weiterhin in kulturellen, religiösen oder politischen Fragen zu spalten und aufzuhetzen. Das schwächt uns doch nach innen, führt zu einer Entsolidarisierung und einer verminderten Kampffähigkeit. Eine Gesellschaft, in der viele Millionen Menschen leben, hat nur in einer totalitären Diktatur einheitliche Sichtweisen und Bedürfnisse. Im Gegenteil, freie Länder sind multikulturell. In diesen können sich in einer Kultur von Meinungsvielfalt Menschen unterschiedlicher Konfessionen und Anschauungen frei entwickeln.
Ich rate den aktuellen Machthabenden auch, den Bürger:innen maximale Freiheiten zu geben, wie dies eben unter den Bedingungen des Kriegsrechtes möglich ist. Gerade in einer Situation, in der die sozialen Institute immer mehr abgebaut werden und das ukrainische Militär einen großen Teil des staatlichen Haushaltes braucht, ist es wichtig, dass man die Ukrainer:innen in die Lage versetzt, ihre eigenen inneren Reserven zu mobilisieren, ihnen in Programmen zu erklären, wie gegenseitige Hilfe und Selbstverwaltung funktionieren. Man muss bei den Bürger:innen die Fähigkeit entwickeln, autonom das Leben zu gestalten, insbesondere auf der untersten Ebene der kommunalen Selbstverwaltung. Denn gerade auf dieser Ebene lassen sich die Menschen besonders gut motivieren, an der Verbesserung ihres Umfeldes zu arbeiten. Und in einem zweiten Schritt kann man sie motivieren, das Land wieder aufzubauen.
Bernhard Clasen: Wie lange gibt es die Union der Anarchist:innen der Ukraine schon?
Wjatscheslaw Asarow: Seit der Gründung 1999 sind der Schwerpunkt unserer Arbeit Projekte der Selbstorganisation der Bevölkerung, selbst verwaltete kleine Basisgemeinschaften und Nachbarschaftshilfe. In dieser Zeit hatten wir hunderte von Kampagnen durchgeführt, Anarchist:innen haben bei Wahlen zu Stadträten und Bürgermeister:innen kandidiert. Immer noch ist eine Gruppe von anarchistischen Abgeordneten im Dorfrat von Luka-Meleschkowski bei Winniza. Doch in den letzten Jahren haben die Machthabenden unsere Tätigkeit faktisch unterbunden. Doch wir sind überzeugt davon, dass die von uns erarbeiteten sozialen Technologien gerade in der Phase des Wiederaufbaus der Ukraine gefragt sein werden. Sobald wieder Friede herrschen wird, das Kriegsrecht beendet ist, werden wir wieder aktiv werden.
Interview und Übersetzung: Bernhard Clasen
Anmerkung:
(1) Maidan (nach dem Maidanplatz in Kyjiw) meint eine ukrainische Protestwelle zwischen November 2013 und Februar 2014. Sie begann mit friedlichen Studierendenprotesten, die eine engere Bindung an die EU forderten, weshalb sie auch Euromaidan genannt wird. Ab Dezember wurden diese von Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen, bis Februar gab es über 100 Todesopfer und 1.500 Verletzte. Ende Februar flüchtete der damalige Präsident Janukowytsch außer Landes. Ebenfalls Ende Februar begann die russische Annexion der Krim.
Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 489, Mai 2024, www.graswurzel.net